Frau Nahles, die Regierung steht, aber Kanzlerin Angela Merkel hat gerade einmal neun Stimmen mehr als notwendig erhalten. Ein Fehlstart?
Nahles: Nein. Die Kanzlerin hat eine Mehrheit erhalten. Aber es waren weniger Stimmen als wir erwartet hatten. Die Wahl war geheim, deswegen werden wir nie genau wissen, wer mit Nein gestimmt hat. Das spielt aber auch keine Rolle. Bei uns jedenfalls war die Stimmung gut und sehr geschlossen.
Frage: Dann müssen die Gegenstimmen von der Union gekommen sein. Hat die Kanzlerin ihre Partei nicht im Griff?
Nahles: In der Union rumort es. Auch bei CDU und CSU waren ja viele skeptisch, in diese Regierung einzutreten. Das können wir jetzt nur durch gutes Regieren auflösen.
Frage: Wie stabil ist die Regierung denn, wenn die Kanzlermehrheit so knapp ausfällt?
Nahles: Die Union kann sich auf die SPD verlassen. 66 Prozent unserer Mitglieder haben uns den klaren Auftrag für die Große Koalition gegeben. In der Fraktion gab es eine gute Diskussion mit Frau Merkel. Die SPD will jetzt loslegen. Wir haben viel zu tun, es gibt jede Menge umzusetzen. Im Koalitionsvertrag stecken viele sozialdemokratische Herzensprojekte.
Frage: Was muss als erstes angepackt werden?
Nahles: Das Rückkehrrecht von Teil- in Vollzeit steht ganz oben auf unserer Agenda. Viele Frauen sind doppelt gelackmeiert, weil sie es sind, die in Teilzeit gehen, wenn Kinder kommen, und dann nicht mehr in Vollzeit zurückkehren können, weil der Weg versperrt ist. Und dann reicht am Ende die Rente nicht und es folgt die Altersarmut. Aus dieser Falle werden wir die Frauen herausholen. In der letzten Koalition hat die Union das blockiert, jetzt ist es das erste Thema. Der Gesetzentwurf ist fertig und kann zügig beschlossen werden. Auch die Rückkehr zur Parität bei den Beiträgen zur Krankenversicherung wird schnell kommen. Dadurch werden die Arbeitnehmer um rund fünf Milliarden Euro entlastet.
Frage: Auch der Haushalt muss rasch unter Dach und Fach gebracht werden. Ist für die SPD die schwarze Null sakrosankt?
Nahles: Sie steht auch auf unseren Wunsch im Koalitionsvertrag. Die schwarze Null ist zwar für uns nicht aus Prinzip eine heilige Kuh. Aber gerade in dieser wirtschaftlich glänzenden Zeit wollen wir einen ausgeglichenen Haushalt. Wir können sogar gleichzeitig investieren und reduzieren die Schuldenquote, um besser dazustehen, wenn es schlecht läuft. Daher gibt es keinen Grund, die schwarze Null in Frage zu stellen.
Frage: Die SPD ist aus den zurückliegenden Großen Koalitionen stets als Verliererin hervorgegangen. Warum sollte das diesmal anders werden?
Nahles: Die Volksparteien sind unter Druck geraten, weil der Trend zu kleineren Parteien geht, die Einzelinteressen vertreten. Damit wir uns behaupten, brauchen wir guten Streit um die besten Antworten, also fruchtbare Debatten aus der Mitte der Gesellschaft heraus. So können wir den Zusammenhalt wiederherstellen, der sonst verloren geht. Auch über die Flüchtlingskrise ist viel zu wenig offen diskutiert worden, das gilt auch für mich. Dadurch haben wir es den Rechtspopulisten zu einfach gemacht, das Thema mit ihren Parolen zu besetzen. Der Bogen um das Flüchtlingsthema war nichts anderes als ein Vorbeimogeln an den Konflikten, die ja da sind. Da müssen wir anders ran, rein in die schwierigen Themen und Raum für die Debatte schaffen - unter den demokratischen Parteien. Ich bin für Klarheit in der Sache, aber ohne Ressentiments – das markiert den großen Unterschied zu den hetzerischen „Argumenten“ der Rechtspopulisten.
Frage: Bei der Begrenzung des Zuzugs prescht der neue Innenminister Horst Seehofer schon mal vor, hat schon einen Masterplan für schnellere Abschiebungen angekündigt. Geht die SPD da mit?
Nahles: Herr Seehofer sollte auf seine martialischen Vokabeln verzichten, mit denen er seine Ankündigungen gerne garniert. Aber natürlich: Bei Abschiebungen müssen wir konsequent sein. Da bin ich ganz dafür. Abschiebungen werden nur ausgesprochen, wenn rechtsstaatliche Verfahren durchlaufen worden sind. Wenn am Ende die Abschiebung ansteht, muss diese auch durchgeführt werden. Da gibt es gar keinen Dissens mit der Union.
Frage: Den gibt es aber über das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche. Auf Druck der Union haben Sie den SPD-Antrag auf Abschaffung des Paragraphen 219a zurückgezogen. Also doch Kuschelkurs statt spannender Auseinandersetzung?
Nahles: Ihre Darstellung ist falsch. Die Union ist in der Sache auf uns zugegangen, indem sie anders als vor zwei Wochen nun bereit ist, etwas bei dem Thema zu machen. Das ist entscheidend. Wir sind im Gegenzug beim Verfahren auf die Union zugegangen. Wir beauftragen die Regierung, einen Vorschlag zu machen. Justizministerin Katarina Barley wird sich darum kümmern. Die Kanzlerin hat auch zugesagt, dass sie dieses Vorgehen unterstützt. Es muss Rechtssicherheit für Ärztinnen und Ärzte geben.
Frage: Der Rückzug des Antrags als vertrauensbildende Maßnahme?
Nahles: Die Positionen zwischen Union und SPD sind gegensätzlich. Das kommt vor. Wir haben einen Weg gefunden, respektvoll damit umzugehen. Die FDP dagegen verhält sich total unseriös. Wenn sie unseren Antrag vorher unterstützt hätte, hätte es längst eine Mehrheit für eine Abschaffung des Werbeverbotes gegeben. Die Liberalen machen Mätzchen und drehen dreimal in einer Woche ihre Meinung. Das ist der billige Versuch, einen Keil in die Koalition zu treiben, aber das wird ihr nicht gelingen.
Frage: Sind Menschen, die von Hartz IV leben, nicht arm, wie Jens Spahn es meint?
Nahles: Hartz IV sichert das Existenzminimum, das absolut Nötigste zum Leben. Man verhungert damit nicht.. Aber für mich ist auch der arm, der keine Chance auf Teilhabe am Leben in unserem Land hat, weil ihm dafür die Ressourcen fehlen. Also kein Geld für Kino, Theater oder den Schwimmbadbesuch. Wenn wir genau hinsehen, ist das für ganz viele Hartz-IV-Empfänger genau die Kante, auf der sie sich bewegen. Diese Leute sind arm. Ein gutes Leben ist für sie nur sehr schwer möglich. Daher sollte auch Jens Spahn ganz genau aufpassen, wie er mit dem Begriff umgeht. Seine Aussagen sind wenig hilfreich und er sollte sich als Minister nun ein bisschen tiefer mit den Problemen befassen. Er hat ja gute Beamte, die das für ihn aufarbeiten.
Frage: Sollten die Hartz-IV-Leistungen angehoben werden?
Nahles: Die Leistungen werden regelmäßig nach verfassungsgemäßen Grundsätzen angehoben. Worauf es ankommt, ist, die Menschen so schnell wie möglich aus Hartz-IV herauszuholen. Dabei sind wir einen großen Schritt weitergekommen. Im Koalitionsvertrag ist endlich ein sozialer Arbeitsmarkt vereinbart. Wir nehmen Geld in die Hand, um für 150 000 Langzeitarbeitslose Jobs zu schaffen. Die werden nicht in Maßnahmen geparkt, sondern sie bekommen Arbeitsverträge. Und Arbeit ist Würde.
Frage: Blicken wir nach Europa. Gestern war die Kanzlerin zum Antrittsbesuch in Paris. Kommt jetzt der gemeinsame Neustart, der im Koalitionsvertrag angekündigt wird?
Nahles: Jetzt geht es endlich an die konkreten Verhandlungen. Nicht alles, was Präsident Macron vorgeschlagen hat, ist Eins zu Eins unsere Position. Die SPD will jetzt keinen EU-Finanzminister. Dafür fehlt es derzeit an den Voraussetzungen, das ist eher ein mittelfristiges Projekt. Ein gemeinsamer Euro-Haushalt für Investitionen ist hingegen dringend notwendig. Wir brauchen einen Investitionshaushalt, um die unterschiedlichen Probleme in den Mietgliedstaaten gezielt anzugehen. Hier ist ein Neustart notwendig. Das ist eines unserer zentralen Vorhaben, bei denen sich die Unionsparteien noch etwas bewegen müssen.
Frage: Die Sparpolitik à la Wolfgang Schäuble hat ausgedient?
Nahles: Falls es die Hoffnung in einzelnen Mitgliedstaaten gibt, dass der neue deutsche Finanzminister sein Portemonnaie öffnet, kann ich nur sagen: So wird es nicht funktionieren. Aber wir brauchen auch einen Neustart für eine gemeinsame europäische Sozialpolitik. Es geht nicht um Transfer, sondern um Europäische Standards wie Mindestlöhne und soziale Sicherung. Das gilt übrigens auch für die Steuerpolitik. Die Union hat sich jahrelang dagegen gesträubt. Jetzt wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen.
Frage: Gemeinsam mit Paris?
Nahles: Macron hat wichtige Impulse gesetzt. Wir müssen dringend vorankommen. Es gibt ausreichend Gemeinsamkeiten, um den deutsch-französischen Motor wieder anzuwerfen. Ohne den kommt Europa nicht voran.
Frage: Sie wollen die SPD voranbringen – am 22. April steht Ihre Wahl zur ersten Frau an der Spitze der Partei an. Mit Vorbildern ist es da nicht so leicht, oder?
Nahles: Vielleicht wenn Willy Brandt eine Frau gewesen wäre … (lacht). Mir hat zum Beispiel immer imponiert, wie Renate Schmidt ein Bierzelt aufgemischt hat. Oder so eine zähe, gute Verhandlungsführung von Heidemarie Wieczorek-Zeul. Die hat immer wieder beharrlich für ihre Sache gekämpft und sich am Ende oft durchgesetzt … Von Kurt Beck habe ich vor allem den fairen Umgang mit seinen Widersachern gelernt. Aber das große Vorbild, den Übervater oder die Übermutter gibt es für mich nicht. Ich habe mir bei ganz vielen etwas abgeschaut.
Frage: Was ist zu tun, um Fahrverbote noch abzuwenden?
Nahles: Die Autobauer müssen bei den Kaufprämien für saubere Neuwagen noch eine ordentliche Schippe drauflegen. Es gibt gerade im ländlichen Raum einen sehr hohen Bestand an alten Dieseln. Wenn diese durch neue Wagen ersetzt werden, kommen wir schon einen großen Schritt voran. Dafür muss die Industrie ihre Angebote aber noch ordentlich aufbessern.
Frage: Frau Nahles, der Islam gehört nicht zu Deutschland, sagt der neue Innenminister Horst Seehofer. Gehört für Sie der Islam zu Deutschland oder nicht?
Nahles: Das ist eine acht Jahre alte Debatte, die innerhalb der Union immer noch geführt wird, aber niemanden weiterbringt. Seehofer glaubt wohl, damit im Bayern-Wahlkampf punkten zu können. Ich finde den Blick ins Grundgesetz hilfreich, dort gewährt Artikel 4 die Religionsfreiheit.
Frage: Zur Zeit häufen sich Anschläge auf Moscheen und muslimische Einrichtungen, die Muslime hierzulande fordern mehr Solidarität. Droht Seehofer mit seiner Aussage nicht, die Spaltung voranzutreiben?
Nahles: Die Anschläge finde ich erschreckend. Die Täter müssen mit der vollen Härte der Gesetze rechnen. Ich glaube nicht, dass Seehofer die Spaltung der Gesellschaft im Sinn hat. Er hat ja auch den Koalitionsvertrag unterschrieben, in dessen Überschrift es heißt: „Ein neuer Zusammenhalt für unser Land“.
Frage: Sie sind selbst gläubige Katholikin. Sehen Sie durch den Islam und die Zuwanderung aus muslimischen Ländern die christliche Tradition Deutschlands in der Defensive?
Nahles: Nein.