Deutschland hat die Herausforderungen der Flüchtlingskrise angenommen. Das großartige ehrenamtliche Engagement der Bürgerinnen und Bürger hat Deutschlands Bild in der Welt geprägt. Erste schnelle Entscheidungen von Bund, Länder und Kommunen haben die Voraussetzungen dafür geschaffen, jetzt Maßnahmen für die nachhaltige Bewältigung der Integrationsherausforderungen einzuleiten.
Dem Bildungswesen kommt dabei eine Schlüsselrolle zu. Jeder vierte Flüchtling ist unter 16 Jahre alt. Wenn die Prognose der KMK stimmt, dann kommen mindestens rund 325.000 schulpflichtige Kinder und Jugendliche zu uns. Zugleich entscheiden die frühen Bildungsphasen über eine erfolgreiche Integration im Lebensverlauf. Unsere Bildung bietet daher große Chancen, den vielen Menschen eine Lebensperspektive zu geben und zugleich die wirtschaftlichen Vorteile zu realisieren und den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Neben dem schnellen Spracherwerb, der beruflichen Qualifizierung und vor allem der zügigen Arbeitsmarktintegration bietet die erfolgreiche Bildung in den frühen Bildungsphasen die größte Chance auf einen nachhaltigen Integrationserfolg.
Unsere Kitas, Schulen und Berufsschulen sind allerdings heute quantitativ und qualitativ nicht ausreichend auf die Herausforderung vorbereitet. Kleinteilige Reparaturarbeiten am Bildungswesen oder die symbolische Umetikettierung bestehender Maßnahmen allein wird nicht ausreichen. Es reicht nicht, wenn jeder weiter so macht wie bisher. Anstatt weiter von einer demografischen Rendite auszugehen, mit sinkenden Schülerzahlen zu rechnen und Geld aus dem Bildungssystem zu nehmen, müssen wir endlich den Schal-ter umlegen und eine bildungspolitische Wende einleiten.
Unser Bildungssystem wird sich qualitativ neu aufstellen und in vielen Bereichen auch wieder wachsen müssen, um diese Herausforderung nachhaltig zu bewältigen. Wir brauchen mehr Kita-Plätze, bessere frühkindliche Bildung, mehr Ganztagsplätze an Grundschulen, mehr Schulsozialarbeit und vor allem mehr qualifizierte Betreuungs- und Lehrkräfte und Unterstützungsangebote in unseren Bildungseinrichtungen. Wir brauchen eine gesamtgesellschaftliche Kraftanstrengung von Bund, Ländern und Kommunen, wenn wir die Integrationschancen, die eine gute Bildung bietet, nutzen wollen. Deutschland braucht nicht weniger als eine bildungspolitische Wende weg vom Spardiktat hin zu mehr Investitionen für bessere Kitas, Schulen und Berufsschulen, mehr Mittel für qualifiziertes Personal und mehr länderübergreifende Koordinierung der bildungspolitischen Maßnahmen.
Der gesellschaftliche Mehrwert der bildungspolitischen Wende ist vielversprechend. Denn von den Maßnahmen für ein nachhaltiges besseres Bildungssystem profitieren eben nicht nur die Flüchtlinge und ihre Kinder, sondern alle Teilnehmer und Teilnehmerinnen im Bildungswesen, ihre Eltern und Familien, das Lehr- und Betreuungspersonal und nicht zuletzt die Wirtschaft. Die bildungspolitische Wende ist der Weg, Integration, sozialen Aufstieg und gesellschaftlichen Fortschritt miteinander zu verbinden.
Der Bund kann für diese bildungspolitische Wende einen wichtigen Beitrag leisten, finanziell und auch konzeptionell. Seine Leistungsfähigkeit hat er mit dem erfolgreichen Kita-Ausbauprogramm und mit der nach wie vor größten Strukturreform im Schulwesen, dem Ganztagsschulprogramm, eindrucksvoll bewiesen. Allerdings sind ihm in vielen Bildungsbereichen wie der Schulbildung die Hände gebunden. Damit kann er in wichtigen Bildungsphasen wie in der Grundschulbildung keine Impulse setzen. Das Kooperationsverbot im Grundgesetz verhindert derzeit, dass der Bund seine Gestaltungskraft für eine bessere Bildungsintegration einsetzt. Wer die Chancen von Bildung für die Integration nutzen will, muss das Kooperationsverbot im Grundgesetz jetzt abschaffen.
Bund, Länder und Kommunen müssen die bildungspolitische Wende als nationale Aufgabe anerkennen und eine gemeinsame Bildungsinitiative vereinbaren. Wir schlagen vor, eine nationale Bildungsallianz zu schließen, in dem die Ziele, die konkreten Maßnahmen und die Koordinierungsstrukturen festgehalten sind. Ohne dem Kooperationsverbot kann der Bund seinen unverzichtbaren Beitrag wesentlich effektiver und nachhaltiger leisten.
11 Bausteine für eine Nationale Bildungsallianz
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Das Kooperationsverbot im Grundgesetz ist ein in Verfassungstext gegossener Irrtum und muss abgeschafft werden. Wir können uns es nicht mehr leiten, dass der Bund nur bei Naturkatastrophen oder Finanzkrisen in Schulen investieren darf.
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Wir brauchen eine Qualitätsoffensive für die frühkindlichen Bildung, auch um spezifische Integrationsbedürfnisse besser aufnehmen zu können. Hierzu zählen mehr Sprachangebote ebenso wie u.a. soziales und interkulturelles Lernen. Das Sprach-Kitaprogramm des Bundes muss mindestens verdoppelt werden.
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Eine zentrale Maßnahme ist ein zweites Ganztagsausbauprogramm, das sich insbesondere an die Grundschulen richtet. Gerade in den ersten Schuljahren brauchen Integrationsangebote mehr Zeit und Raum, um soziale Selektion und Segregation gar nicht erst entstehen zu lassen. Ein mögliches Ziel wäre den Anteil der Grundschüler und -schülerinnen, die an Ganztagsangeboten teilnehmen, von derzeit 30 auf 50 Prozent zu heben.
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Überfällig ist der flächendeckende Ausbau der Schulsozialarbeit an allen Schulen, so dass sie alle Schüler und Schülerinnen, alle Eltern und alle Lehrkräfte erreichen kann. Gerade mit Hinblick auf die besonderen Integrationserfordernisse sind die psychologischen und sozialpädagogischen Hilfen und Leistungen einer systematischen und unterstützenden Schulsozialarbeit unverzichtbar.
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Der erfolgreiche Spracherwerb ist der Schlüssel. Deshalb ist es gut, dass die Integrationskurse für Asylbewerber mit Bleibeperspektive geöffnet wurden. Hochschulen sollten beim Ausbau von Sprachförderangeboten ebenfalls unterstützt werden, weil Studienkollegs quantitativ nicht ausreichend sind. Hierbei können der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD) und die Alexander von Humboldt-Stiftung (AvH) sowie die Stiftungen insgesamt einen wichtigen Beitrag leisten.
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Die Potenziale der Berufsschulen für die Integration durch Bildung und im Vorfeld einer Beruflichen Ausbildung sind stärker in den Blick zunehmen. Gerade für Jugendliche und junge Erwachsene, die nicht mehr schulpflichtige sind, bieten sie eine wichtige Brücke, um Spracherwerb und erste praktische Erfahrungen im schulischen Umfeld und in den Ausbildungswerkstätten mit externen Betriebspraktika wie z.B. der Einstiegsqualifizierung der BA zu verbinden. So kann schrittweise der Übergang in eine reguläre Duale Berufsausbildung besser gelingen. Die Berufsschulen sind für diese Brückenfunktion besser auszustatten.
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Die Nachqualifizierung junger Erwachsener ist entscheidend für ihre Integration. Die beschlossene Ausweitung der Sprachkurse und der Berufsnachqualifizierung durch das BMAS ist ein richtiger erster Schritt. Wer aber Qualität sichern will, muss gerade bei der Ausweitung der Integrationskurse eine angemessene Vergütung sicherstellen. Auch muss das Angebot an „Integrationskurse für junge Erwachsene“ ausgebaut werden, um deren Integration in die duale Ausbildung zu stärken.
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Eine erfolgreiche Bildungsintegration muss sich auch lohnen. Menschen, die bei uns erfolgreich eine Berufsausbildung oder die Hochschule absolviert haben, müssen ohne Wenn und Aber ein Dauerbleiberecht erhalten. Duldungen sollten zudem in eine Aufenthaltserlaubnis für die gesamte Ausbildungsdauer umgewandelt werden, um überflüssige Bürokratie abzubauen.
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Die Anerkennung ausländischer Berufsabschlüsse (Berufsanerkennungsgesetz) muss auf die neuen Anforderungen hin neu ausgerichtet werden. Auch hier ist die Stärkung der Zentralstelle für ausländische Bildungswesen in Köln ein erster Schritt. Noch wichtiger wäre aber ein „Einstiegs-Darlehen“, mit dem die soziale Abfederung der Verfahrens- und Maßnahmekosten, angemessene Unterhaltsleistungen bei erforderlichen Anpassungsqualifizierungen und vor allem eine flächendeckende Betreuung und Begleitung der Menschen vor Ort während des ohnehin komplizierten Verfahrens gesichert werden könnte.
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Die Alphabetisierungs-Initiative von Bund und Ländern und die Alpha-Dekade, die für die bereits in Deutschland lebenden rund 7,5 Mio. funktionale Analphabeten in den nächsten 10 Jahren rund 180 Mio. Euro zur Verfügung stellt, muss angesichts der neuen Herausforderungen neu dimensioniert werden. Eine Konkurrenz der Zielgruppen darf es nicht geben.
- Wir müssen die mitgebrachten Qualifikationen und Kompetenzen der Flüchtlinge so früh wie möglich erfassen, am besten bei der Registrierung oder der Erstaufnahme, spätestens beim der Antragstellung auf Asyl. Nur so ist eine fundierte, evidenzbasierte Politik möglich, also können Maßnahmen sinnvoll auf Zielgruppen ausgerichtet und in ihrem erforderlichen Umfang bestimmt werden.