Die SPD-Bundestagsfraktion, die Auslandsgesellschaft Deutschland e. V. und die Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung (ZfTI) hatten an diesem Mittwoch zu einer kontroversen Diskussion in den Otto-Wels-Saal im Reichstagsgebäude eingeladen. Als Hauptredner zum Thema „Türkei: Ordnungsmacht zwischen Verantwortung und Selbstüberschätzung“ war der Leiter der ZEIT-Redaktion für den Mittleren und Nahen Osten, Michael Thumann, eingeladen. Daneben sprachen Johannes Kahrs, Vorsitzender der deutsch-türkischen Parlamentariergruppe, Wolfgang Kuschke, NRW-Europaminister a. D. und Vorsitzender des ZfTI Essen, Gernot Erler, Stellvertretender Vorsitzender der SPD-Fraktion, ,  sowie Prof. Dr. Haci Halil Uslucan, wissenschaftlicher Direktor des ZfTI.

Vor einem großen Publikum begrüßte Johannes Kahrs die anwesenden Gäste. Die Beziehungen der EU und Deutschlands mit der Türkei hätten sich in den letzten drei Jahren grundsätzlich verändert. Die Türkei habe sich weg von Europa orientiert, da gerade Deutschland und Frankreich den Beitritt blockiert hätten. Selbst Helmut Kohl sei in dieser Frage  fortschrittlicher gewesen als Bundeskanzlerin Merkel. Um wieder mehr Einfluss auf die teilweise problematische Menschenrechtssituation in der Türkei ausüben zu können, müsse man, so Kahrs, „aufzeigen, dass es eine Perspektive gibt.“

Wolfgang Kuschke betonte, die Grundlage der Arbeit des ZfTI sei die Frage: „Wie können wir als Staaten und Bürger von einander lernen?“ Deshalb sei es so wichtig, in ständigem Austausch die Zivilgesellschaft zu aktivieren und die gemeinschaftlichen Bemühungen in den Ländern zusammenzuführen.

Die Außenpolitik der Türkei, der Syrienkonflikt und der Arabische Frühling und die engen kulturellen wie wirtschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei waren die Themen des Impulsreferats von Gernot Erler. Das Vorgehen der Türkei habe sich von einer „Null-Problem-Politik“ zu einem außenpolitischen Aktionismus gewandelt. „Heute gehen wir von einem völlig anderen Selbstbewusstsein aus“, fasste Erler die heutige Situation zusammen.

Dieser Meinung schloss sich Michael Thurmann an. Die Türkei handle nicht aus ideologisch-religiösen Motiven, sondern aus nationalen und wirtschaftlichen Interessen. Anhand des Syrienkonflikts zeige sich, dass ein neuer „Kalter Krieg“ im Nahen und Mittleren Osten ausgebrochen sei, mit der Türkei und dem Iran im Zentrum. Dabei stütze sich der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan auf pragmatische Koalitionen, um seinen Einfluss in der Region zu vergrößern. Ob sich aber die Türkei als Regionalmacht etablieren wird, machte Thurmann von der raschen Lösung innenpolitischer Probleme abhängig.

Die Türkei befinde sich mitten in einer Phase der Neuorientierung. Nachdem sich die Beitrittsverhandlungen mit der EU verzögert hätten, orientiere sich das Land verstärkt in Richtung des Nahen und Mittleren Osten. Insbesondere während des „Arabischen Frühlings“ und im Syrienkonflikt übernehme die Türkei eine führende Rolle. Erdogan habe  frühzeitig versucht, das islamisch geprägte System zu exportieren und seiner Regierungspartei AKP nahe stehenden Parteien wie die Muslimbrüder zu fördern. Gleichzeitig versuche die Türkei, sich weiter in der Nato zu profilieren. Gerade durch die Aufstellung der Patriot-Raketen habe die Türkei ihre enge Einbindung und Partnerschaft mit seinen westlichen Verbündeten bewiesen, sagte Thumann.

Im Anschluss an den Vortrag von Michael Thumann wurde angeregt mit dem Publikum diskutiert. In vielen Beiträgen und Fragen an das Podium wurden auch innenpolitische Aspekte näher beleuchtet. Unter anderem ging es dabei auch um das Verhältnis der Regierung zur kurdischen Arbeiterpartei PKK und deren Vorsitzenden Abdullah Öcalan, der seit 1999 auf einer Gefangeneninsel inhaftiert ist. Zu diesem innenpolitischen Konflikt, der durch die Nähe der PKK zu Syrien auch außenpolitische Wirkung hat, stellte Thumann fest, dass eine Einigung zwischen Regierung und PKK nicht unmittelbar bevorstehe. „Was die PKK will, unterscheidet sich noch stark von dem, was Ankara zu geben bereit ist“, sagte Thumann.

Das Schlusswort hatte Professor Uslucan, wissenschaftlicher Direktor des ZfTI. Er freue sich, dass das Interesse über die Türkei so groß sei und forderte angesichts dieses großen Bedürfnisses, dass der Wissensbedarf zukünftig noch stärker systematisiert werden solle. Unter anderem auch durch das ZfTI, aber auch durch Forschungseinrichtungen in der Türkei. Einen Fokus legte er dabei auf die Integrationsforschung, die auch eine zunehmend wichtige Rolle in der Türkei spiele. Schließlich sei auch die Türkei ein Einwanderungsland. Von einer wissenschaftlichen Allianz zwischen Deutschland und der Türkei profitierten beide Seiten.