WELT: Herr Mützenich, zwischen den ehemaligen Bundestagsfraktionschefs von Union und SPD, Volker Kauder und Peter Struck, gab es einen engen Austausch. Die beiden hatten ihre Büros mit einer geheimen Treppe verbunden. Gibt es diese Treppe noch?

Rolf Mützenich: Die gibt es noch. Und die ist auch sehr sinnvoll, weil wir uns in den Koalitionsfraktionen eng austauschen. Wir treffen uns jeden Dienstagmorgen zu einem Abgleich über die jeweilige Sitzungswoche. Die Treppe hat wenige Stufen, von daher sind wir relativ schnell beieinander. Das ist aber keine Geheimtreppe. Jeder im Haus kann die begehen.

Das Vertrauensverhältnis zwischen Ihnen und Ralph Brinkhaus ist also intakt?

Wir können belastbare Verabredungen treffen. Schließlich sind die Fraktionen die tragenden Säulen der Regierungskoalition.

Die große Koalition hat jetzt eine Bilanz vorgelegt, 84 Seiten, viel Prosa, viel politische Rhetorik. Geben Sie der Halbzeitbilanz der großen Koalition doch einmal eine Schulnote.

Ich bin nicht gut darin, Schulnoten zu verteilen. Denn es ja eine ganze Mannschaft, die da auf dem Platz steht. Deswegen vergibt man ja nicht an einzelne eine Beurteilung, sondern dem Gesamtbild. Und das Gesamtbild auf diesen vielen Seiten zeigt, dass sowohl die Regierung, aber auch die Koalitionsfraktionen gut gearbeitet haben. Die Richtungsschnur ist der Koalitionsvertrag und davon haben wir eine Menge auf den Weg gebracht. Ich will auch darauf hinweisen, dass eben nicht nur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik für uns Sozialdemokraten wichtig ist. Wir wollen den Rechtsstaat gestalten, wir wollen aber auch in der internationalen Politik und bei der Klimapolitik etwas erreichen. Wenn man die Bilanz wirklich liest und zur Kenntnis nehmen will, dann wird es einen überzeugen.

Also soll noch zwei Jahre weiter regiert werden?

Erst einmal ist es eine Bestandsaufnahme, die Grundlage für die Diskussion in meiner Partei ist. Das entscheidet nicht die Fraktion, das entscheidet nicht die Regierung. Die Partei hat damals über den Koalitionsvertrag verhandelt und beschlossen. Und warum wir überhaupt zu der Bestandsaufnahme gekommen sind, hat ja etwas mit den Erfahrungen der früheren großen Koalition zu tun. Da waren wir auch relativ erfolgreich. Wir wollten uns dieses Mal aber vergewissern, dass wir die Verabredungen auch auf der weiteren Strecke umsetzen. Und dass das auch für Projekte gilt, die uns am Herzen liegen. Wir wollen – neben vielen anderen Dingen – zum Beispiel über die sachgrundlose Befristungen reden und entscheiden.

Gute-Kita-Gesetz, mehr Kindergeld, Wohnungsbau: In den vergangenen Jahren hat die Regierung viel sozialdemokratische Programmatik umgesetzt. Warum hat Schwarz-Rot dann so ein schlechtes Erscheinungsbild?

Das Bild ist schlechter als die Realität. Insgesamt ist das Klima gut. Im Kabinett gibt es, zumindest höre ich das, ich bin ja nicht dabei, durchaus ein gutes Einvernehmen. Es gibt immer wieder den Versuch, über Wege und Brücken letztlich zu gehen und zueinanderzufinden.

Warum dann zum Beispiel der Streit zwischen Außenminister Heiko Maas und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer?

Die Auseinandersetzungen zwischen der Verteidigungsministerin und dem Außenminister haben in erster Linie etwas damit zu tun, dass wir im letzten Koalitionsausschuss über Außenpolitik reden und ein paar Stunden später öffentlich einen Vorschlag dazu von ihr lesen, den sie in der Diskussion hätte ansprechen können und müssen.  Da braucht man auch nicht drum herumzureden. Aber auf der anderen Seite, das sind beides Saarländer, die kommen schon zurecht.

Bundesfinanzminister Olaf Scholz hat seinen Vorstoß zur Einlagensicherung ja auch nicht im Koalitionsausschuss bekannt gegeben. Manchmal scheint man sich ja auch mit Alleingängen profilieren zu wollen.

Was Herr Scholz vorgeschlagen hat, ist ja keine Kehrtwende, sondern ein Bekenntnis, das unter bestimmten Bedingungen auf Europäischen Räten mit Zustimmung der Bundeskanzlerin schon mehrfach beschlossen wurde. Es geht jetzt darum, wie wir dieses Bekenntnis einlösen können, wenn diese Bedingungen erfüllt sind. Da ist es die Aufgabe des Finanzministers, im Konzert mit seinen europäischen Kollegen zu überlegen, wie er auch in diesem Feld mit neuen Ideen vorankommt. Ich habe auch kaum  Kritik wahrgenommen. Und das wir Europa stärken müssen, in unserem eigenen Interesse, darin sind wir uns einig.

Kann es sein, dass die Grundproblematik in den Gerhard-Schröder-Jahren entstanden ist, weil dort eine Agenda 2010, aber nicht ein Mindestlohn eingeführt wurde?

Eine der Schwächen der damaligen Diskussion war, dass es große Erwartungen an eine Hauruck-Rede gab, mit der ein ganz neuer Kurs eingeschlagen werden müsse. Ich glaube, um Gesellschaften zusammen zu halten, braucht es auch eine Diskussion über den richtigen Weg. Ich habe das auch damals angesprochen, und da wurde mir gesagt: Nein, wir brauchen das, wir müssen überraschen. Wichtig ist aber, dabei  alle mitzunehmen. Der Bruch mit den Gewerkschaften hat gezeigt, dass eine gewisse Vorarbeit doch notwendig gewesen wäre.

Was ist eigentlich noch in der Europapolitik zu erwarten? Das Thema wurde im Koalitionsvertrag ja ganz nach vorne gehandelt.

Es gibt die deutsche Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte des kommenden Jahres …

… wo vor allen Dingen die Kanzlerin im Fokus stehen wird …

… öffentlich schon. Aber inhaltlich wollen wir Sozialdemokraten das Programm der Regierung prägen. Wir definieren Europa nicht nur als Binnenmarkt und den freien Warenverkehr. Wir wollen über eine Angleichung der Mindestlöhne faire Bedingungen und Mindeststandards für den Wettbewerb schaffen. Denn wir wollen ein sozialeres Europa bauen. 

Ich finde, Europa muss beweisen, auch in der Ratspräsidentschaft von Deutschland, dass es in der Lage ist, eine gemeinsame europäische Flüchtlingspolitik und Fortschritte für ein europäisches Sozialrecht zu erreichen. Damit schaffen wir einen Mehrwert für den Einzelnen und für Europa als Ganzes. Die Kanzlerin wird sicher öffentlich auftreten. Aber auch die SPD wird mit unseren Ministern präsent sein und unsere Themen in der Europäischen Union verankern. Ich hoffe dabei auch auf das Europäische Parlament als Treiber und Verbündeten.