Welt am Sonntag: Herr Mützenich, was sind für Sie die Konsequenzen aus den Ereignissen von Halle, die über die üblichen „Nie wieder“-Phrasen hinausgehen?
Rolf Mützenich: Ich habe mir nicht vorstellen können, dass wir nach den NSU-Morden und dem Mord am Regierungspräsident Walter Lübcke vor der Situation stehen, dass ein jüdisches Gebetshaus angegriffen wird und jemand versucht, Menschen im Gebet umzubringen. Offenbar haben wir in Deutschland eine Atmosphäre, in der Hass und die Gewaltbereitschaft gegenüber Andersdenkenden zugenommen haben. Ein bloßes „Nie wieder“ genügt tatsächlich nicht. Es muss jetzt umso mehr um eine breite gesellschaftliche Auseinandersetzung mit diesen Problemen gehen. Es mag sein, dass es sich in Halle um einen Einzeltäter handelte, aber diese Tat fand in einem System statt. Für den Staat heißt das auch, nicht nur neue Schutzmaßnahmen für jüdische Gemeinden zu ergreifen, sondern zu überlegen, wie man solche Gewaltbereitschaft frühzeitig identifizieren kann.
Der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung Felix Klein fordert eine Strafverschärfung für antisemitische Straftaten. Können Sie ihm folgen?
Wir sollten erst einmal prüfen, ob die vorhandenen Gesetze auch wirklich angewandt wurden, ehe wir nach Strafverschärfungen rufen. Die Bundesjustizministerin ist im Gespräch mit dem Innenminister, um die Bekämpfung des Rechtsradikalismus effektiver zu gestalten. Lassen Sie uns abwarten, zu welchen Ergebnissen sie kommen. Ich kann nur vor Schnellschüssen warnen. Für mich ist schon jetzt klar, dass wir Programme fördern müssen, die die Demokratie stärken. Die Demokratie wird angegriffen, ist aber wehrhaft. Ich halte viel von einem Demokratiefördergesetz. Das würde helfen, Projekte in der Extremismusprävention dauerhaft fördern zu können.
Innenminister Horst Seehofer will die Kompetenzen des Verfassungsschutzes erweitern. Unterstützen Sie sein Anliegen?
Ich will erst einmal wissen, ob die Möglichkeiten, über die wir bereits verfügen, auch alle genutzt wurden, ehe ich neue Kompetenzen für die Sicherheitsbehörden unterstütze.
Inwieweit machen Sie die AfD für das rechtsextreme Klima, das in einigen Milieus herrscht, mitverantwortlich?
Die AfD ist zu großen Teilen für das rechtsradikale, völkische und antisemitische Klima bestimmter Milieus mitverantwortlich. Wenn das AfD-Mitglied Stephan Brandner als Vorsitzender des Rechtsausschusses ganz bewusst einen Tweet verbreitet, der sich abfällig über die Opfer von Halle äußert, dann zeigt es, dass es überhaupt keine Schranke des Anstandes in der AfD gibt. Solange Alexander Gaulands Begriff des „Vogelschisses“ für die zwölf Jahre der Nazi-Diktatur nicht öffentlich zurückgenommen wird, solange kann die AfD nicht erklären, sie wolle jüdisches Leben in Deutschland. Das ist schlicht nicht glaubhaft. In den Reihen der AfD lässt sich ohne weiteres rechtsextremes Gedankengut und die Bereitschaft zur Gewalt verorten.
Sollte Herr Brandner zurücktreten?
Die AfD sollte Brandner zum Rücktritt bewegen. Das hat sie nicht. Der Druck kam von allen anderen Fraktionen und hat dazu geführt, dass sich Brandner im Plenum entschuldigen musste. Brandner steht unter Bewährung.
Ihr Generalsekretär hat gefordert, die AfD als Gesamtpartei vom Verfassungsschutz überwachen zu lassen. Ist das auch ein Schnellschuss?
Angesichts der gegenwärtigen Lage wäre es angebracht, dass der Verfassungsschutz alle seine Möglichkeiten einsetzt, um zu berichten, wo Verfassungsfeindliches, Völkisches und Antisemitisches vor sich geht. Wo es da Anhaltspunkte bei der AfD gibt, muss sich der Verfassungsschutz genau anschauen.
Folgt man den Umfragen, hat die AfD gute Chancen, in Thüringen zur zweitstärksten Partei zu werden. Gerade die AfD des Björn Höcke, die völkisch gesinnt ist. Wie erklären Sie sich ihre Stärke?
Ich kann mir das nicht erklären. Ich bin nicht nur überrascht, sondern geradezu auch verzweifelt, dass offensichtlich nicht wenige Menschen dazu bereit sind, diese Partei zu wählen, obwohl sie wissen, was für ein Gedankengut ihre Spitzenpolitiker vertreten. Ich hoffe, dass die Ereignisse, die sich in Halle zugetragen haben, dazu führen werden, dass mehr und mehr Menschen überdenken, welchen Personen sie ihre Stimme geben.
Lassen Sie uns zur Außenpolitik kommen: Seit Jahren beobachten wir eine Entwestlichung der Türkei. Welchen Schluss sollte die deutsche Außenpolitik daraus ziehen?
Erdogan handelt derzeit klar völkerrechtswidrig. Er führt einen Angriffskrieg. Sein Verhalten muss Konsequenzen vor dem Internationalen Strafgerichtshof haben. Natürlich ist die Türkei Teil der Nato. Wir wissen aber auch, dass nach dem Putsch Militärs in hohe Ränge gelangt sind, die sich andere Bündnisse als das westliche vorstellen können. Das sind alles Dinge, die uns sicherlich noch Sorgen bereiten werden. Gleichzeitig zeigt der deutliche Erfolg des CHP-Bürgermeisters in Istanbul, dass ein maßgeblicher Teil der türkischen Gesellschaft westorientiert ist und auch bleiben will.
Welche Konsequenzen ergeben sich aus der neuen Lage seit dem Einmarsch der türkischen Truppen für den Einsatz der Bundeswehr-Tornados in Jordanien?
Nachdem die ehemalige Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen ihre Zusagen gegenüber dem Bundestag gebrochen hat, nach Ersatz für die deutschen Tornados und das Tankflugzeug zu sorgen, müssen wir im Bundestag die Möglichkeit einer Mandatsverlängerung sehr kritisch überprüfen. Wir müssen auch wissen, ob von Deutschland ausgebildete irakische Soldaten an der Erschießung friedlicher Demonstranten beteiligt waren.
Wie es heißt, sollen mehrere hundert, wenn nicht Tausende von IS-Kämpfer aus den Gefangenenlagern geflohen sein. Wie hoch schätzen Sie die Gefahr, dass der IS als schlagkräftige Terrororganisation zurückmeldet?
Der IS ist noch immer da. Er hat in den letzten Monaten versucht, sich neu aufzustellen. Die Quellen für die Stärke des Islamischen Staates sind innergesellschaftliche im Irak und in Syrien. Deswegen ist seine Bekämpfung besonders eine innergesellschaftliche Herausforderung. Vor allem braucht es besseres Regierungshandeln, Einbindung aller gesellschaftlichen Gruppen, Bekämpfung der Korruption. Ich warne davor, militärische Möglichkeiten gegen den IS überzubewerten.
Das mag stimmen, löst aber nicht das Problem, was mit den aus Deutschland stammenden IS-Kämpfern geschehen soll, bevor die sich auf den Weg zurück nach Europa machen. Sollen wir die deutschen IS-Kämpfer nun zurückholen?
Wir sind weiterhin bereit zur Rücknahme von deutschen Familienangehörigen von IS-Kämpfern. Wir sind auch bereit, deutsche IS-Kämpfer vor Gericht zu stellen. Nur: Gegenwärtig ist eine Rückholung aufgrund verschiedener Bedingungen nicht möglich. Die Bundesregierung stand in diesen Tagen vor der Möglichkeit, weitere Kinder von IS-Angehörigen zurückzuholen. Es ist ein Drama, dass die gegenwärtige Kriegssituation diese Möglichkeit versperrt.
Wäre es nicht angebracht, den Kurden zu helfen, nach allem, was die Kurden für den Westen getan und auch was sie erlitten haben?
2014 haben wir uns nach einer schwierigen Debatte dazu durchgerungen, Kurden im Irak Waffen zu liefern. Ganz bewusst, haben wir nicht die YPG, also die Kurden in Syrien beliefert, obwohl auch sie die Jesiden geschützt hatten. Was wir vor allem brauchen sind politische Lösungen. Wenn es jemals zu einem politischen Ausgleich kommen soll, dann sind Gespräche unerlässlich. Deutschland wäre beispielsweise jederzeit bereit, die Gespräche zwischen der Türkei und der PKK zu unterstützen.
Ist die Türkei noch ein verlässlicher Nato-Partner?
Was heißt heute noch verlässlich, angesichts der allgemeinen weltweiten Entwicklung? Die Türkei ist noch immer ein wichtiger Nato-Partner, auch ein wichtiger Akteur in der Region. Ob sie noch immer der Akteur ist, mit dem wir vor 20 Jahren zu tun hatten, bezweifle ich. Ich hätte mir jedenfalls vor einigen Jahren nicht vorstellen können, dass das Nato-Mitglied Türkei russische Abwehrraketen kauft.
Erdogan hat Europa immer wieder damit gedroht, die Tore für die Flüchtlinge zu öffnen. Hat uns die Türkei in der Hand?
‚In der Hand‘ ist zu viel gesagt. Aber ich nehme Erdogan ernst. Vieles, was er sagt, tut er auch. Allerdings wäre ein solcher Beschluss, Flüchtlinge aus der Türkei zu vertreiben, für ihn folgenschwer. Die Türkei ist nach wie vor daran interessiert, dass die EU ihr bei der Bewältigung ihrer Flüchtlingskrise hilft. Der Konflikt geht unter anderem darum, dass die Türkei die europäischen Gelder selbst in die Hand bekommt. Gegenwärtig sind sie ja an konkrete Projekte gebunden. Ich warne davor, der Türkei in dieser Frage entgegenzukommen.
Im Rahmen der Regionalkonferenzen schimmerte in vielen Beiträge der Kandidaten immer wieder der Wunsch durch, die Koalition vorzeitig zu beenden. Warum werden die Leistungen der Koalition, die ja zu weiten Teilen die Handschrift der SPD trägt, so wenig in Ihrer Partei gewürdigt?
Mein Eindruck ist ein anderer: Vor allem lag das Interesse in den Regionalkonferenzen bei der Frage: Was wollen wir in dieser Koalition noch alles bewegen? Es ging oft um den Klimaschutz und um die Grundrente. Ich bin zuversichtlich, dass meine Partei danach schaut, was sie für die Menschen tun kann. Wir haben viel auf den Weg gebracht. Wir arbeiten hart und unermüdlich daran, dass die Grundrente realisiert wird. Wir haben das Klimapaket geschnürt. Wir haben noch viel vor.
Haben wir gerade ein Plädoyer für die Fortsetzung der Großen Koalition gehört?
Es war ein Plädoyer dafür, mit Realismus zu prüfen, ob die SPD noch genügend Ideen hat, den Sozialstaat für die nächsten Jahre zu schützen und auszubauen. Die SPD ist die Partei für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wir sind ihre Stimme – auch in dieser Koalition.
Die meisten Vereinbarungen aus dem Koalitionsvertrag sind entweder umgesetzt oder auf dem Weg. Welche Vorhaben würden Sie gern darüber hinaus noch bis zum Ende der Legislaturperiode in Angriff nehmen?
Wir sollten die Halbzeitbilanz nutzen, genau zu schauen, welche inhaltlichen Herausforderungen noch vor uns liegen. Wir sehen ja, wie schnell sich die Gesellschaft wandelt. Wie wird Arbeit künftig gestaltet in Zeiten von Digitalisierung? Wie lässt sich die demokratische Gesellschaft zusammenhalten? Wie funktioniert das Zusammenleben von Arm und Reich, auf dem Land und in der Stadt? Die Frage wird sein: Ist diese Koalition noch in der Lage, auf diese Fragen Antworten zu geben.
Wäre es nicht grundsätzlich unverantwortlich, sogar töricht, die Regierungsverantwortung preiszugeben? Martin Schulz, auch Christine Lambrecht haben sich dahingehend geäußert.
Ich bin schon so lange in der SPD, dass ich weiß, wie klug meine Partei ist, wenn es um die Frage geht: Wollen wir mitgestalten oder wollen wir im Zweifelsfall nur beobachten.