Herr Oppermann, gehen Sie mit Ihrer Familie in diesem Jahr auf den Weihnachtsmarkt?
Natürlich! Wir dürfen jetzt nicht in Angststarre verfallen. In Paris ist Schreckliches passiert. Aber wir werden den Terroristen nicht einen Erfolg geben, indem wir unser Leben ändern. Und – so hart es klingt – objektiv ist die Wahrscheinlichkeit, dass man in Europa bei einem Verkehrsunfall zu Schaden kommt, viel höher als die Wahrscheinlichkeit, Opfer eines Terrorangriffs zu werden.
Was sagen Sie den Menschen, die trotzdem Angst haben?
Unser Staat trifft alle notwendigen Vorkehrungen, um seine Bürger vor Terroranschlägen zu schützen. In einer freiheitlichen Gesellschaft gibt es keine hundertprozentige Sicherheit. Aber unsere Sicherheitskräfte wissen, wo Gefahren drohen und sorgen für Schutz.
Schärfere Sicherheitsgesetze sind nicht notwendig?
Wir haben bereits scharfe Gesetze. Die Koalition hat erst vor wenigen Wochen das Gesetz zur Vorratsdatenspeicherung beschlossen, wir haben die Antiterrorgesetze verlängert. Nach dem 11. September 2001 haben wir ein Antiterrorzentrum geschaffen, in dem Polizeibehörden und Geheimdienste zusammenarbeiten. Unsere Sicherheitsarchitektur funktioniert. Auch deshalb sind wir bisher von einem Anschlag verschont geblieben. Und natürlich haben wir auch Glück gehabt.
Die EU-Innenminister haben jetzt schärfere Maßnahmen auf den Weg gebracht: EU-Bürger sollen an der Außengrenze wieder polizeilich überprüft werden. Außerdem ist ein erweiterter Austausch von Fluggastdaten geplant. Trägt die SPD das mit?
Es kommt auf die Ausgestaltung an. Ich halte bessere Kontrollen an den EU-Außengrenzen für richtig – und zwar auch für EU-Bürger. Die Sicherheitsbehörden müssen wissen, wenn jemand nach Syrien fährt oder wieder von dort hierhin zurückkehrt. Daher müssen wir dafür sorgen, dass zwischen den europäischen Sicherheitsbehörden ein wirksamerer Informationsaustausch erfolgt.
Finanzminister Wolfgang Schäuble will nun die Bundeswehr zur Terrorabwehr im Inneren einsetzen...
Das ist für die SPD indiskutabel. Mit guten Gründen gilt in Deutschland die Trennung der Aufgaben von Polizei und Bundeswehr. Bei Herrn Schäuble kann man inzwischen die Uhr danach stellen, wann der nächste Aufreger kommt. Erst vergleicht er die Flüchtlinge mit einer Lawine, nun ruft er nach der Bundeswehr. Wir brauchen keine Militarisierung der inneren Sicherheit. Wenn Herrn Schäuble ein schlechtes Gewissen plagt, weil in Deutschland in den vergangenen Jahren zu viele Stellen bei der Polizei abgebaut worden sind, hat er als Finanzminister jede Möglichkeit, gegenzusteuern.
Brauchen die Sicherheitsbehörden mehr Personal?
Ja. Wir haben noch vor den Anschlägen von Paris den Haushalt des Innenministers um eine Milliarde Euro erhöht. Auf Initiative der SPD wurden 3000 zusätzliche Stellen für die Bundespolizei geschaffen, das Bundeskriminalamt wird ebenfalls besser ausgestattet. Auch Verfassungsschutz und BND haben wir deutlich verstärkt. Wir wollen damit der besonderen Bedrohung begegnen, die derzeit von Rechtsextremen und radikalen Islamisten ausgeht. Vor allem die strenge Überwachung der rund 400 hochgefährlichen islamistischen Extremisten in Deutschland erfordert viel Personal. Deshalb müssen wir unsere Sicherheitsbehörden weiter systematisch stärken. Sicherheit darf keine Frage des Geldes sein. Hier ist der Staat gegenüber seinen Bürgern in der Pflicht.
Befindet sich Deutschland im Krieg, wie Bundespräsident Joachim Gauck nahelegt?
So hat er das sicher nicht gemeint. Von Krieg zu reden, verleitet zu der falschen Vorstellung, der IS wäre mit militärischen Mitteln allein zu besiegen. Wenn wir diesen Kampf gewinnen wollen, brauchen wir zunächst eine politische Einigung über die Zukunft Syriens, an der die Regionalmächte sowie USA und Russland beteiligt sind. Die Chancen dazu stehen mit der Wiener Syrien-Konferenz so gut wie seit Jahren nicht mehr. Frank-Walter Steinmeier hat da viel erreicht.
Paris hat auch Deutschland um militärischen Beistand gebeten. Wie weit wird diese Hilfe gehen?
Wir stehen auch beim Kampf gegen den IS fest an der Seite Frankreichs. Deswegen haben wir die kurdischen Peschmerga im Kampf gegen den IS mit Waffenlieferungen und Ausbildungshilfe unterstützt, mit großem Erfolg. Die Bundeswehr hilft bei der Ausbildungsmission in Mali. Möglicherweise müssen wir beide Missionen intensivieren.
Die Geiselnahme am Freitag hat gezeigt, wie instabil die Lage in Mali ist. Steht die Bundeswehr dort vor einem Kampfeinsatz?
Nein. Im Rahmen der UN-Mission in Mali prüfen wir jedoch eine erweiterte Unterstützung unserer Partner im Bereich der militärischen Aufklärung. Klar ist, dass der Schutz der Soldaten in Mali gewährleistet sein muss. Die Verteidigungsministerin sollte hierzu jetzt Vorschläge machen.
Wenn es in Syrien zu einer Verständigung kommt, wird eine UN-Militärmission Stabilität schaffen müssen. Wäre die Bundeswehr dabei?
Von einem Kampfeinsatz in Syrien halte ich nichts. Dies wird auch nicht bei der UNO diskutiert. Der Schwerpunkt der internationalen Bemühungen liegt auf dem politischen Prozess. Hier gibt es seit der letzten Verhandlungsrunde in Wien hoffnungsvolle Signale. Das ist das Verdienst von Frank-Walter Steinmeier.
Nach den Anschlägen von Paris sehen viele in ungesicherten Grenzen und unregistrierten Flüchtlingen eine Gefahr – zu Recht?
Nein. Flüchtlinge fliehen doch vor dem Islamischen Staat. Natürlich kann niemand ausschließen, dass sich auch ein Terrorist oder Kriminelle unter die Flüchtlinge mischen. Allerdings haben Terroristen ganz andere Möglichkeiten, nach Deutschland zu kommen. Wer Flüchtlingen eine Verantwortung für den Terror zuschieben will, macht aus Opfern Täter. Unabhängig davon brauchen wir bessere Kontrollen und mehr Ordnung an unseren Grenzen. Dass immer noch Tausende völlig unregistriert einreisen können, ist ein Zustand, mit dem wir uns nicht abfinden können.
Auch die SPD will nun Kontingente für Flüchtlinge festlegen und sie direkt nach Deutschland holen. Lässt sich der Zustrom von Flüchtlingen so bereits an der EU-Außengrenze begrenzen?
Eine Kontingentlösung trägt dazu bei, die Aufnahme von Flüchtlingen wieder unter staatliche Kontrolle zu bringen und die Schleuserbanden auszuschalten. Wir wollen keine Grenzzäune zwischen Deutschland und Österreich. Wir wollen die Reisefreiheit verteidigen, weil sie eine der größten Vorzüge des vereinten Europas für die Menschen ist. Diese Freiheit können wir aber nur erhalten, wenn wir sichere EU-Außengrenzen haben, die eine unkontrollierte Einwanderung verhindern.
Es geht also um Begrenzung?
Nein. Es geht um Integration. Mehr als eine Million Flüchtlinge pro Jahr kann auch ein Land wie Deutschland auf Dauer kaum integrieren, es geht ja nicht um bloße Unterbringung und Versorgung. Aber mit Kontingenten werden wir dennoch mehr Flüchtlinge aufnehmen als in der Vergangenheit.
Wie viele mehr?
Das hängt von den konkreten Umständen ab. Auch hier macht es keinen Sinn, über Obergrenzen zu diskutieren. Die helfen nämlich nicht, die Zahl der Flüchtlinge zu reduzieren. Das geht nur über eine aktive Politik in den Krisenregionen. Der Streit zwischen CDU und CSU ist daher komplett überflüssig. Die Schwestern sollten jetzt mal aufhören zu zanken. Wir haben wirklich wichtigeres zu tun.
Sigmar Gabriel sagt: 500.000 Flüchtlinge pro Jahr könne Deutschland integrieren, wenn alles geregelt abläuft. Ist das die Dimension?
Das kann man nicht ein für alle mal festlegen. Der Deutsche Bundestag sollte in Abstimmung mit der Europäischen Union und dem UNHCR jedes Jahr aufs Neue über die Größe der Kontingente von Flüchtlingen entscheiden, die wir aufnehmen können. Dabei sollten wir immer im Auge behalten, wie viele Menschen wir integrieren können und wie gut unsere Integrationsmaßnahmen sind. Wenn wir die Integration nicht schaffen, kriegen wir große Probleme. Deshalb wird die SPD in Kürze ein kluges Integrationskonzept vorlegen. Alle Fehler, die wir in den 60er und 70er Jahren gemacht haben, müssen wir jetzt vermeiden. Deshalb sagen wir: Von Anfang an volle Konzentration auf Sprache, Kitas, Ausbildungsplätze, Arbeit, Regeln und Werte. Das sind die Grundvoraussetzungen für Integration. Da müssen wir klotzen statt kleckern.
Schränkt die Kontingent-Lösung nicht das Asylrecht ein?
Nein. Artikel 16a des Grundgesetzes wird nicht angetastet. Politisch Verfolgte genießen Asyl in Deutschland.
Wie wichtig ist eine Begrenzung des Zuzugs für den inneren Frieden in Deutschland?
Ich empfehle einen Blick nach Schweden, weltweites Vorbild für eine liberale, großzügige und hilfsbereite Haltung gegenüber Flüchtlingen und Einwanderern. Das Land nimmt in diesem Jahr 200.000 Flüchtlinge auf. Das entspräche 1,6 Millionen in Deutschland. Jetzt sagen alle politischen Kräfte in Schweden: Damit sind unsere Möglichkeiten erschöpft. Das Land hat Grenzkontrollen eingeführt und trotzdem geben sich die Schweden alle Mühe, Flüchtlinge gut zu behandeln und zu integrieren.
Ein Beispiel für Deutschland?
Der Realismus, mit dem die Politik in Schweden auf diese Situation reagiert, würde uns sicher gut tun. Alle sind sich dort einig, dass mit internationalen, europäischen und nationalen Schritten die Zahl der Flüchtlinge reduziert werden muss. Diese Nüchternheit wünsche ich mir auch bei uns. Unsere Diskussion wird sehr emotional geführt. Die einen jubeln den Flüchtlingen am Münchener Hauptbahnhof zu, andere haben Angst, dass sie abgehängt werden. Wir müssen eine Spaltung der Gesellschaft verhindern. Das geht nur mit einer offenen und ernsthaften Diskussion. Panikmache ist dabei ebenso fehl am Platz wie die Tabuisierung von Ängsten. Das ist die wahre Bewährungsprobe für unser demokratisches System.
Das Interview wurde am 19. November 2015 geführt und erschien am 22. November 2015 im Berliner "Tagesspiegel am Sonntag".