RND: Herr Mützenich, die Zahl der Corona-Infektionen steigt wieder stärker. Haben Sie Angst vor einer zweiten Welle?
Rolf Mützenich: Die Gefahr einer zweiten Corona-Welle besteht. Die Warnungen muss man sehr ernst nehmen. Andere Länder haben bereits die Erfahrung gemacht, dass mangelnde Vorsicht zu steigenden Infektionszahlen führt. Wir müssen alles daransetzen, dass uns das in Deutschland nicht passiert.
Sind die Deutschen unvorsichtig?
Die meisten Menschen halten sich an die Verhaltensregeln. Den Leichtsinnigen sei gesagt: Ihr bringt nicht nur Euch selbst in Gefahr, sondern auch alle anderen.
Würden Sie selbst in einem Risikogebiet Urlaub machen?
Nein. Trauerfälle oder Notfälle in der Familie mögen Gründe für eine solche Reise sein. Aber: Dass Menschen auf die Idee kommen, Gebiete mit einem hohen Infektionsrisiko als Erholungsorte zu nutzen, kann ich nicht nachvollziehen. Es ist richtig, jetzt verpflichtende Tests für Rückkehrer aus solchen Gebieten einzuführen.
Kritiker sagen, die Entscheidung kommt viel zu spät. Hat Bundesgesundheitsminister Jens Spahn das Thema verschlafen?
Es wäre wünschenswert gewesen, schon deutlich vor Beginn der Sommerferien darüber nachzudenken, wie wir mit den Urlaubsrückkehrern umgehen sollen. Allerdings war lange weder klar, welche Reisemöglichkeiten es geben wird, noch wo sich Risikoregionen entwickeln. Aber ich will nichts beschönigen: Wir hätten wenigstens abstrakt eine bessere Vorbereitung gebraucht.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Heinz-Peter Meidinger, fürchtet ein „großes Durcheinander im neuen Schuljahr. Zeigt sich hier einmal mehr, dass der Bund mehr Kompetenzen in Sachen Schule braucht?
Gerade bei den Schulen müssen wir aus den Erfahrungen der Krise lernen. Der Bildungsföderalismus hat seine Stärken. Ich setzte aber auch auf die Einsicht der Länder: Wir müssen in Deutschland noch mehr tun, um in den Schulen gemeinsame Standards zu befördern und Realität werden zu lassen. Der Bund gibt Geld für viele Projekte, natürlich muss daraus auch etwas folgen.
Eltern beklagen: Es ist eine Lotterie, ob das Kind an einer Schule ist, die in Corona-Zeiten gut aufgestellt ist – oder eben nicht.
Das darf nicht sein. Eltern und Kinder haben ein Recht darauf, dass es mit der Bildung überall gleichermaßen verlässlich funktioniert – in- und außerhalb der Pandemie. Das muss eine der Konsequenzen in Nach-Corona Zeiten sein.
Müssen Lehrer sich in den Sommerferien verpflichtend in digitalem Unterrichten fortbilden?
Ich halte es für eine Frage der Selbstverständlichkeit, dass Lehrer sich – wie allen anderen auch – regelmäßig fortbilden. Das findet ja auch statt. In dieser besonderen Situation muss das sicher auch in der unterrichtsfreien Zeit passieren. Die gesamte Lehrerausbildung muss mit Blick auf die Möglichkeiten des digitalen Unterrichtens modernisiert werden. Eines dürfen wir aber in dieser Debatte nie vergessen: Sehr viele Lehrerinnen und Lehrer leisten Herausragendes – und machen zusätzlich in der Corona-Krise Förderangebote an die Schülerinnen und Schüler in den Ferien und halten Kontakt zu ihren Klassen.
Die Corona-Krise hat gezeigt, wie überfordert US-Präsident Donald Trump mit seinem Amt ist. Trauen Sie ihm zu, die Wahl noch zu gewinnen?
Die Wahl in den USA ist noch lange nicht gelaufen. Die Gefahr, dass Donald Trump erneut als Präsident gewählt wird, besteht auch angesichts des besonderen Wahlsystems fort. Wenn aber wichtige Staaten wie Florida an die Demokraten gehen, wie derzeit vorhergesagt, wird es für Trump schwer.
Die Verzweiflung nimmt erkennbar zu. Inzwischen redet Trump über eine Wahl-Verschiebung.
Eine Verschiebung der Wahl, nur um länger im Amt zu bleiben, wäre eine schwerwiegender Verfassungsbruch und ein weiterer Rückschlag für diejenigen, die sich in ihren Ländern für Demokratie und freie Meinungsäußerung einsetzen. Was dieser US-Präsident insgesamt schon an Ungeheuerlichkeiten gesagt und getan hat, lässt mich sprachlos zurück. Trump ist ein Egomane und ein Rassist. Er hat die USA nie versöhnt, sondern immer nur versucht zu spalten. Seine Strategie, Bundestruppen in demokratisch regierte Städte gegen deren Willen zu entsenden, um die dort bestehenden Auseinandersetzungen über Rassismus anzuheizen, ist abscheuerregend. Angesichts der vielen Schusswaffen in den USA mache ich mir große Sorgen, dass es bis zur Wahl oder auch danach zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen kommen kann.
Sie glauben, Trump macht seine Drohung wahr und bleibt auch nach einer Wahlniederlage im Weißen Haus?
Ich bin fest davon überzeugt, dass Trump ernsthaft darüber nachdenkt, den Wählerwillen zu ignorieren. Er sagt das ja auch ganz offen. Ich hoffe, dass die amerikanische Justiz, die Medien und die Zivilgesellschaft in einem solchen Fall stark genug sein werden, um diesem Spuk ein Ende zu machen.
Die US-Administration hat einen Truppenabzug aus Deutschland beschlossen. Sie haben als Reaktion ein Ende gemeinsamer Rüstungsprojekte ins Spiel gebracht – was die CDU in Deutschland empört. Macht eine solche Eskalation noch Sinn, wo der US-Präsident bald ein anderer sein könnte?
Ich will jedenfalls nicht, dass Deutschland in größere Abhängigkeit von Donald Trump gerät. Seine Politik der Willkür und des Drucks sind keine Grundlage für eine partnerschaftliche Zusammenarbeit – schon gar nicht im Bereich der Rüstungspolitik. Was ein möglicher Präsident Biden dann machen würde, muss man dann beantworten.
Was wären die Folgen für Deutschland und Europa, wenn Trump Präsident bliebe?
Es würde weiter zu großen Irritationen und nachhaltigen Auseinandersetzungen kommen. Die Gemeinsamkeiten würden weiter abnehmen. Trump würde mit Sicherheit auch weiter versuchen, Europa zu spalten.
Beim letzten EU-Gipfel hatten wir den Eindruck, dass die Europäer das ganz gut selbst hinbekommen…
Die Beschlüsse des EU-Gipfels sind beachtlich. Europa ist endlich bereit, Ländern in unverschuldeter Not durch die Aufnahme gemeinsamer Schulden zu helfen. Die Politik des Kaputtsparens von Wolfgang Schäuble und Angela Merkel ist Geschichte. Auch dass endlich die Rechtsstaatlichkeit der Mitglieder ins Zentrum europäische Politik gerückt wird, begrüße ich sehr.
Ungarns Präsident Viktor Orban sieht das offenbar anders. Der hat sich breit grinsend über einen großen Topf EU-Geld gefreut.
Manches Verhalten, das sage ich ganz offen, widert mich an. Das ändert aber nichts daran, dass die Beschlüsse des Gipfels zur Rechtsstaatlichkeit in den kommenden Jahren ihre Wirkung entfalten werden. Möglicherweise ist das Herrn Orban noch gar nicht richtig klar.
Die SPD kann als Krisenmanager in Sachen Corona auftreten und ist in Umfragen trotzdem weiter bis auf 14 Prozent abgerutscht. Robert Habeck veröffentlicht Pferdefotos und die Grünen liegen wieder bei 20 Prozent. Was macht die SPD falsch?
Ich glaube, die Menschen haben in der Krise anderes zu tun, als sich schon Gedanken darüber zu machen, wen sie im Herbst 2021 wählen. Wir werden in den Umfragen zulegen, wenn es darauf ankommt. Ich muss mich nicht darüber auslassen, wenn andere Politiker meinen, sich in Pose werfen zu müssen. Mir persönlich ist diese Art der Selbstinszenierung sehr fremd.
Glauben Sie Markus Söder, wenn er sagt: „Mein Platz ist in Bayern“?
Diese Frage interessiert mich nicht besonders. Ich finde es befremdlich, dass Söder stets so tut, als sei er in der Corona-Pandemie der große Krisenmanager. Dass wir in Deutschland vergleichsweise gut durch die Krise kommen, ist eine Mannschaftsleistung. Warum sich die Kanzlerin bereitwillig für die Söder-Festspiele im Schlosssaal zur Verfügung gestellt hat, ist mir bis heute ein Rätsel.
Wird der Milliardenbetrug beim Dax-Konzern Wirecard den Wahlkampf des Kanzlerkandidaten Olaf Scholz belasten?
Der Bundesfinanzminister hat im Finanzausschuss des Deutschen Bundestages gute und umfassend Antworten auf die berechtigten Fragen der Abgeordneten gegeben. Olaf Scholz will eine schnelle Reform der Finanzaufsicht und hat dafür konkrete Pläne vorgelegt. Das ist der richtige Weg.
Scholz wäre also weiterhin ein geeigneter Kanzlerkandidat?
Ich kenne kaum jemanden, der Olaf Scholz nicht für einen guten Kanzlerkandidaten hält. In Sachen Wirecard würde ich mir ähnlich überzeugende Antworten auch vom Bundeswirtschaftsminister wünschen. Peter Altmaier hat die Aufsichtspflicht für die Wirtschaftsprüfer. Wo ist eigentlich sein Plan, wie solches Versagen von Wirtschaftsprüfern künftig verhindert werden kann?
Finden Sie, der Koalitionspartner verhält sich fair in der Debatte um Wirecard?
Ich erwarte von der Union, dass sie auf billige Spielchen verzichtet. Es geht darum, dass so ein Milliardenbetrug künftig möglichst verhindert werden kann. Daran sollten sich alle gemeinsam beteiligen. Es darf nicht um kleinliche parteipolitische Geländegewinne gehen.
Wollen Sie Kanzlerkandidat werden?
Wir haben uns in der SPD darauf verständigt, eine gemeinsame und kluge Entscheidung zu treffen. Das werden wir tun.