Frau Nahles, bereuen Sie es eigentlich schon, dass Sie die GroKo in Ihrer Partei durchgesetzt haben?

Überhaupt nicht. In Zeiten in denen Populismus, Egoismus und Nationalismus auf dem Vormarsch sind, ist es jeden Tag wichtiger, dass wir dem etwas entgegensetzen. Wir haben eine stabile sozialdemokratisch geprägte Regierung. Das ist viel wert, wenn man sich die Krise in Italien, die Krise im Nahen und Mittleren Osten oder die aggressive Handels- und Außenpolitik der USA anschaut. Es war richtig, dass die SPD Verantwortung übernommen hat. 

Die SPD steckt jedoch in einer tiefen Krise: In den Umfragen droht die AfD vorbeizuziehen, die Stimmung bei vielen Genossen ist mies.

Es stimmt, dass ich die Führung der SPD in einer äußerst schwierigen Lage übernommen habe. Aber ich bin zuversichtlich. Die SPD sorgt gerade dafür, dass Arbeitnehmer und Rentner bei der Krankenversicherung um sieben Milliarden Euro pro Jahr entlastet werden, wir unterstützen Familien mit dem Gute-Kita-Gesetz, wir stärken Frauen mit der Brückenteilzeit und  Verbraucher mit der Eine-für-Alle-Klage. Kurzum: Wir machen Politik für ein solidarisches Land. Millionen Menschen haben darauf gewartet, dass endlich wieder regiert wird. Wir tun es.

Für die Entlastung bei den Kassenbeiträgen lässt sich Gesundheitsminister Jens Spahn feiern, Kanzlerin Angela Merkel schwebt über allem. Hatten die GroKo-Gegner Recht: alles wie immer?

Nein. Ich finde es gut, wenn Jens Spahn die Verbesserungen, die die SPD durchgesetzt hat, auch umsetzt. Bei den Kassenbeiträgen heißt es dann endlich: Halbe-halbe für Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Ich vertrete diesen Erfolg ganz selbstbewusst. Ich würde mich freuen, wenn auch die GroKo-Gegner unsere Erfolge wahrnehmen. Es liegt nämlich nicht immer an den Anderen, wenn unsere Botschaften nicht klar sind. Das liegt auch an uns selbst.  Es tut der SPD nicht gut, wenn in der eigenen Partei immer nur Misstrauen herrscht gegenüber jenen von uns, die regieren. Etwas mehr Zutrauen, bitte!

Als Fraktionschefin müssen Sie die Mehrheiten für die GroKo organisieren, als Parteivorsitzende die reine Lehre der SPD vertreten. Wie kriegt man das zusammen?

Unser Ideenvorrat erschöpft sich nicht im Koalitionsvertrag.  Wir wollen  die Fenster aufreißen und nicht nur im eigenen Saft schmoren. Die üblichen Formeln, die etwa im Wahlprogramm stehen, reichen nicht. Wir müssen ein paar grundsätzliche Fragen stellen. Zum Beispiel: Was ist der neue weltbestimmende Rohstoff? Daten! Wem gehören die? Wer nutzt sie? Wer definiert welche Grenzen? Das hat massenhaft Folgen auch für die finanziellen Grundlagen unseres Sozialstaates und die Selbstbestimmung jedes Einzelnen. Darüber müssen wir reden. Wir machen im Herbst ein mehrtägiges Debattencamp zu solch großen Themen. Daran kann sich jeder beteiligen. Und auch die Zukunftsdebatte im Unterbezirk ist willkommen.

Bei der Bundestagswahl hat die SPD ihr historisch schlechtestes Wahlergebnis erzielt. Heute erscheint ein Bericht, der den Wahlkampf analysiert. Was hat die Partei falsch gemacht?

Halten wir erstmal fest: So eine Studie hat es in der deutschen Parteienlandschaft noch nicht gegeben. Da hat Martin Schulz großen Mut bewiesen, als er den Auftrag gegeben hat. Die Autoren haben sich alles genau angeguckt: von der Demoskopie über die Kommunikation bis zur Führungskultur. Es ist ein harter Bericht, für uns alle. Aber das ist auch gut so, denn nur so ändert sich etwas.

Warum ist der Bericht hart?

Weil die Antwort auf die Frage, was die SPD falsch gemacht hat, viele Facetten hat. Es war nicht eine einzelne Person an der Spitze verantwortlich für die Misere. Schuldzuweisungen wären bequem. Dann hast du die Sache abgehakt und musst nix mehr ändern. Das lässt dieser Bericht nicht zu, da wird nichts beschönigt. Stattdessen muss sich jeder in der SPD angesprochen fühlen, von unten bis oben. Aber der Bericht macht auch Mut, denn er enthält viele Vorschläge und Ideen, was wir besser machen können.

Was bemängeln die Autoren konkret?

Zum Beispiel: Im Willy-Brandt-Haus gab es keine klaren Führungsstrukturen, zu wenig Teamwork. Die rechte Hand wusste oft nicht, was die linke will. Wir ändern das gerade. Noch vor der Sommerpause werden wir die Parteizentrale neu aufgestellt haben.

Was ist noch schiefgelaufen?

Es fehlten klare Botschaften. Die SPD hat ihre internen Widersprüche nicht aufgelöst. Ob in der Arbeits- und Umweltpolitik oder in der Migrationspolitik. In unserer beschleunigten Kommunikation sind Zuspitzungen gefragt. Die Genossen an den Infoständen wussten aber nicht: Was sind die fünf Ziele, für die wir kämpfen?

Das wissen sie wahrscheinlich immer noch nicht. Wie wollen Sie dieses Problem lösen?

Wir müssen die Widersprüche auflösen. Daran arbeite ich systematisch: Wir finden jetzt eine klar formulierte Haltung in der Migrationspolitik. Im nächsten Schritt dann: Wie geht es mit Klimaschutz und Arbeitsplätzen weiter? Wir müssen uns mit den großen Zukunftsfragen beschäftigen. Wir haben eine veränderte Parteienlandschaft, und meine Aufgabe ist es, die SPD so aufzustellen, dass jeder weiß, wofür sie steht. Das erfordert Debatten, aber die müssen auch irgendwo einen Punkt haben – und am Ende ein Ergebnis, das alle vertreten können.

Was ist mit der ewigen Hartz-IV-Debatte – wird das Thema auch einmal abschließend geklärt?

Sozialpolitik ist und bleibt ein sehr wichtiges Thema. Es läuft etwas schief, wenn wir in unserem Sozialstaat hervorragende Rechtsansprüche haben, die Betroffenen es aber als Hindernislauf und Gängelung erleben, wenn sie an ihr Recht kommen wollen. Das System ist so komplex geworden, dass kaum einer mehr durchblickt. Aber das geht über Hartz IV hinaus. Unsere Antwort sollte deshalb größer ausfallen. Wir müssen das Sozialsystem aufräumen und so gestalten, dass es seinen Zweck erfüllt: für soziale Sicherheit zu sorgen.

War es ein Fehler, dass die SPD keinen Lagerwahlkampf mit Linken und Grünen gemacht hat?

Der Wahlkampf hätte zugespitzter sein müssen. Lagerwahlkampf halte ich aber für Unsinn. Jede Partei kämpft für sich.

Aber es geht um Machtoptionen.

Das ist etwas anderes. In der letzten Legislaturperiode gab es noch eine linke Mehrheit im Bundestag, die gibt es nun nicht mehr. Aber auch wenn es sie wieder gäbe, würde das nicht einfach zu einer rot-rot-grünen Regierungsmehrheit führen. Das liegt vor allem der Linkspartei.  Sie ist zerstritten, die einen wollen regieren, die anderen sehen die SPD als Hauptgegner und verlieren die eigentlichen Fragen aus dem Blick. Wir werden sehen, wie sich die Linke weiter entwickelt.

In der Debatte über die Flüchtlingspolitik haben Sie betont, Deutschland könne „nicht alle aufnehmen“. Juso-Chef Kevin Kühnert und der Berliner Landesverband warfen Ihnen daraufhin AfD-Sprech und rechte Rhetorik vor. Trifft Sie das?

Nein. Das bestärkt mich nur darin, dass wir auch in dieser Frage für Klarheit sorgen müssen. Die Reaktionen waren reflexartig und nicht fair. Der Satz bleibt richtig, denn das Asylrecht enthält zweierlei: Schutz für die, die ihn brauchen, und ein handlungsfähiger Rechtsstaat.

Glauben Sie, dass Sie mit dem neuen Tonfall in der Flüchtlingspolitik frühere Wähler zurückholen können?

Ich habe mich zu einer konkreten Frage klar verhalten. Die Frage der sicheren Herkunftsländer ist ja keine niedliche Sache. Das beinhaltet, dass Menschen auch abgeschoben werden. Damit müssen wir uns beschäftigen. Wir können nicht den Eindruck erwecken, dass man ohne weiteres in Deutschland bleiben kann, wenn der Asylantrag abgelehnt worden ist. Es wäre fatal, wenn man das nicht ausspricht, nur weil man Angst hat, diesen Satz schon mal bei irgendeinem Rechten gehört zu haben. Es ist immer hilfreich, sich das gesamte Interview anzuschauen und nicht einzelne Sätze aus dem Zusammenhang zu reißen. In der Migrationspolitik stehen in den kommenden Wochen viele Entscheidungen an, wir werden zu allen klar Position beziehen, so wie jetzt zur Frage der sicheren Herkunftsstaaten.

In der Partei gibt es aber nun mal zwei Pole in der Flüchtlingsfrage: Auf der einen Seite die linksliberalen Großstädter, auf der anderen Seiten die eher Konservativen. Wie wollen Sie die zusammenbringen?

Indem wir uns realistisch und ohne Ressentiments die Fragen beantworten, die tatsächlich anstehen. Mit klarem Bekenntnis zum Grundrecht auf Asyl, aber auch mit klarem Blick auf das, was wir tun müssen, um unsere rechtsstaatlichen Prinzipien auch durchzusetzen. Das gelingt aber besser, wenn alle vermeiden, in verhärteten Positionen zu verharren.

Immer mehr Genossen sprechen sich für einen Bamf-Untersuchungsausschuss aus. Bleiben Sie dabei, dass Sie das nicht wollen?

Ein Untersuchungsausschuss liefert nach über zwei Jahren einen Bericht mit Tausenden Seiten, was besser laufen muss. So lange will ich nicht warten. Wir haben einen Innenausschuss, das ist der schnellstmögliche Weg, aufzuklären und Missstände zu beseitigen. Wenn das im Innenausschuss nicht läuft, müssen wir die Frage neu bewerten. Auf jeden Fall wissen wir schon jetzt, dass Kanzleramt und Innenministerium schon 2013 über die unzureichende Ausstattung im Bamf informiert waren. Hätten sie gehandelt, wäre 2015 dort nicht Land unter gewesen. Wir wissen auch: Die internen Kontrollmechanismen im Bamf und im Innenministerium haben offensichtlich versagt, Die SPD will deswegen einen unabhängigen Bundesbeauftragten für das Asylwesen schaffen. Der könnte frühzeitig internen und externen Hinweisen auf Missstände nachgehen und für Abhilfe sorgen.

Hatten Sie jemals Angst, die SPD könnte völlig auseinanderfallen, wie etwa die Sozialisten in Frankreich?

Natürlich! Ich stemme mich jeden Tag dagegen. Wer den Ernst der Lage nicht erkennt, hat den Schuss nicht gehört.