SPIEGEL: Herr Mützenich, als Sie vor einem Jahr den Fraktionsvorsitz übernahmen, lobten sowohl Ihre eigenen Leute als auch der politische Gegner Ihre Kollegialität. Zuletzt haben Sie einige Genossen verärgert, etwa bei der Neubesetzung des Amts des Wehrbeauftragten. War die Nettigkeit nur Fassade? 

Rolf Mützenich: Kollegialität und Führung schließen sich nicht aus. Als Fraktionsvorsitzender muss ich nach ausführlichen Beratungen Entscheidungen treffen und die Verantwortung übernehmen. Das tue ich. 

Am Anfang traten Sie sehr zurückhaltend auf, stellten sich bei öffentlichen Terminen stets vor. Mittlerweile kokettieren Sie mit der Frage, ob Sie Kanzlerkandidat werden. Hat Sie das Amt des Fraktionsvorsitzenden verändert?

Ich habe großen Respekt vor dem Amt des Fraktionsvorsitzes. Deswegen habe ich mir genau überlegt, ob ich dafür antrete. Ich bereue die Entscheidung nicht. Ob ich mich verändert habe, müssen andere beurteilen.

Sie könnten die Frage aber beantworten, ob Sie als Kanzlerkandidat zur Verfügung stehen.

Die wichtige Entscheidung, wer für die SPD als Kanzlerkandidat antritt, trifft man nicht zwischen Tür und Angel. In 45 Jahren Mitgliedschaft habe ich gelernt, Personalfragen zuerst im engsten Kreis zu erörtern und einvernehmlich zu entscheiden. So werden wir es machen.

Ihr Vater war Maschinenschlosser, Sie haben Abitur gemacht, studiert und promoviert. Eine klassische SPD-Biografie. Für junge Leute ist die Partei heute nicht mehr attraktiv. Was ist aus dem Versprechen des Aufstiegs durch Bildung geworden?

Aufstieg durch Bildung ist weiter das zentrale Versprechen der SPD. Damit wir es halten können, reagieren wir immer wieder auf veränderte Bedingungen. In der Coronakrise steigt die Gefahr, dass Bildungschancen ungleich verteilt
sind. Das wollen wir verhindern und unterstützen Familien und Studierende gezielt. Gleichzeitig investieren wir in die digitale Ausstattung für benachteiligte Schülerinnen und Schüler.

Ihre Absage an eine Kaufprämie für Autos mit Verbrennungsmotor hat bei den Gewerkschaften großen Ärger ausgelöst. Haben Sie das Thema unterschätzt?

Nein, wir haben darüber ja vorher schon mit den Gewerkschaften gesprochen. Ich würde auch nicht sagen, dass die Gewerkschaften als Ganzes das Konjunkturprogramm kritisieren. Viele Mitglieder, aber auch die Gewerkschaftsspitzen
erkennen an, dass das Paket 50 Milliarden Euro für industriepolitische Zukunftsinvestitionen enthält, davon knapp 10 Milliarden allein für die Automobilindustrie. Und vorhergehende Entscheidungen zur Kurzarbeit und Hilfen für Beschäftigte und Betriebe wären ohne die Sozialdemokratie nicht gekommen. Gewerkschafter sind klug genug, das zu erkennen und zu schätzen.

Der Betriebsratschef von Daimler wirft der SPD einen linkspopulistischen Kurs vor, der Vorsitzende der IG Metall spricht von einem massiven Vertrauensverlust der Beschäftigten.

Politische Kategorien und Schubladendenken helfen in einer existentiellen Krise nicht weiter. Ich suche weiter das Gespräch mit den Gewerkschaften und hoffe, dass ich manches Informationsdefizit ausräumen kann. Das Konjunkturpaket ist ausgewogen. Wir investieren in den Erhalt und die Zukunft der Arbeitsplätze.

Das Konjunkturpaket kostet 130 Milliarden Euro. Künftige Generationen werden das bezahlen müssen. Bringt Sie das manchmal um den Schlaf? 

Natürlich sind das weitreichende Entscheidungen. Aber auch künftige Generationen hätten nichts davon, wenn ihre Eltern durch die Krise in größere Not geraten und die Infrastruktur nachhaltig geschädigt würde. Wir müssen gemeinsam möglichst schnell aus der Krise kommen.

Wenn es darum geht, wer die Kosten für die Krise übernimmt, sprechen Sie von einem Lastenausgleich wie nach dem Zweiten Weltkrieg. Wie soll das aussehen? 

Für die SPD ist klar: Breitere Schultern können größere Lasten tragen. Menschen mit sehr hohen Einkommen und Vermögen werden nach einer so gewaltigen Krise einen größeren Beitrag leisten müssen. Ich bin überzeugt, dass sie
dazu bereit sind.

Also höhere Steuern für Gutverdiener und Unternehmen?

Über die genauen Instrumente reden wir dann, wenn es notwendig ist. Das Thema wird sicher im Wahlkampf nächstes Jahr eine Rolle spielen. Die SPD wird sich in ihrem Wahlprogramm dazu klar und klug positionieren.

In der Außenpolitik steuern Sie nach links. Dass US-Präsident Donald Trump ein Drittel der in Deutschland stationierten amerikanischen Soldaten abziehen will, nennen Sie eine Chance. Warum?

Wie viele andere beklage ich, dass wir es mit einem Präsidenten zu tun haben, der die Folgen seiner Entscheidungen offenbar nicht bis zum Ende durchdenkt. Ich glaube, dass es den US-Streitkräften größere Probleme bereiten wird, diesen massiven Abbau von Truppen in Deutschland umzusetzen. Die Stationierung von US-Truppen liegt in erster Linie im Interesse der USA. Trotzdem müssen wir uns darauf einstellen, dass es dazu
kommen könnte. Die Stärkung der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik, die sich nicht im Militärischen erschöpfen darf, muss daher vorangetrieben werden.

Das Gegenteil ist zu beobachten: Polen versucht, aus der Entscheidung Profit zu ziehen und bietet an, die US-Soldaten bei sich zu stationieren.

Es ist nicht im Interesse von Nato oder EU, dass Europa sich spaltet. Aber wir müssen derzeit damit leben, dass in Warschau eine Regierung im Amt ist, die auf die nationale Karte setzt statt Europa zusammenzuführen. Ich sehe auch das Risiko, dass eine Verlagerung von Truppen in Richtung Osten die Spannungen mit Russland verschärfen könnte – zumal sie gegen die NATO-Russland-Grundakte verstoßen würde. Darüber sollten sich alle im Klaren sein.

Einerseits kritisieren Sie den US-Präsidenten für seine überraschenden Winkelzüge, andererseits haben Sie selbst den Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland gefordert und damit die nukleare Teilhabe in der Nato infrage gestellt. 

Wenn ich gewusst hätte, dass ich mit der Forderung nach Abzug der Atomsprengköpfe aus Büchel in ein solches Wespennest stoßen und manche maßlose Reaktion hervorrufen würde...

Entschuldigen Sie, aber so naiv können Sie doch nicht sein.

Ich habe an etwas erinnert, was seit Jahren Beschlusslage der SPD ist, was unsere Kanzlerkandidaten von Steinmeier bis Schulz gefordert haben und was Ziel im Koalitionsvertrag von CDU, CSU und FDP 2009 war. Die guten Gründe dafür, dass damals weitgehend Einigkeit bestand, sind ja nicht weniger geworden. Im Übrigen teilt sich die nukleare Teilhabe in einen politischen und einen technischen Teil. Letzteren habe ich hinterfragt. Die Mitgliedschaft in der Nuklearen Planungsgruppe der Nato hängt nicht von der Frage ab, ob man amerikanische Kernwaffen im Land hat oder nicht. Aber die Frage nach der Stationierung stellt sich aktuell sehr wohl. Wir stehen vor der Entscheidung, sehr teure neue Trägersysteme für die US-Atomwaffen anzuschaffen. Vor dem Hintergrund einer neuen US-Nukleardoktrin, die bereit ist, frühzeitig Kernwaffen in Konflikten einzusetzen, halte ich eine Debatte darüber für dringend notwendig.

Ihr eigener sozialdemokratischer Außenminister Heiko Maas sagt: "Einseitige Schritte, die das Vertrauen unserer engsten Partner und europäischen Nachbarn untergraben, bringen uns dem Ziel einer atomwaffenfreien Welt nicht näher." Deutlicher kann eine Kritik kaum sein.

Ich bin mit Heiko Maas in zentralen Fragen – zum Beispiel im Ziel einer atomwaffenfreien Welt – völlig einig und unterstütze nachdrücklich seine Bemühungen, Gespräche und Initiativen zu Abrüstung und Rüstungskontrolle. Und vielleicht hilft es ihm dabei auch, wenn die nukleare Frage stärker in der Öffentlichkeit diskutiert wird. Die Erfahrung lehrt, dass nur mit einer breiten öffentlichen Bewegung Fortschritte möglich sind.

Nach dem Chef des Seeheimer Kreises, Johannes Kahrs, zieht sich auch der Verteidigungsexperte Fritz Felgentreu im kommenden Jahr zurück. Haben konservative Sozialdemokraten in der SPD keine Zukunft mehr?

Die SPD ist eine Volkspartei. Jede Entscheidung, sich Wahlen zu stellen, richtet sich auch nach persönlichen Motiven. 

Auf uns wirkt das allerdings wie ein Durchmarsch der Parteilinken.

Überhaupt nicht. Natürlich war es meine Entscheidung, Eva Högl als Wehrbeauftragte vorzuschlagen – im Übrigen keine Parteilinke. Aber die Fraktion hat die Personalie einstimmig beschlossen, bei zwei Enthaltungen. Mit dieser Einigkeit scheinen einige Beobachter nicht gerechnet zu haben.

Ein Großteil Ihrer Abgeordneten in der Fraktion wollte 2019 Olaf Scholz und Klara Geywitz als neue Parteivorsitzende. Die Mitglieder aber haben Norbert Walter-Borjans und Saskia Esken gewählt. Deren Ansehen in der Fraktion ist nach wie vor schlecht. Wo sehen Sie sich in dem Konflikt – als Vermittler?

Meine Rolle ist es, die Fraktion in ihrer Souveränität und Fachlichkeit zu stärken. Ich achte darauf, dass die inhaltliche Arbeit jedes Mitglieds gewürdigt wird. In unseren Sitzungen beschäftigen wir uns daher auch zuerst mit der Plenarwoche. Erst danach sprechen die Parteivorsitzenden, dann Olaf Scholz und ich. 

Ihre Verhandlungserfolge beim Konjunkturpaket wurden allerdings gestört von einer Debatte über "latenten Rassismus" in der Polizei, die Saskia Esken angestoßen hat. Darüber waren viele in der SPD unglücklich.

Es geht in der Politik nicht um Glücksempfinden. Vieles wird auch aufgebauscht und aus dem Zusammenhang gerissen. Ich war deshalb sehr dankbar, dass Boris Pistorius, der niedersächsische Innenminister, Saskia Esken in eine Polizeiakademie eingeladen hat, wo sie sich mit Polizistinnen und Polizisten austauschen konnte. Das hat die Debatte versachlicht.

Neben Ihnen wird Olaf Scholz als möglicher Kanzlerkandidat genannt, der aber nicht Parteichef geworden ist. Was zeichnet Scholz aus? 

Er hat neben vielem anderen die Fähigkeit, klar zu analysieren, wie die gegenwärtige Krise finanziell, wirtschaftlich und politisch beherrschbar ist. Weil Scholz so gut gehaushaltet hat, sind wir heute in der Lage, in der Krise mit großen Summen gegenzusteuern. Und zugleich treibt er die europäische Integration voran, weil er bereit ist, anderen europäischen Ländern zu helfen.

Ein möglicher Kanzler?

Niemand wird bezweifeln, dass Olaf Scholz unser Land führen kann.