Lars Klingbeil, MdB redet im Bundestag zu Netzsperren/Bekämpfung der Kinderpornografie im Internet

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Die Regierungsfraktionen haben in ihrem Koalitionsvertrag vereinbart, das Zugangserschwerungsgesetz zunächst für ein Jahr nicht anzuwenden. Das Bundeskriminalamt wurde durch einen Erlass zur faktischen Nichtanwendung des Gesetzes angewiesen. Die Fraktion der SPD hat im Februar 2010, also vor beinahe einem Jahr, den Entwurf eines Gesetzes zur Aufhebung des Gesetzes zur Bekämpfung der Kinderpornografie in Kommunikationsnetzen in den Deutschen Bundestag eingebracht. In diesem Gesetzentwurf haben wir gefordert, dieses Gesetz zurückzunehmen.

Es ist bereits erwähnt worden – ich will das in aller Klarheit sagen –: Indem die SPD-Fraktion diesen Gesetzentwurf eingebracht hat, hat sie eingeräumt, dass es
ein Fehler war, dem Zugangserschwerungsgesetz in der Großen Koalition zuzustimmen.

(Beifall der Abg. Dr. Eva Högl [SPD])

 

 

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Wir haben zugehört, wir haben diskutiert, wir haben gelernt, und am Ende haben wir eine klare Linie gezogen. Sie können mir glauben: Das war für die SPD nicht immer einfach. Aber ich sage in aller Klarheit: Politik muss den Mut haben, Fehler ohne Wenn und Aber einzugestehen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)

Herr Heveling, Ihnen will ich sagen: Ihre Rede fing bemerkenswert an. Es hätte eine große Rede werden können, wenn auch Sie diesen Fehler eingestanden hätten, wenn Sie gesagt hätten, dass auch CDU und CSU hier einen Fehler gemacht haben.

Bereits in der Begründung unseres Gesetzentwurfes haben wir Sozialdemokraten darauf hingewiesen, dass im Hinblick auf den Erlass des Ministeriums ein verfassungswidriger Zustand besteht. Damals hat dies offensichtlich kaum jemanden interessiert. Aber wenn nun sogar Bundestagspräsident Lammert die Regierung dazu auffordert – ich zitiere –, „einen offensichtlich verfassungsrechtlich fragwürdigen Zustand schnellstmöglich zu beenden“, dann zeigt das doch, wie dringend es ist, dass wir heute über das Zugangserschwerungsgesetz und den Erlass diskutieren.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Es ist durchaus denkbar, dass sich noch nicht in allen Fraktionen die Erkenntnis durchgesetzt hat, dass Internetsperren wenig effektiv, ungenau und technisch ohne größeren Aufwand zu umgehen sind. Diese Einschätzung wurde allerdings im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im federführenden Rechtsausschuss und in einer Anhörung im Unterausschuss Neue Medien nachdrücklich bestätigt. Wer die mittlerweile gereiften Erkenntnisse also pragmatisch, unideologisch und objektiv bewertet und sich mit ihnen auseinandersetzt, der kann zu keinem anderen Schluss kommen, als dass Netzsperren keine wirkliche Hilfe im ernsthaften Kampf gegen Kinderpornografie sind.

(Beifall der Abg. Aydan Özoğuz [SPD])

Wir als Sozialdemokraten plädieren für einen nachhaltigen Kampf gegen die Darstellung von Kindesmissbrauch im Internet. Wir sagen: Löschen und effiziente Strafverfolgung müssen unsere Leitlinien sein. Wir brauchen keine Symbolpolitik durch Netzsperren. Wir müssen die Inhalte an der Quelle abschalten. Gleichzeitig müssen wir dafür sorgen, dass Beweise für die Strafverfolgung sichergestellt werden.

Erst in diesen Tagen hat der Verband der deutschen Internetwirtschaft, eco, die neuesten Zahlen bezüglich der Löschung von Internetseiten vorgelegt. Diese Zahlen
belegen eindrucksvoll, dass „Löschen statt Sperren“ erfolgreich ist. Über 99 Prozent der bei deutschen Providern gemeldeten Seiten wurden innerhalb einer Woche gelöscht.

(Jimmy Schulz [FDP]: Das ist ja unstrittig!)

Die Masse davon wurde in der Regel innerhalb einiger Stunden bzw. spätestens innerhalb eines Werktages gelöscht. Auch bei der Bekämpfung von Inhalten im Ausland wurde im Vergleich zu 2009 ein deutlicher Erfolg erzielt. Der Ausbau der Kooperation zwischen Beschwerdestellen, Internetserviceprovidern und Strafverfolgungsbehörden hat zu einer deutlich verbesserten Reaktionszeit geführt. Innerhalb einer Woche waren über 84 Prozent der gemeldeten Seiten abgeschaltet, nach zwei Wochen waren es über 91 Prozent.

Gerade in den USA und in Russland, also in den Ländern, in denen die meisten kinderpornografischen Inhalte entdeckt wurden, entwickelt sich die Löschgeschwindigkeit überaus erfreulich. In den USA waren 87 Prozent der gemeldeten Inhalte binnen einer Woche offline, in Russland sogar 98 Prozent. Die Provider machen auch deutlich, dass sie das Prinzip „Löschen statt Sperren“ durch internationale Kooperationen, beispielsweise im Rahmen des Netzwerkes Inhope, ernsthaft verfolgen und auch weiter ausbauen wollen. Die Faktenlage ist also eindeutig: Netzsperren sind für den Kampf gegen Kinderpornografie nicht geeignet. Das Löschen funktioniert, wenn man es richtig macht.

Es bleibt zu fragen, was die Regierung eigentlich tut. Es wird immer beschwichtigend gesagt: Wir evaluieren und warten ein Jahr ab. – Auch der Kollege Mayer hat gerade gesagt: Lassen Sie uns doch ein Jahr abwarten. – Aber wenn ich dann die Äußerungen von Herrn Lammert lese – auch Herr Kauder hat sich dahin gehend geäußert –, der darauf verweist, dass dieser Zustand möglicherweise verfassungswidrig sei, dann glaube ich, dass es doch genau richtig ist, dass wir hier heute darüber diskutieren.

Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Koalition, insbesondere liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, es ist doch nicht so, dass bei Ihnen ein Erkenntnisdefizit besteht. Nach knapp einem Jahr muss man schon sagen, dass es auch kein Handlungsdefizit mehr sein kann; denn Sie wissen eigentlich, was zu tun ist. Ich befürchte, die FDP wird langsam ein Glaubwürdigkeitsproblem bekommen. Wer sich in der Opposition laut gegen Netzsperren ausspricht, dann aber in der Regierung taktiert und abwartet, der muss sich schon fragen lassen: Was ist eigentlich aus den guten Ansätzen geworden?

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Kollege Klingbeil, erlauben Sie eine Zwischenfrage des Kollegen Wunderlich von den Linken?

Lars Klingbeil (SPD):
Ja, gerne.

Vizepräsident Dr. Hermann Otto Solms:
Herr Wunderlich, bitte.

Jörn Wunderlich (DIE LINKE):
Schönen Dank. – Herr Kollege Klingbeil, ich habe eine Frage an Sie. Sie sagten, das Gesetz sei per Ministerialerlass ausgesetzt worden, die Koalition warte ab und wolle evaluieren. Das heißt, das Gesetz wird – wenn ich das richtig verstehe – nicht angewendet;

(Jimmy Schulz [FDP]: Doch!)

gleichwohl soll es evaluiert werden. Ihnen dürften die verfassungsrechtlichen Bedenken, die seinerzeit vom jetzigen Staatssekretär Stadler und auch von der jetzigen Justizministerin Leutheusser-Schnarrenberger gegenüber diesem Gesetz geäußert worden sind, bekannt sein, ebenso wie dem Rest der FDP-Fraktion. Gehe ich recht in dieser Annahme?

Lars Klingbeil (SPD):
In dieser Annahme gehen Sie recht. Umso dringender ist es, dass heute unser Antrag behandelt und nicht noch weiter abgewartet wird. Wir befinden uns in einem Zustand, der schnellstens geklärt werden muss. Sie haben darauf hingewiesen; es gibt bereits entsprechende Äußerungen. Liebe Kolleginnen und Kollegen, lassen Sie mich zum Schluss kommen. In einem Argumentationspapier, das vier junge FDP-Abgeordnete – lassen Sie mich anmerken, dass ich diese vier jungen, dynamischen Kollegen alle sehr schätze – in dieser Legislaturperiode vorgestellt haben, heißt es:

Die FDP-Fraktion der 16. Wahlperiode hat im Juni 2009 geschlossen gegen das Zugangserschwerungsgesetz gestimmt. Dies hat uns in der Internet Community, bei Fachleuten und insbesondere auch bei zahlreichen Jung- und Erstwählern viel Sympathie und Respekt verschafft.

Liebe FDP, das waren noch Zeiten.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD)

Was ist nur aus dieser klaren Linie geworden?

Ich wünsche viel Glück bei den Verhandlungen und sage auch: Linke, Grüne und SPD laden ein, an dieser Stelle Spur zu halten. Ich hoffe, die FDP wird nicht zum netzpolitischen Geisterfahrer.

(Beifall bei der SPD und der LINKEN sowie des Abg. Dr. Konstantin von Notz [BÜNDNIS
90/DIE GRÜNEN])