Frau Nahles, in wenigen Wochen will die Bundesregierung gemeinsam mit Frankreich Vorschläge für die EU-Reform präsentieren. Kommt der große Wurf oder lässt sich die SPD von der Union ausbremsen?

Nahles: Olaf Scholz arbeitet mit Hochdruck an der Neuausrichtung der deutschen Europapolitik. Am Freitag hat er in Brüssel einen ersten Durchbruch erreicht. Es ist vereinbart, dass Banken in künftigen Krisen Banken nicht mehr ganze Staaten in den Abgrund reißen können. Banken, Aktionäre und Gläubiger haften und nicht die Bürgerinnen und Bürger. Das ist eine wirklich gute Nachricht. Damit haben wir eine neue Dynamik erreicht, die wir jetzt für weitere Schritte nutzen wollen. Dazu führt Olaf Scholz viele Gespräche mit seinen Kollegen aus allen Ländern – nicht nur mit den Franzosen. In einem weitergehenden Schritt wollen wir den ESM zu einem Europäischen Währungsfonds ausbauen. Berlin und Paris werden jetzt gemeinsam dafür werben. Nach jahrelangen Verhandlungen kommen wir jetzt entscheidende Schritte voran. Wichtig ist, alle Mitgliedstaaten mitzunehmen.

Frankreichs Präsident Emmanuel Macron pocht auch auf ein eigenes Budget für die Eurozone …

Nahles: Nach dem Brexit werden 85 Prozent der EU-Wirtschafts- und Finanzkraft in der Eurozone liegen. Nur noch ein Bruchteil liegt außerhalb. Da macht es mehr Sinn, zunächst den gesamten EU-Haushalt zu stärken, damit Europa seine Aufgaben bewältigen kann.

Eine der zentralen Forderungen aus Paris ist damit vom Tisch?

Nahles: Macron hat viele Vorschläge gemacht. Ihm geht es ja nicht nur um die europäische Finanzpolitik sondern auch um die Sozialpolitik und die Verteidigungspolitik. Vieles davon ist wichtig und richtig. Wobei ich nicht alles sinnvoll finde, was er fordert. So sehe ich durchaus kritisch, dass er zwar viele Forderungen stellt, andererseits aber die Reform der EU-Agrarsubventionen blockiert und sich bei der Finanztransaktionssteuer weiter querstellt.

Im Koalitionsvertrag werden spezifische Mittel für einen künftigen Investivhaushalt für die Eurozone in Aussicht gestellt …

Nahles: Ja, dazu stehe ich. Wir müssen weg von der Austeritätslogik eines Wolfgang Schäuble hin zu einer Investitionslogik, wie wir sie im  Koalitionsvertrag vereinbart haben. Deutschland steht zu seiner Verantwortung für Europa und ist deshalb zu höheren Beiträgen zum EU-Haushalt bereit. Wir wollen auch nach dem Brexit eine handlungsfähige Europäische Union, denn ein starkes Europa ist in unserem nationalen Interesse. Und auch wir haben konkrete Forderungen. Dazu gehört vor allem eine stärkere Zusammenarbeit in der Steuerpolitik.

Große Sorge über die künftige Regierung in Italien der Lega und des Fünf-Sterne-Bündnisses und deren Pläne. Gerät Europa jetzt in die nächste große Krise?

Nahles: Der Erfolg der Euroskeptiker in Italien  ist keine gute Nachricht für Europa, sondern ein Grund zur Sorge. Wir sollten jedoch jetzt erst einmal die weitere Entwicklung abwarten. Die Regierungsbildung in Italien ist nicht abgeschlossen. Und wir hatten in der Vergangenheit bereits mit Silvio Berlusconi einen Ministerpräsidenten, der wenig europafreundlich war. Es gibt daher noch keinen Grund für Alarmismus. Es ist eher ein Ansporn, Italien mit vereinten europäischen Kräften auf einem guten Kurs zu halten.

Sollte ihr Vorgänger Martin Schulz die SPD als Spitzenkandidat in den Europawahlkampf führen?

Nahles: Martin Schulz ist ein ausgezeichneter Europaprofi und ich bin daher natürlich mit ihm im Gespräch. Aber die Entscheidung über einen möglichen Kandidaten oder Kandidatin steht erst zu unserer Konferenz im Dezember an. Wir sollten jetzt nicht mit Namen handeln.

Die Bundesregierung ist noch keine hundert Tage im Amt. Schon knirscht es zwischen Union und SPD. CDU-Generalsekretärin Annegret Kramp-Karrenbauer sieht noch Gesprächsbedarf bei der geplanten Regelung für das Rückkehrrecht von Teilzeit in Vollzeit. Sehen Sie da noch Verhandlungsspielraum?

Nahles: Wir sind in einer Phase, in der wir zeigen müssen, dass wir diesen Koalitionsvertrag auch ernst meinen. Die Union will die sozialdemokratische Handschrift streichen, die dieser Vertrag trägt. Das werden wir nicht zulassen, das ist mit mir nicht zu machen. Frau Merkel wäre ohne die SPD längst nicht mehr Kanzlerin, sondern im Ruhestand. Der Koalitionsvertrag, den wir mühsam ausgehandelt und erkämpft haben, ist für uns zentral. Es gibt darin einige Passagen, die noch der weiteren Ausgestaltung bedürfen, keine Frage. Aber das Recht auf Rückkehr von Teilzeit in Vollzeit ist bis ins letzte Wort und Komma ausverhandelt. Das  wissen alle Beteiligten, auch die Kanzlerin. Wenn jetzt Frau Kramp-Karrenbauer die Regelung dieser Brückenteilzeit in Frage stellt, akzeptieren wir das nicht. Wir führen darüber keine Verhandlungen mehr. Das wird jetzt im Kabinett beschlossen und umgesetzt. Daran wird nicht gerüttelt.

Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen (CDU) fordert deutlich mehr Mittel für die Bundeswehr. Warum stellt sich die SPD quer?

Nahles: Wir haben die Mittel für die Bundeswehr ja deutlich aufgestockt. Es ist klar, dass wir für unsere Truppe eine gute Ausrüstung brauchen. Die SPD steht ganz klar an der Seite unserer Soldatinnen und Soldaten. Das Problem ist doch ein ganz anderes: es gelingt seit Jahren nicht, das vorhandene Geld vernünftig für Beschaffung und die Ausrüstung der Bundeswehr einzusetzen. Wir haben ein Problem damit, immer weiter gutes Geld in schlechte Strukturen zu geben. Es fehlt der Plan.. Und ich sehe nicht ein, weitere Milliarden ohne Plan für die Rüstung ausgeben, mit der Konsequenz dass das Geld dann anderer Stelle fehlt, zum Beispiel bei Bildung oder dem Wohnungsbau. In der Vergangenheit hat Frau von der Leyen Lobeshymnen auf den früheren Finanzminister gehalten. Jetzt, da es mit Olaf Scholz einen Finanzminister der SPD gibt, kommt Widerstand und Protest, obwohl wir deutlich mehr Geld als früher in die Bundeswehr investieren. Die Verteidigungsministerin sollte nicht mit zweierlei Maß messen. Frau von der Leyen  muss zuallerst endlich die Bundeswehr tatsächlich reformieren und das Management verbessern, diese Aufgabe kann ihr keiner abnehmen.

Schlechte Umfragewerte, keine Trendwerte, die SPD kommt noch immer nicht aus dem Tief heraus. SPD-Urgestein Rudolf Dreßler hält die Partei für „todkrank“. Warum kommt die SPD nicht aus der Krise? Und wie gefährlich wird die geplante neue Sammlungsbewegung um Oskar Lafontaine und Sahra Wagenknecht?

Nahles: Für die SPD bin ich da entspannt, aber für die Linkspartei halte ich diese Pläne sogar für gefährlich In der SPD kämpfen wir uns gerade aus einer sehr schwierigen Phase der Regierungsbildung wieder nach vorn. Die vergangenen Monate waren sehr turbulent, keine Frage. i Wenige Wochen nach der Neuaufstellung darf man auch keine Wunder erwarten. Ich freue mich über die Debatten, wie wir die Partei wieder stark machen und inhaltlich voranbringen. Je mehr dabei mitmachen, desto besser. Aktionismus hilft uns nicht weiter. Alle sind gefragt.

Angela Merkel in der Rolle der Außenkanzlerin und internationalen Krisenmanagerin. Kommt da die Innenpolitik nicht deutlich zu kurz?

Nahles: Die aktuelle beunruhigende Weltlage lässt nichts anderes zu. USA, Russland, China - das sind genau die Gesprächspartner, mit denen wir jetzt reden müssen. Da sind die Bundeskanzlerin und Außenminister Heiko Maas besonders gefordert.

In der Bamf-Affäre untersagt Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) der Bremer Außenstelle vorerst das Ausstellen von Asylbescheiden. Ist das der richtige Schritt?

Nahles: Das ist allenfalls eine vorläufige Maßnahme und kann noch nicht die ganze Antwort sein. Es gibt zehn weitere Außenstellen mit auffälligen Anerkennungsquoten. Diese können ja nicht alle gleichzeitig geschlossen werden. Die eigentliche Aufgabe ist die lückenlose Aufklärung, wie es zu diesen massiven Ausfällen kommen konnte. Hier muss Herr Seehofer jetzt rasch und gründlich liefern. Mein Eindruck ist: Er hat die Dringlichkeit erkannt. Unsere Erwartung ist hoch, dass jetzt schnell etwas passiert. Im Bundesamt gibt es seit Jahren erhebliche Probleme. 13 Jahre lang ist es Unions-Innenministern nicht gelungen, diese Behörde für ihre Aufgaben richtig aufzustellen. Seehofer muss diese Missstände nun endgültig beheben und Qualitätskontrollen schaffen.

Braucht es einen Untersuchungsausschuss des Bundestages, wie es AfD und FDP fordern?

Nahles: Nein. Es muss jetzt ein Schritt nach dem anderen gemacht werden. Sofort nach Bekanntwerden des Skandals nach einem Untersuchungsausschuss zu rufen, ist voreilig. Bis der einsatzfähig ist, vergehen Wochen. Wir brauchen jetzt schnell Aufklärung. Der Minister muss jetzt die vielen offenen Fragen beantworten. Dazu wird er bereits in der nächsten Woche in einer Sondersitzung im Innenausschuss des Bundestages bereitstehen. Seehofer ist gerade ein paar Wochen im Amt. Ich traue ihm zu, den Bamf-Skandal aufzuklären und die notwendigen Konsequenzen zu ziehen. Er muss jetzt liefern.

Muss Bamf-Chefin Jutta Cordt ausgewechselt werden?

Nahles: Zunächst gilt es, aufzuklären: Was hat Frau Cordt wann gewusst, und wie hat sie reagiert? Ihre Abberufung zu fordern, bevor alle Fakten auf dem Tisch liegen, ist der Aufklärung nicht dienlich. Aber klar ist: Es sind Fehler gemacht worden, und das darf nicht ohne Folgen bleiben. Auch dem Verdacht, es habe Korruption gegeben, muss hart nachgegangen werden. Sonst wird das Vertrauen in den Rechtsstaat massiv beschädigt.

Um Abschiebungen zu erleichtern, will Seehofer die Maghreb-Länder zu sicheren Herkunftsstaaten erklären. Zieht die SPD mit?

Nahles: Ja, das haben wir gemeinsam vereinbart. Die Anerkennungsquoten für Asylbewerber aus diesen Staaten liegen unter fünf Prozent. Daher ist es in der Sache richtig, die Maghreb-Staaten zu sicheren Herkunftsländern zu erklären. Menschen, die weder geduldet noch als Asylbewerber anerkannt werden, müssen schneller Klarheit haben, dass sie nicht bleiben können und zurückgebracht werden. Das gehört unweigerlich zur Willkommenskultur dazu: sie funktioniert nur zusammen mit einem durchsetzungsstarken Rechtsstaat. Wer Schutz braucht, ist willkommen. Aber wir können nicht alle bei uns aufnehmen. Dazu müssen sich auch die Grünen im Bundesrat bewegen.

Zur Erleichterung der Rückführungen setzt Seehofer auf Ankerzentren. Warum geht es dabei nicht voran?

Nahles: Die Ankerzentren haben wir im Koalitionsvertrag vereinbart. Aber Herr Seehofer muss nun konkret darlegen, wie er sie gestalten möchte. Die entscheidenden Fragen sind noch ungeklärt: Was sollen sie leisten? Wer übernimmt die Aufgaben? Was wird durch sie besser? Der Bundesinnenminister hat bisher kein Konzept dazu vorgelegt. Stattdessen kritisiert die CSU die Länder, weil diese angeblich blockieren, dabei machen die Länder nur darauf aufmerksam, dass sie nicht wissen, was auf sie zukäme - außer dass sich die Bundespolizei nicht beteiligen will. So lange Herr Seehofer nicht für Klarheit sorgt, wird er sich die kritischen Fragen gefallen lassen müssen.

Zur Dieselkrise. Hamburg führt erste Fahrverbote ein. Ist das die Quittung fürs Nichtstun der Regierung?

Nahles: Hamburg macht klar: Städte und Kommunen können nicht alleine für die Einhaltung der Stickoxid-Grenzwerte sorgen. Wir müssen an die Quelle ran. Software-Nachrüstungen der Dieselfahrzeuge reichen nicht aus, wir brauchen auch Hardware-Nachrüstungen von Euro 5 und Euro 6 Fahrzeugen. Es geht jetzt um die Frage, wie moderne Abgasreinigungssysteme nachträglich eingebaut werden können, ohne die Verbraucher zu belasten.

Frage: Die SPD war hier lange zögerlich …

Nahles: Neue Erkenntnisse aus dem Bundesverkehrsministerium widerlegen die Behauptung, Hardware-Nachrüstungen seien technisch nur sehr eingeschränkt machbar und wirtschaftlich nicht sinnvoll. Aber ich habe den Eindruck, die Hersteller haben insgesamt den Schuss immer noch nicht gehört, wie die jüngste Rückrufaktion von Audi zeigt. Es kann nicht sein, dass es immer noch illegale Abschaltvorrichtungen an der Abgasreinigung von Dieselfahrzeugen gibt. Millionen Verbraucher sind hier die Geschädigten.

Eine rechtliche Handhabe, die Autobauer zu Nachrüstungen zu zwingen, gibt es nicht. Wie wollen Sie dennoch dafür sorgen?

Nahles: Die SPD-Bundestagsfraktion wird Druck machen. Bundesumweltministerin Svenja Schulze macht ebenfalls Tempo. Ziel sind technische Nachrüstungen auf Kosten der Hersteller. Ansonsten wird das Vertrauen der Verbraucher in den Diesel weiter schwinden. Daher braucht es jetzt politischen Druck, um die Dieselfahrer nicht im Regen stehen zu lassen und Fahrverbote zu verhindern. Die Musterfeststellungsklage ist ein wichtiges Instrument, das gerade von Ministerin Barley durch das Kabinett gebracht wurde, um den Kunden bei Manipulationen mehr Rechte zu geben. Mit dieser „Eine-für-Alle-Klage“ werden wir auch in Deutschland die Möglichkeit schaffen, dass nicht jeder Betroffene einzeln gegen die Konzerne mit ihren Topanwälten klagen muss, sondern bei Manipulationen Unterstützung erhält. In der nächsten Sitzungswoche werden wir das im Bundestag weiter auf den Weg bringen, damit es bis November im Gesetzblatt steht. Ende des Jahres verjähren die Schadensersatzansprüche gegen VW & Co., daher wird die SPD dafür sorgen, dass es zu keiner weiteren Verzögerung kommen wird!