Mit seinem Urteil zum Ehegattensplitting für homosexuelle Partnerschaften hat das Bundesverfassungsgericht erneut die Rechte von Homosexuellen in Deutschland gestärkt. Das Urteil ist von allen Seiten so erwartet worden. Warum hat die Regierung nicht schon im Vorfeld reagiert?
Merkels Koalition unterliegt einem Realitätsverlust. Die CDU diskriminiert Lebenspartnerschaften, die füreinander einstehen und Verantwortung übernehmen, nur weil sie das gleiche Geschlecht haben. Das verstößt nicht nur gegen unsere Verfassung, sondern zeigt auch: Merkels Koalition hat ein vormodernes Gesellschaftsbild.
Was sagt es generell über diese Regierung aus, wenn wichtige gesellschaftspolitische Fragen vom obersten Gericht entschieden werden müssen?
Diese Regierung ist eine Getriebene des Bundesverfassungsgerichts. Frau Merkel macht immer nur das, wozu sie gerade gezwungen wird. Sie will immer noch nicht wahrhaben, dass die Zeit längst reif ist für eine vollständige Gleichstellung von Lebenspartnerschaften und Ehe. Die CDU verliert den Anschluss an die sich wandelnde Gesellschaft.
Forschrittliche Ansichten finden in der Union keine Mehrheiten. Frau Merkel beharrt doch nicht nur bei den Lebenspartnerschaften auf rückständigen Positionen.
Die Kanzlerin wehrt sich auch dagegen, dass Frauen für die gleiche Arbeit den gleichen Lohn bekommen wie ihre männlichen Kollegen. Und: Frau Merkel zementiert mit dem unsinnigen Betreuungsgeld familiäre Rollenbilder von vorgestern. Die Menschen spüren: Gesellschaftliche Modernisierung schafft nur Rot-Grün.
Die Legislaturperiode neigt sich dem Ende zu. Eines ihrer Fachgebiete ist die Innen- und Rechtspolitik. Wie fällt auf diesem Feld ihre Bilanz der letzten Jahre aus?
Verheerend. Die beiden zuständigen Minister haben sich in einem nervtötenden Schaukampf gegenseitig blockiert. Innenminister Friedrich ging es dabei allein um sein konservatives Profil. Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger glaubte, sich als letzte Bastion des Liberalismus in Stellung bringen zu müssen. Und die von Frau Merkel und Herrn Westerwelle angekündigte ‚geistig moralische Erneuerung‘ ist ebenfalls ausgeblieben. Stattdessen erleben wir weiterhin exzessive Bonizahlungen für Vorstände bei gleichzeitiger Ausweitung des Niedriglohnsektors. Wir erleben millionenschwere Steuerhinterziehungen, geschummelte Doktorarbeiten und maßlose Verwandtenbegünstigung in der bayerischen Amigoaffäre.
Wir erleben eine Koalition, die reihenweise Entscheidungen des Verfassungsgerichts missachtet. Wir erleben einen Minister, der keine Verantwortung für die gigantische Verschwendung von Steuergeldern für nutzlose Rüstungsausgaben übernehmen will. Und wir haben eine schwarz-gelbe Mehrheit im Bundestag, die sich beharrlich weigert, die Abgeordnetenbestechung unter Strafe zu stellen. Das alles empfinden viele Menschen als ungerecht. Sie haben das Gefühl: Die Kleinen hängt man, die Großen lässt man laufen. Die Mehrheit hat die Nase voll von Merkels schwarz-gelber Koalition. Wir wollen wieder für mehr Gerechtigkeit in Deutschland sorgen. Die Chancen für einen Wechsel sind groß.
Gleichzeitig sonnt sich die Bundesregierung in guten Wirtschaftsund Arbeitsmarktzahlen. Wenn Deutschland so schlecht regiert wird, warum geht es dem Land dann so gut?
Ja. Vielen in Deutschland geht es gut. Aber doch nicht wegen dieser Regierung, sondern trotz dieser Regierung. Frau Merkel und ihre Koalition waren zu keiner einzigen strukturellen Reform in der Lage. Es waren SPD und Grüne, die dieses Land reformiert haben. Unsere Reformen waren die Grundlage dafür, dass Deutschland bislang relativ gut durch die Krise gekommen ist. Dass wir über einen ausgeglichenen Haushalt überhaupt realistisch reden, ist Folge von SPD-Politik. Frau Merkel hat sich einfach an den gedeckten Tisch gesetzt und verfrühstückt jetzt die Vorräte, ohne Neue anzulegen. Und: Deutschland geht es erst dann richtig gut, wenn alle, die Vollzeit arbeiten, davon auch ordentlich leben können. Deswegen finde ich es gut, dass Peer Steinbrück als eine seiner ersten Maßnahmen als Bundeskanzler die Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns von 8,50 Euro angekündigt hat.
Damit es den Menschen in einem Land gut geht, braucht es neben guter Arbeit auch eine vernünftige Balance zwischen Freiheit und Sicherheit. Welchen Handlungsbedarf sehen Sie hier?
Es muss darum gehen, Freiheit und Sicherheit wieder miteinander in Einklang zu bringen. Von Union und FDP sind diese beiden Bereiche nur gegeneinander ausgespielt worden. Das darf nicht sein. Extremismus und Gewalt müssen wir entschlossen bekämpfen. Da gilt: Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit. Aber bei aller gebotenen Aufmerksamkeit und Konzentration auf Gefahren, die unserer Gesellschaft drohen, muss doch klar sein: Deutschland muss ein weltoffenes, liberales tolerantes Land bleiben. Ein Land, in dem die Menschen gerne leben, in dem wir unsere Gäste und auch die Einwanderer willkommen heißen und gut behandeln.
Das Vertrauen in den Rechtsstaat hat in den letzten Jahren vor allem wegen der NSU-Mordserie gelitten. Wie konnte es zu einem solchen Versagen der Sicherheitsbehörden kommen?
Nicht nur der Staat, auch große Teile der Gesellschaft haben den Rechtsextremismus systematisch unterschätzt. Ich schäme mich noch heute dafür, dass wir den Mordopfern keinen Schutz bieten konnten. Es geht jetzt darum, die Konsequenzen aus dem Versagen bei den NSU-Morden zu ziehen und unsere Sicherheitsbehörden umzubauen, damit sich so etwas niemals wiederholt.
Kann das NPD-Verbotsverfahren die Antwort sein?
Ein NPD-Verbot nützt nur, wenn wir auch das zivilgesellschaftliche Engagement gegen rechtes Denken stärker unterstützen. Wir dürfen allerdings die Gefährlichkeit der NPD-Ideologen und Rassisten nicht unterschätzen. Diese Partei nutzt alle Möglichkeiten, um mit organisiertem Rassismus gegen schutzlose Minderheiten in unserem Land vorzugehen. Unsere Demokratie mag stark genug sein, eine verfassungswidrige NPD auszuhalten. Ihre Opfer sind es nicht. Und: Ich finde es unerträglich, dass die NPD ihre menschenverachtende Ideologie auch noch auf Kosten der Steuerzahler in Deutschland verbreitet.
Was bedeutet es, dass sich die Bundesregierung nicht an dem Verbotsverfahren beteiligt?
Alle Demokraten sollten eine klare Trennlinie ziehen zwischen freiheitlicher Demokratie und organisiertem Rassismus. Doch diese Bundesregierung bietet ein trauriges Bild: Frau Merkel und Herr Friedrich übernehmen keine eigene Verantwortung, sondern verstecken sich hinter dem Verbotsantrag der Bundesländer. Statt – wie der Bundesrat – ein mutiges und entschlossenes Zeichen der Geschlossenheit zu setzen, zaudern und zögern Frau Merkel und Herr Friedrich.
Auch beim Thema Staatsbürgerschaftsrecht hinkt die schwarz-gelbe Bundesregierung nach Ansicht der Sozialdemokraten hinterher. Warum brauchen wir die doppelte Staatsbürgerschaft?
In den nächsten 15 Jahren werden fast eine halbe Million Menschen, die in Deutschland geboren sind, gezwungen, sich zu entscheiden, ob sie die deutsche Staatsbürgerschaft behalten oder wieder abgeben. Wir wollen die jungen Menschen aus dieser Zwangslage befreien. Wer in Deutschland geboren wird, der soll auch Deutscher sein dürfen, ohne sich gegen die Herkunft seiner Familie entscheiden zu müssen. Loyalitätskonflikte, die immer noch als Argument gegen doppelte Staatsbürgerschaften ins Feld geführt werden, sind einfach nicht mehr stichhaltig. Das ist eine Kategorie aus einer Epoche der Kriege zwischen Nationalstaaten und passt nicht mehr in unsere Zeit der Europäisierung und Globalisierung.
In den kommenden Jahren wird Deutschland auf eine Zuwanderung von Fachkräften angewiesen sein. Ist das Land integrationspolitisch darauf vorbereitet?
Wir sehen Einwanderung längst als Chance. Mit Blick auf den Fachkräftemangel und die demografische Entwicklung müssen wir dringend alle Potenziale in Deutschland nutzen. Unternehmen müssen mehr ausbilden und mehr Arbeitsplätze für Ältere schaffen. Wir werden allerdings insgesamt auch von der Zuwanderung qualifizierter Arbeitskräfte profitieren.