Anlass Ihres Besuches hier im Licher Kino ist ein Film zur Geschichte der SPD. Ihre Partei hat Deutschland stark mitgeprägt; es war vor allem ein Kampf um die ökonomische und soziale Emanzipation „der kleinen Leute“. Welche Projekte stünden in diesem Sinne ganz oben auf Ihrer „Wunschliste“, wenn die SPD nach der Wahl den Kanzler stellen sollte?
Frank-Walter Steinmeier: Es gibt unter den vielen wichtigen Dingen, drei, die für die SPD unverzichtbar sind – auch im 150. Jahr ihrer Gründung. Erstens: Den Grundsatz wieder herstellen, dass derjenige, der regelmäßig arbeiten geht, auch von seinem Lohn leben kann. Das bedeutet, dort, wo keine ordentlichen Tarifverträge greifen, flächendeckend Mindestlöhne zu schaffen. Zweitens: Denjenigen, die den Großteil ihres Lebens gearbeitet haben, auch ein würdevolles Leben im Alter zu ermöglichen. Deshalb wollen wir, dass man in jedem Fall nach 45 Versicherungsjahren in Zukunft ohne Abschläge in Rente gehen kann.
Und drittens: Mit Blick auf unsere gemeinsame Zukunft müssen wir daran gehen, alle finanziellen Möglichkeiten auf Bildung und Schule zu konzentrieren. Weil wir es uns schlicht nicht mehr leisten können, dass auch nur ein Mädchen oder ein Junge auf dem Weg durch Schule und Berufsausbildung scheitert. Das bedeutet, dass man die zur Verfügung stehenden Mittel nicht verschleudern darf wie dies jetzt beim Betreuungsgeld geschieht. Diese zwei Milliarden Euro werden wir nutzen, um ausreichend Kindertagesstätten zu bauen.
Für welche Koalitionen steht Ihre Partei zur Verfügung?
SPD und Grüne haben in ihrer Regierungszeit gezeigt, dass sie etwas bewegen können. Viele haben dies als einen Aufbruch in Erinnerung, bis hin zu den harten Entscheidungen, mit denen Gerhard Schröder die Grundlage gelegt hat, um dieses Land wirtschaftlich wieder auf die Beine zu stellen. Daran muss man erinnern. Nicht diejenigen, die jetzt „dran“ sind und die Früchte ernten, haben diese Entscheidungen getroffen, sondern Rot-Grün hat die Weichen gestellt, die zu sinkender Arbeitslosigkeit und soliden Einnahmen bei Renten- und Krankenversicherung geführt haben. Kanzlerin Merkel hat dagegen in den vergangenen vier Jahren nicht eine einzige Weiche in Richtung Zukunft gestellt. Das Land braucht aber wieder einen Aufbruch. Es ist wie im Fußball, man bleibt nicht immer auf dem ersten Platz, wenn man nichts dafür tut. Auch in der Politik muss Vorsorge getroffen werden. Wir haben Konzepte und Ideen. Deshalb streite ich für eine gemeinsame Koalition mit den Grünen.
Frau Merkel schließt auch eine große Koalition nicht aus. Wie stehen Sie dazu?
Die Kanzlerin will Ihren Einschläferungsversuch fortsetzen und einen Wahlkampf erst gar nicht zustande kommen lassen. Das wird nichts anderes zur Folge haben, als Wahlmüdigkeit. Wir wollen aber keine müden Wähler, sondern Wähler, die wissen, dass es am 22. September um etwas geht. Deshalb sage ich überall: Wir haben keinen Ergeiz, der Kanzlerin die Vorlagen zu bieten, mit denen Sie am Ende Felder aberntet, auf denen Sie nie gesät und gepflanzt hat. Deshalb komme ich zu dem Grundsatz: Wir haben die große Koalition hinter uns, nicht vor uns.
Ein Thema, das die Deutschen auch emotional sehr bewegt: die Euro-Krise. Wie ist die Perspektive Ihrer Partei?
Es ist die tiefste Krise Europas seit Bestehen der EU. Es gibt keinen einfachen Ausweg, auch wenn Partei-Neugründungen, wie die der AfD, dies behaupten. In der gegenwärtigen Situation sind viele Länder des europäischen Südens auf die Hilfe Deutschlands angewiesen, aber die ganze Wahrheit ist: Noch mehr ist Deutschland auf die Hilfe Europas angewiesen. Wir sind das stärkste Exportland in Europa. 60 Prozent der hier produzierten Güter gehen in die europäische Nachbarschaft. Unsere wirtschaftliche Zukunft hängt also davon ab, die Nachbarn zu stabilisieren. Dazu gehört ebenso deren Ausgabendisziplin und strukturelle Reformbereitschaft. Das geht aber nicht ohne Wachstum. Und die Regierung Merkel hat es komplett vernachlässigt oder sogar verhindert, mehr für Wachstum in der Währungszone zu tun. Das ist unsere Hauptkritik am Krisemanagement der Regierung.
Eine Frage an den „Agenda 2010“-Politker: Muss hier „nachgearbeitet“ werden?
Heute, im Abstand von mehr als zehn Jahren, wissen viele in Deutschland, dass das Umsteuern bei fünf Millionen Arbeitslosen wichtig war. Deren dauerhafte Finanzierung hätte uns alles geraubt, was uns wertvoll ist. Auch wenn die Grundrichtung stimmte, dort wo Menschen handeln, entscheiden sie mit Blick auf die Zukunft und nicht alles entwickelt sich so, wie man sich das wünscht. Nehmen wir das Beispiel die Leiharbeit. Hier sollten Auftragsspitzen in den Betrieben abgefangen werden. Doch wurde dann nicht vereinzelt von dieser Möglichkeit Gebrauch gemacht, sondern ein Instrument massenhaft missbraucht, um ganze Stammbelegschaften durch billigere Leiharbeit zu ersetzen. Das war natürlich nicht die Absicht. Hier müssen die Grenzen neu gezogen werden.
Das SPD-Wahlprogramm sieht bisher vor, den Spitzensatz der Einkommensteuer von 42 auf 49 Prozent anzuheben und die Vermögenssteuer wieder einzuführen. Die Mehreinnahmen sollen in Bildung und Kinderbetreuung fließen. Bleibt es dabei?
Die SPD ist keine Partei, die nur zufrieden ist, wenn hohe Steuern gezahlt werden. Wer die Geschichte der letzten 15 Jahre fair betrachtet, der muss zugestehen, nicht CDU und FDP haben die Steuern gesenkt, sondern die SPD. Den Eingangs- und Spitzensteuersatz um elf Prozent – und damit Arbeit und Unternehmensgründung wieder attraktiv gemacht. Aber in einer Situation, in der wir wegen der europäischen Krise keine neuen Schulden machen dürfen und wir gleichzeitig mehr in unsere Jugend investieren müssen, darf auch ein Spitzensteuersatz nicht zum Tabu erklärt werden. Das ist meine Überzeugung und die von Peer Steinbrück.
Kommt unter einer SPD-Kanzlerschaft die Vermögenssteuer wieder?
Im Wahlprogramm ist die Vermögenssteuer enthalten. Wichtig ist, dass Steinbrück als Kanzlerkandidat mit großer Klarheit darauf verwiesen hat, dass im Falle einer Einführung keine Besteuerung der betrieblichen Substanz stattfinden wird.
Sie waren in der großen Koalition Außenminister. Die Lage in Ägypten und Syrien eskaliert. Ist aus dem „arabischen Frühling, ein arabischer Winter“ geworden?
Die Veränderung in der arabischen Welt und die Betonköpfigkeit der Führung in Damaskus führen seit Jahren zu einer Zuspitzung der innenpolitischen Situation. Der Bürgerkrieg hat das Land schon über den Abgrund hinausgeführt. Das Leid ist unendlich und ein Ende nicht abzusehen. Eine neue Zuspitzung ist offenbar der Einsatz von chemischen Waffen. Das ist die rote Linie, die US-Präsident Obama gezogen hat. Ich hoffe, dass es gelingt, mit den entscheidenden Kräften der Vereinten Nationen, eine schnellstmögliche Aufklärung herbeizuführen.
Die US-Spähaffäre beunruhigt die Deutschen, jeden Tag tauchen neue Details auf. Sie waren als Kanzleramtschef unter Schröder mit den Geheimdiensten betraut. Ihre Sicht der Dinge?
Selten ist so viel gelogen worden, wie bei diesem Thema. So etwas habe ich noch nicht erlebt, dass eine Regierung, die seit acht Jahren im Amt ist, den Versuch macht, die Schuld bei einer Fehlentwicklung, die 2013 aufgedeckt wird, bei einer Regierung zu suchen, die vor zwölf Jahren im Amt war.
Herr Pofalla hat bewusst zwei Dinge vermischt. Einerseits die offizielle Zusammenarbeit der Geheimdienste befreundeter Staaten in der Auslandsaufklärung, die sich an Recht und Gesetz hält. Die ist notwendig. Und gerade nach den Anschlägen vom 11. September wäre etwas anderes doch gar nicht vorstellbar gewesen. Und andererseits das eigentliche Problem, das Snowden enthüllt hat: Wie geraten private Daten deutscher Bürger in erheblichem Umfang in die Hände ausländischer Geheimdienste? Das ist nach wie vor ungeklärt. Darauf ist Pofalla jede Antwort schuldig. Inzwischen hat die technische Entwicklung die Kommunikationsmöglichkeiten weltweit verändert. Facebook wurde Ende 2004 gegründet, Twitter erst 2006 und das erste iPhone kam 2007 auf den Markt. Amerikanische und englische Sicherheitsdienste glauben jetzt wohl, alles was technisch möglich ist, ist auch rechtlich erlaubt. Und da sage ich eben, im Unterschied zur gegenwärtigen Regierung: Das ist ein Missverständnis von Rechtsstaat. Zum Rechtssaat gehört es nämlich, auch wenn es schwierig ist, immer wieder die Grenzen neu zu ziehen – und dies auch im internationalen Rahmen. Eine Zusammenarbeit der Sicherheitsdienste ist dringend notwendig, doch hier findet etwas ganz anderes statt. Offensichtlich haben sich amerikanische Unternehmen sogar für die Datenübertragung bezahlen lassen.
Zum Schluss noch eine ganz persönliche Frage: Sie studierten an der Uni Gießen Recht und Politik und waren anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter. Was verbinden Sie mit dieser Zeit?
Als ich von der ZVS erfuhr, dass ich künftig in Gießen studieren soll, habe ich zunächst nicht gejubelt. Aber ich bin im Nachhinein froh, an keiner der großen Massenuniversitäten gelandet zu sein, wo sich Studenten an den Regalen die Köpfe eingeschlagen haben, um an Bücher zu kommen! Denn in Gießen waren die Studienbedingungen vergleichsweise ideal. Wir hatten am Fachbereich alle Möglichkeiten, die wir brauchten. Und die Wege zu den Nachbardisziplinen waren nicht weit. Es gab ein fruchtbares Diskussionsklima und Raum für politisches Engagement. Ich habe gerne und lange hier gelebt und viele Freunde sind geblieben!