Herr Oppermann, in den Umfragen ist die SPD auf unter 20 Prozent abgestürzt. Regiert sich die SPD in der Koalition zu Tode?
Es gibt nichts zu beschönigen: Die Situation ist ernst für die SPD. Wenn wir den Anspruch haben, als Volkspartei eine Regierung von vorn zu führen, müssen wir 30 Prozent erreichen. Davon sind wir weit entfernt. Aber bis zu den Wahlen 2017 ist ja auch noch Zeit. Wir wollen nicht Herbstmeister werden, sondern die Wahlen 2017 gewinnen.
Was läuft falsch?
Wir dürfen keine Nabelschau betreiben und keine Personaldiskussion beginnen. Es gibt tiefer liegende Ursachen für die derzeitigen Umfragen, etwa den Umbruch der Parteienlandschaft in Deutschland und ganz Europa. Die SPD muss sich über Themen profilieren, die die Menschen wirklich interessieren und ihr Alltagsleben verbessern können. Da haben wir schon viel getan: Durch die SPD in der Großen Koalition hat sich das Leben vieler Deutscher faktisch verbessert, z. B. durch den Mindestlohn, das neue Pflegegesetz oder den Mieterschutz. Wir haben keinen Grund, den Kopf unter dem Arm zu tragen.
In Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt trägt die SPD den Kopf schon unter dem Arm …
In beiden Landesregierungen hat die SPD gute Arbeit geleistet. Doch das ist nur eine notwendige, aber keine hinreichende Voraussetzung für Wahlerfolge. Wir müssen durch gute Arbeit und bessere Kommunikation aus der Lage herauskommen. Wir haben bei den Landtagswahlen gesehen, dass es eben auch auf Haltung und Spitzenkandidaten ankommt.
Die Juso-Chefin sagt, die SPD habe ein Glaubwürdigkeitsproblem.
Die Meinung teile ich nicht. Noch nie in der jüngeren SPD-Geschichte ist ein Wahlprogramm und ein Koalitionsvertrag so konsequent umgesetzt worden. Wir sagen, was wir tun und wir tun, was wir sagen!
Was macht der Parteivorsitzende falsch?
Sigmar Gabriel ist ein robuster Parteivorsitzender, der die SPD 2009 nach einer schweren Wahlniederlage übernommen hat und die SPD erfolgreich in die Regierung zurückgeführt hat. Er ist ein authentischer und leidenschaftlicher Politiker, der sicher manchmal auch zu Spontanität neigt. Aber gleichzeitig ist er es doch, der lange Linien zieht. Etwa in der Flüchtlingsfrage: Er war derjenige, der bereits im Herbst letzten Jahres darauf hinwies, dass wir eine doppelte Integrationsaufgabe haben: Flüchtlinge integrieren und die Gesellschaft zusammenhalten. Diese Probleme hat die SPD im Solidaritätspakt aufgegriffen. Partei und Fraktion stehen hinter Sigmar Gabriel.
Trotzdem wollen ihn nur zwölf Prozent der Bürger als Kanzler. Ist Gabriel wirklich der richtige Kanzlerkandidat?
Er hat als Parteivorsitzender den ersten Zugriff. Wir werden aber erst im Frühjahr 2017 über die Kanzlerkandidatur entscheiden.
Solche Terminplanungen haben in der SPD selten funktioniert …
Vielleicht wird es diesmal anders.
Hätte die SPD eine Alternative?
Das ist eine hypothetische Frage. Wir warten erstmal auf die Entscheidung des Parteivorsitzenden.
Der Parteichef hat eine große Rentenreform in Aussicht gestellt. Aber wer soll die versprochene Sicherung des Rentenniveaus bezahlen?
Wir werden ein umfassendes Konzept für die Stabilisierung der Rente vorlegen. In einem ersten Schritt wollen wir in dieser Wahlperiode die Solidarrente durchsetzen für Menschen, die 40 Jahre oder mehr gearbeitet haben und am Ende trotzdem nur eine Rente auf Höhe der Grundsicherung erhalten. Die erhalten einen Anspruch auf einen steuerfinanzierten Zuschuss.
Ist ein umfassender Kurswechsel in dieser Wahlperiode vorstellbar?
Darüber reden wir gerade in der Koalition. Eine größere Rentenreform darf kein Schnellschuss werden, sie muss gründlich vorbereitet werden. Das Drei-Säulen-Modell aus gesetzlicher Altersrente, der Betriebsrente und privater Vorsorge, für das wir uns vor 15 Jahren entschieden haben, bleibt ein taugliches Modell. Aber die Riester-Rente ist wegen der niedrigen Zinsen in Schwierigkeiten geraten. Dafür brauchen wir ein Konzept. Und wir müssen überlegen, wie wir das Niveau der derzeitigen Rente stabilisieren können. Aber das wichtigste ist, durch eine gute Wirtschaftspolitik ein hohes Lohnniveau zu behalten – denn das ist die Basis für auskömmliche Renten.
Die Kanzlerin hat im Fall Böhmermann die Ermächtigung zur Strafverfolgung gegeben. Warum sind Sie dagegen?
Ich halte die Entscheidung für falsch. Meinungs- und Kunstfreiheit sind höchste Schutzgüter der Verfassung. Es obliegt nicht einer Regierung, darüber zu befinden, ob bei der Ausübung dieser Grundrechte Strafgesetze verletzt wurden Eine Strafverfolgung von Satire wegen „Majestätsbeleidigung“ passt nicht in eine moderne Demokratie.
War es nicht ein Fehler der Kanzlerin, über Böhmermann zu urteilen und seinen Beitrag als bewusst verletzend einzuordnen?
Die Bundeskanzlerin hat sich ohne Not in eine schwierige Situation gebracht
Sie sind Jurist, waren Richter: Ist das umstrittene Erdogan-Gedicht von der Meinungsfreiheit gedeckt oder strafbare Beleidigung?
Ich persönlich finde das Schmähgedicht inhaltlich abstoßend. Ob das unter den Schutz der Satire fällt, ist eine Abwägungsfrage. Zu welchem Ergebnis die Gerichte kommen, ist schwer vorherzusagen. Aber der ganze Fall zeigt mir, dass der aus der Kaiserzeit stammende Paragraf 103 des Strafgesetzbuchs, bei dem es um die Beleidigung ausländischer Staatsoberhäupter geht, nicht mehr in die Zeit passt. Er sollte möglichst schnell ersatzlos gestrichen werden. Diese antiquierte Vorschrift bringt unseren Staat in die völlig unmögliche Lage, über die Frage zu entscheiden, ob es wegen des Sonderstrafrechts zu Ermittlungen kommt oder nicht – das passt nicht zur Gewaltenteilung.
Beim Koalitionsgipfel haben Sie wichtige Projekte der Koalition auf die lange Bank geschoben…
Die Verständigung auf ein umfassendes, modernes Integrationsgesetz hat eine historische Dimension. Damit ist die Streitfrage, dass Deutschland ein Einwanderungsland ist, endgültig geklärt.
Aber der Streit um die Erbschaftssteuer gärt weiter ...
Über die Erbschaftssteuer müssen wir uns zeitnah verständigen – weil zum 1.Juli die vom Bundesverfassungsgericht gesetzte Frist zur Nachbesserung ausläuft. Die Einnahmen von 5 Milliarden benötigen die Länder für Bildung und Kultur dringend. Wir haben den Gesetzentwurf des Finanzministers unterstützt, er ist schon zweimal mit der CSU ausführlich verhandelt worden und verändert worden. Wir sehen keinen weiteren Nachbesserungsbedarf. Bei den Forderungen nach noch mehr Ausnahmen besteht die Gefahr, dass das Bundesverfassungsgericht das Gesetz erneut verwirft – wenn nur noch zehn Prozent der Unternehmens-Erben Erbschaftssteuer zahlen, würde die Ausnahme zur Regel. Wir werden auf keine Forderung der Union eingehen, mit der wir erneut ein verfassungswidriges Gesetz produzieren würden.
Auch über die Förderung der Elektromobilität ist noch nicht entschieden. 5000 Euro hatte der SPD-Chef als Kaufprämie für Stromautos vorgeschlagen. Kommt die Prämie?
Die Entscheidung wird in Kürze fallen. Da Kaufprämien immer auch Mitnahmeeffekte haben, müssten sich die Autohersteller daran beteiligen. Auf jeden Fall brauchen wir dringend eine vernünftige Infrastruktur mit Schnell-Ladestationen, wenn wir den Markt für Elektroautos fördern wollen. Daran muss sich der Staat beteiligen. Wir müssen als Automobilland Nummer eins der Welt die Elektromobilität dringend ausbauen, sonst verpassen wir den Anschluss an diese Technologie – das könnte für die Autoindustrie und hunderttausende Arbeitsplätze hochgefährlich werden.
So richtig Koalitionsfrieden herrscht nach dem Gipfel nicht …
Eine Große Koalition ist kein Ponyhof. Wir sind zwei Parteien im Wettbewerb. Aber bisher hatten wir immer die Kraft, vernünftige Kompromisse zu finden und dieses Land gut zu regieren. Die Menschen wollen nicht, dass wir den Dauerstreit fortsetzen, den Angela Merkel und Horst Seehofer über Monate hinweg betrieben haben – und von dem nur die AfD profitiert hat.
Das Integrationsgesetz ist vereinbart, fordern Sie trotzdem noch ein Einwanderungsgesetz?
Neben dem Integrationsgesetz brauchen wir jetzt unbedingt ein Einwanderungsgesetz, beides gehört zusammen. Wir müssen ein attraktives Einwanderungsland sein, denn wir verlieren in den nächsten 15 Jahren 7 Millionen Erwerbstätige; wir müssen junge, gut qualifizierte Menschen zu uns holen, die hier arbeiten wollen. Um die Einwanderung richtig zu steuern, brauchen wir das Gesetz. Ich will das noch in dieser Wahlperiode beschließen: Das ist eine angemessene Aufgabe für eine Große Koalition.
Kann man das angesichts des Flüchtlingszustroms vermitteln?
Es werden ja nicht jedes Jahr eine Million Flüchtlinge zu uns kommen. Es geht um vernünftig begrenzte und kontrollierte, nicht um ungebremste Zuwanderung. Der Bundestag könnte jährliche Höchstgrenzen festlegen. Das gibt uns auch die Legitimation für eine Sicherung der europäischen Außengrenzen. Hunger-, Klima- und Armutsflüchtlinge werden zunehmen, der Druck auf Europa wächst. Ein Einwanderungsgesetz ermöglicht es dem Staat, den Zuzug sinnvoll zu steuern und zu kontrollieren. Das ist es, was die Menschen in Deutschland erwarten. Gleichermaßen müssen wir den Menschen, die zu uns kommen wollen, auch berechenbare Chancen geben – und definieren, welche Menschen hier arbeiten und leben können. Das ist eine Frage der legitimen wirtschaftlichen Interessen.
Es gibt viel Aufregung um die Panama-Papiere, die die Praxis der Steueroasen aufdecken. Tut Deutschland genug, um Steuerflucht zu begrenzen?
Es ist bedauerlich, dass nicht unsere Steuerfahndung, sondern Journalisten den Panama-Komplex aufgedeckt haben. Es hat in den vergangenen Jahren Fortschritte beim internationalen Kampf gegen Steuerflucht gegeben, aber solche Steueroasen haben sich dem Zugriff entzogen. National wurde zu zögerlich gegen Steuerflucht vorgegangen.
Was muss passieren?
Banken, die bei Steuerflucht und Geldwäsche helfen, müssen zur Rechenschaft gezogen werden, in schweren Fällen bis zum Entzug der Lizenz. Die größte Abschreckung ist aber das Entdeckungsrisiko. Wir brauchen eine konsequente und bundeseinheitliche Steuerfahndung, da gibt es enormen Nachholbedarf. Und beim Kampf gegen Geldwäsche brauchen wir mehr Spezialfahnder.
Strafverfolger berichten uns, dass Geldwäsche der Mafia immer wieder über Deutschland läuft. Die Behörden müssen bei erwiesener Geldwäsche das Vermögen komplett einziehen können. Ich kann mir auch gut vorstellen, dass wir ab einer bestimmten Summe bargeldlose Transaktionen vorschreiben – dann lassen sich die Zahlungen rekonstruieren.
Steuerkriminalität ist das eine – die Bürger sorgen sich aber noch mehr wegen der zunehmenden Zahl von Einbrüchen und Diebstählen..
Wir brauchen dringend mehr Polizei. Die SPD hat dafür gesorgt, dass ab 2017 3000 Stellen bei der Bundespolizei geschaffen werden. Aber das reicht nicht: Wir brauchen noch 9 000 weitere Polizeistellen bei Bund und Ländern. Sicherheit ist nicht nur eine Frage objektiver Bedrohung, sondern auch des Gefühls. Das Sicherheitsgefühl ist entscheidend für die Lebensqualität. Deshalb müssen wir noch entschiedener gegen Einbrüche vorgehen, vor allem, wenn organisierte Kriminalität dahintersteckt: Da müssen wir mit mehr Personal besser aufklären und auch stärker mit Zielfahndung ermitteln. Wir brauchen aber auch mehr Polizeipräsenz auf öffentlichen Plätzen und an gefährlichen Orten.
Der Bundespräsident wird in Kürze erklären, ob er für eine zweite Amtszeit kandidieren will. Was empfehlen Sie ihm?
Ich habe dem Bundespräsidenten keine Empfehlungen zu geben. Aber ich persönlich würde mich freuen und es unterstützen, wenn ein so guter Präsident wie Joachim Gauck noch einmal kandidieren würde. Er hat diesem Land sehr geholfen, indem er zu vielen Problemen und Konflikten immer die richtigen Worte gefunden hat.