Tagesspiegel: Herr Oppermann, nach knapp drei Jahren großer Koalition liegt die SPD nur noch bei 20 Prozent. Was machen Sie falsch?

Thomas Oppermann: Die SPD hat in der Regierung gar nichts falsch gemacht, sondern sehr gute Arbeit geleistet und damit die größten politischen Erfolge innerhalb der letzten zehn Jahre erzielt: gesetzlicher Mindestlohn, Rente nach 45 Beschäftigungsjahren, in Kürze ein Integrationsgesetz - das alles haben wir durchgesetzt und damit das Leben vieler Menschen spürbar verbessert und die soziale Marktwirtschaft gestärkt.

Wie erklären Sie sich dann das Umfragetief?

Diese Erfolge werden leider nicht automatisch der SPD zugeordnet. Trotzdem gibt es keine Alternative zu guter Arbeit in der Regierung. Gewählt wird man allerdings nicht für das, was man getan hat, sondern für das, was man für die Zukunft in Aussicht stellt. Deshalb arbeiten wir intensiv am Wahlprogramm 2017. Wir werden von den anderen Parteien klar unterscheidbar sein.

Wodurch?

Bill Clinton sagte einmal, er mache Politik für „people who work hard and play by the rules“. Das ist auch unsere Richtschnur. Die SPD muss die Schutzmacht aller Menschen sein, die hart arbeiten und sich an die Regeln halten. Wir müssen sicherstellen, dass es gerecht zugeht in Deutschland und dass die Gesellschaft zusammenhält. Dazu gehört auch eine Bildungspolitik, die Chancen für alle eröffnet. 

Die SPD als Garant sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit – liegt die tiefere Ursache für den Niedergang in den Umfragen vielleicht darin, dass die Menschen nicht mehr an dieses sozialdemokratische Ur-Versprechen glauben?

Es ist in der Tat Vertrauen verloren gegangen in die Fähigkeit des Staates, Regeln zu setzen und für Sicherheit zu sorgen. Es ist die Aufgabe der SPD, dieses Vertrauen wieder herzustellen.

Lassen Sie uns konkret werden: Kann die SPD als Partei der sozialen Gerechtigkeit im Wahlkampf auf die Forderung nach Steuererhöhungen verzichten?

Die große Koalition hat auf Steuerpolitik weitgehend verzichtet, weil Union und SPD unterschiedliche Ziele haben. Wir werden 2017 ein Steuerkonzept vorlegen, dass die Belastungen und Entlastungen neu und fair justiert. Es geht nicht an, dass Arbeit viel höher besteuert wird als Kapitaleinkünfte. Und wir werden Steuerbetrügern und Steuertricksern samt ihren Helfershelfern in Panama oder sonst wo den Kampf ansagen. Wir dürfen uns nicht scheuen, diese Länder mit harten Bandagen unter Druck zu setzen, damit sie Transparenz herstellen und Steuerbetrug bekämpfen.

Ihr Parteichef Sigmar Gabriel will die Senkung des Rentenniveaus stoppen und hat bereits einen Rentenwahlkampf ausgerufen. Was genau können Sie den Rentnern versprechen?

Es geht nicht nur um Geld, sondern auch um den Wert von Arbeit. Wer sein Leben lang arbeitet, muss am Ende eine auskömmliche Rente haben. Das ist eine zentrale Gerechtigkeitsfrage und es ist gut, dass wir sie diskutieren.

Wenn das Rentenniveau nach dem Willen Gabriels auf dem heutigen Niveau von 47 Prozent stabilisiert wird, kostet das 18 Milliarden Euro. Wie wollen Sie das finanzieren?

Unser Ziel ist es, das Sicherungsniveau im Alter zu stabilisieren. Dazu brauchen wir ein sorgfältig ausgearbeitetes Konzept. Daran arbeiten wir. Wenn es vorliegt, können wir konkrete Eckdaten nennen.

In welcher Koalition wollen Sie das denn nach der Wahl umsetzen?

Das wird sich zeigen. Mit den Grünen haben wir nach wie vor die meisten politischen Übereinstimmungen.

Das heißt, die SPD zieht ohne Koalitionsaussage in den Wahlkampf?

Wir erleben gerade einen atemberaubenden Umbruch des Parteiensystems. Ich rechne damit, dass keine Partei 2017 mit Koalitionsaussagen in die Bundestagswahl gehen wird. Die Zeiten sind vorbei. Es wird keine Partei mehr geben, die 40 Prozent holt und sich dann einen Wunschpartner aussuchen kann. Möglicherweise werden im nächsten Bundestag sechs Parteien vertreten sein.

Selbst bei 30 Prozent für die SPD würde es für Rot-Grün nicht mehr reichen. Ist Rot-Rot-Grün keine Option?

Das hängt von der weiteren Entwicklung der Linkspartei ab, die nach wie vor nicht in einem regierungsfähigen Zustand ist. Ich bin da nicht sehr optimistisch.

Also bleibt wieder die große Koalition als wahrscheinlichste Machtperspektive?

Das hängt vom Wahlergebnis ab. Lieber wäre mir eine andere Lösung. Wir dürfen nicht auf eine Art Dauerkoalition von Union und SPD zusteuern. Wir haben schon in dieser Wahlperiode gesehen, dass eine große Koalition die politischen Ränder stärkt. Das ist schlecht für die Demokratie. Politisch am interessantesten finde ich im Moment die neue Ampelkoalition in Rheinland-Pfalz. Malu Dreyer knüpft damit an sozial-liberale Erfolge an. Aber wie gesagt: mit Koalitionsaussagen in 2017 rechne ich nicht.

Ist der Aufstieg der AfD im Bund noch zu stoppen?

Das kommt darauf an, wie wir mit den Rechtspopulisten umgehen.

Was raten Sie denn?

Wir brauchen im Umgang mit der AfD vor allem Gelassenheit und einen langen Atem. Wir müssen sie immer wieder in der Sache stellen. Empörung alleine hilft nicht weiter. Nichts fürchten die Rechtspopulisten mehr als die harte Auseinandersetzung um reale politische Probleme.

Empört es Sie nicht, dass die AfD nach den Flüchtlingen nun den Islam zum Problem erklärt und behauptet, er sei unvereinbar mit dem Grundgesetz?

Natürlich ist das empörend. Wir akzeptieren nicht, dass die AfD die Muslime aus unserer Gesellschaft ausgrenzt und sie für unerwünscht erklärt. Mit dieser Hetze gegen eine religiöse Minderheit spaltet sie unsere Gesellschaft. Das muss jeder anständige Deutsche verurteilen. Gleichermaßen muss klar sein, dass radikaler politischer Islam in keiner Form mit unserer Verfassung vereinbar ist und wir mit aller Härte der Gesetze dagegen vorgehen.

Unions-Fraktionschef Volker Kauder fordert nun eine staatliche Kontrolle der Moscheen, damit dort keine Hasspredigten gehalten werden. Geht die SPD da mit?

Genau an dieser Stelle müssen wir mit Fingerspitzengefühl agieren. Die große Gruppe friedlicher Muslime in unserer Gesellschaft hat mit religiösen Hasspredigern nichts zu tun. Ich plädiere aber dafür, jene strengstens zu überwachen, die im Verdacht stehen, extremistische Positionen einzunehmen und ansonsten am Grundsatz unserer Religionsfreiheit festzuhalten

Spielt es der AfD in die Hände, dass sich die Bundesregierung in der Flüchtlingsfrage von der Türkei abhängig gemacht?

Das Abkommen mit der Türkei ist vernünftig und nützt vor allem den Flüchtlingen. Sie müssen ihr Leben nicht mehr in die Hände von kriminellen Schleppern legen. Aber es darf nicht im Ansatz der Eindruck erweckt werden, die Bundesregierung sei erpressbar.

Genau den Eindruck aber haben nun viele. Wie wollen Sie ihn zerstreuen?

Als Nato-Partner und EU-Anwärter muss es die Türkei aushalten, dass wir die massive Beeinträchtigung der Meinungs- und Pressefreiheit dort verurteilen. Bei den Grundrechten dürfen wir gegenüber der türkischen Regierung keine Zugeständnisse machen. Freiheit und Demokratie kann es ohne Pressefreiheit nicht geben.

Apropos Rücksichtnahme auf die Türkei: Wann wird der Bundestag den Völkermord an den Armeniern klar beim Namen nennen?

Der Bundestag wird am 2. Juni eine Resolution verabschieden, die die massenhafte Ermordung und Vertreibung von Armeniern im Ersten Weltkrieg klar als Völkermord bezeichnet.

Haben Sie keine Angst, dass die Türkei heftig auf diesen Beschluss reagieren wird?

Es war schon ein Fehler, dass die Bundeskanzlerin gegen den Widerstand der SPD die Ermächtigung für ein Strafverfahren gegen Herrn Böhmermann erteilt hat. Schon deshalb darf Deutschland nun beim Antrag zum Völkermord in Armenien keine falsche Rücksicht nehmen.

Herr Oppermann, Sie gelten als einer der letzten verlässlichen Stützen von Parteichef Sigmar Gabriel. Warum sind so viele in der SPD von ihm enttäuscht?

Sigmar Gabriel hat in den vergangenen Jahren Enormes für die SPD geleistet. Er hat uns aus einer schweren Wahlniederlage zurück in die Regierung geführt. Mit dem Mitgliederentscheid zum Koalitionsvertrag ist ihm ein politisches Meisterstück gelungen. Auf dieser Grundlage haben wir in den letzten zwei Jahren in der Regierung sehr viel erreicht. Deshalb glaube ich auch, dass Sigmar Gabriel die SPD für die Bundestagswahl in eineinhalb Jahren gut aufstellen wird.

Kann er noch Kanzlerkandidat werden?

Selbstverständlich. In der SPD hat der Parteivorsitzende den ersten Zugriff.