Lars Klingbeil redete am 30. März 2012 im Deutschen Bundestag zu den Wachstumspotenzialen der Digitalen Wirtschaft.

Sehr geehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Wir sind uns einig: Die digitale Wirtschaft in Deutschland ist ein bedeutender Wachstumsmotor. Sie ist Treiber für Innovationen, und die Digitalisierung unserer Gesellschaft ist Taktgeber für den Wandel von Wirtschaft und Wissenschaft. Deswegen ist es richtig, dass wir heute Morgen zur Kernzeit die Gelegenheit haben, über ein solch wichtiges Thema zu diskutieren. Es ist richtig, dass das Thema heute im Deutschen Bundestag auf der Tagesordnung steht.

 

 

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Genauso richtig ist aber auch, dass der Antrag, der von CDU/CSU und FDP vorgelegt wurde, meilenweit hinter den notwendigen Antworten zurückbleibt, die wir bräuchten, um die digitale Wirtschaft in Deutschland zu gestalten. Sie sind hier viele Antworten schuldig geblieben. Der Antrag beinhaltet in weiten Teilen eine ordentliche Analyse – das will ich zugestehen –, aber wenn es am Ende um die konkreten Forderungen geht, dann reihen Sie Schlagwörter aneinander. An dieser Stelle wird deutlich: Sie haben keine Richtung, Sie haben keine Substanz, und Sie geben keine Impulse.

(Beifall bei der SPD)

Ich will ein Beispiel aus Ihrem Antrag nennen. Dort geht es um eine der vielleicht drängendsten Fragen, über die wir gerade im Bereich der digitalen Wirtschaft diskutieren: das Urheberrecht. In Ihrem Antrag steht:

Der Deutsche Bundestag fordert die Bundesregierung auf, … die Regelungen zum Datenschutz und Urheberrecht an die Bedingungen des Internets und der Digitalisierung fortlaufend anzupassen.

Mehr nicht. Man findet keine Stellungnahme, wie es hinsichtlich ACTA weitergehen soll, keine Stellungnahme zum Leistungsschutzrecht und keine Position zum Dritten Korb. Das reicht nicht, um ein Thema voranzubringen. Wenn Sie ein Thema voranbringen wollen, dann müssen Sie den Mut haben, Stellung zu beziehen. Dann brauchen Sie Mut für klare Konzepte. Diese fehlen in Ihrem Antrag.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN)

Wenn es darum gegangen wäre, ein Thema parlamentarisch voranzubringen, dann hätte ich mir gewünscht, dass Sie Ausschussberatungen zu diesem Antrag zugelassen
hätten.

(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das wäre gut gewesen!)

Wir haben den Antrag am Dienstagabend bekommen. Er wird nicht in den Ausschüssen beraten. Ich frage mich, warum CDU/CSU und FDP nicht auf die Expertise der Enquete-Kommission zurückgreifen.

(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das haben wir uns auch gefragt! – Zuruf
von der CDU/CSU: Doch!)

Die Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ tagt gerade, beispielsweise im Rahmen der Projektgruppe „Wirtschaft, Arbeit, Green IT“. Wir haben teure Gutachten in Auftrag gegeben, beispielsweise zu der Frage: Wie können wir Venture Capital in Deutschland stärken? Diese Gutachten liegen noch nicht vor. Stattdessen wird hier ein Antrag vorgelegt, der nach einer Schaufensterdebatte verabschiedet wird.

(Tabea Rößner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Das ist Wahlkampf!)

Hier soll ein Thema besetzt werden. Das ist nichts anderes als Wahlkampf.

(Beifall bei der SPD – Halina Wawzyniak [DIE LINKE]: Aber schlechter Wahlkampf! –
Klaus Barthel [SPD]: Schlechter Wahlkampf! – Dr. Georg Nüßlein [CDU/CSU]: Wer Wahlkampf gemacht hat, lieber Kollege, das haben wir gesehen!)

Wenn es allerdings darum geht – das scheint hier ja der Fall zu sein –, dass dieser Antrag ein schwarz-gelber Hilferuf ist, dass diese Regierung endlich etwas tun soll,
dann haben Sie mich und uns an Ihrer Seite.

(Lachen des Abg. Dr. Martin Lindner [Berlin] [FDP])

In der Rede des Ministers heute Morgen ist deutlich geworden, dass es zwar viele blumige Absichten gibt, dass aber zweieinhalb Jahre nichts passiert ist. Herr Rösler, ich will Ihnen klar sagen: Digitale Wirtschaftspolitik kann nicht nur darin bestehen, dass man einmal im Jahr den IT-Gipfel oder die CeBIT eröffnet. Sie müssen endlich anfangen, zu arbeiten.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Liebe Kolleginnen und Kollegen, Netzpolitik muss umfassende und moderne Gesellschaftspolitik sein. Dafür müssen wir auch politisch die richtigen Rahmenbedingungen schaffen. Ich will an ein paar Punkten skizzieren, was das für uns bedeutet.

Erster Punkt. Grundlage für den digitalen Wandel, für Wachstum und für Arbeitsplätze muss die Überwindung der digitalen Spaltung sein. Das muss zuallererst bedeuten, dass die Menschen Zugang zum Internet haben und an den Prozessen der Digitalisierung teilhaben können. Wir müssen dafür sorgen, dass der Zugang zum Internet heute als Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge betrachtet wird. Wer keinen Zugang zum Netz hat, ist von sozialer, gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Teilhabe abgehängt. Wir brauchen in Deutschland endlich ein Recht auf Netz, liebe Kolleginnen und Kollegen.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)

Die Bundesregierung wird die Ziele ihrer Breitbandstrategie verfehlen. In meinem Wahlkreis, der im ländlichen Raum liegt, müssen die Kommunen und der Landkreis anfangen, den Breitbandausbau zu finanzieren, weil Land und Bund es nicht hinbekommen. Das belastet die kommunalen Haushalte. Der Druck der Bürgerinnen
und Bürger, aber auch der Unternehmen ist allerdings so groß, dass dort etwas passieren muss.

Ich will Ihnen sagen: Ich bin es leid, dass wir jedes halbe Jahr hier im Deutschen Bundestag darüber diskutieren, wie der Breitbandausbau gelingen kann, und dass wir dann immer wieder die ideologische Marktgläubigkeit der Regierung zu hören bekommen. Wenn der Markt es nicht gebacken bekommt, dann brauchen wir staatliche Lösungen, die garantieren, dass die Forderung, dass alle Menschen ein Recht auf Netz haben sollen, umgesetzt werden kann. Wir wollen an der Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse festhalten. Wir wollen allen Menschen Zugang und Teilhabe ermöglichen. Deswegen brauchen wir in Deutschland einen Universaldienst.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN – Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/ DIE GRÜNEN]: Genau! Das ist nämlich keine
Debatte von gestern, sondern eine Debatte von morgen!)

Wenn wir einen Zugang für alle schaffen, dann hat das auch Folgen für die Wirtschaft. Dann können sich nämlich Portale, Dienste und Unternehmen breitmachen und neue Geschäftsideen entwickeln. Dann zahlt es sich auch aus wirtschaftlicher Perspektive aus, einen Universaldienst zu schaffen.

Der zweite Punkt, den ich nennen will. Wir brauchen eine gesetzliche Verankerung der Netzneutralität. Netzneutralität war und ist ein entscheidender Faktor für den Erfolg der Internetwirtschaft. Sie sichert die Offenheit und Kreativität des Netzes; das schafft internationale Wettbewerbsfähigkeit. Aber die Netzneutralität sichert auch Meinungsfreiheit und Meinungsvielfalt. Der Siegeszug des Internets und vieler IT-Dienste wäre ohne ein offenes und neutrales Netz nicht möglich gewesen. Wir haben, ähnlich wie die anderen Oppositionsparteien, schon im Rahmen der TKG-Novelle gefordert, die Netzneutralität gesetzlich zu verankern. Wir haben uns schon damals gewundert, dass Sie auch hier auf das freie Spiel der Kräfte setzen und die Offenheit des Netzes nicht festschreiben wollen. Das ist ein großer Fehler. Ich sage Ihnen: Wir werden die gesetzliche Verankerung der Netzneutralität in Deutschland weiter fordern.

(Beifall bei Abgeordneten der SPD und der LINKEN)

Dritter Punkt, den ich ansprechen will. Wir brauchen die Förderung digitaler Kompetenz und digitaler Selbstständigkeit. Denn nichts ist für die Internetwirtschaft so wichtig wie gut ausgebildete Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Sie sind Garant für Kreativität und Wachstum in Deutschland im digitalen Zeitalter. Das bedingt einen radikalen Wandel von Schule, Ausbildung und Universitäten. Dabei geht es um die Vermittlung neuer Kompetenzen, um die Vermittlung technischer und digitaler Kompetenzen. Der Laptop muss zur Werkbank des 21. Jahrhunderts werden. Damit müssen sich auch unsere Bildungsstrukturen verändern.

Ich will auf die Beschlüsse der Enquete-Kommission „Internet und digitale Gesellschaft“ hinweisen. Sie hat gesagt: Jeder Schüler, jede Schülerin in Deutschland braucht ein Tablet oder ein Laptop. Sie hat auch gesagt:

Wir müssen die Lehrerausbildung komplett verändern. Die Enquete-Kommission hat außerdem Beschlüsse zur Digitalisierung der Bildungsmaterialien und zur Stärkung der naturwissenschaftlichen und technischen Studiengänge gefasst. All diese Schritte müssen erfolgen. All diese Schritte stehen aber nicht in Ihrem Antrag. Obwohl der Fachkräftemangel schon heute evident ist, haben Sie an dieser Stelle nichts getan.

(Beifall bei der SPD)

Das bringt mich zu meinem vierten Punkt. Die digitale Gründerkultur ist heute schon oft angesprochen worden. Ja, wir brauchen in Deutschland ein positives Umfeld für Gründungen. Wir müssen dafür sorgen, dass die digitale Kompetenz gestärkt wird; dazu habe ich gerade etwas gesagt. Wir müssen Cluster an Universitäten auch staatlich fördern und dafür sorgen, dass kreative Juristen und Betriebswirtschaftler an Universitäten frühzeitig zusammenkommen und ermutigt werden, ihre kreativen Ideen und Konzepte umzusetzen. Das ist die Erfolgsgeschichte von Gründungsmythen, die wir in anderen Staaten erlebt haben.

Wir brauchen eine ordentliche Finanzierung von Gründungen. Hier reichen die bisherigen Strukturen für Wagniskapital in Deutschland nicht aus, hier muss mehr passieren. Es müssen passgenaue und vor allem unbürokratische Finanzierungen zur Verfügung stehen.

Es geht auch um die steuerliche Forschungsförderung. Ich wundere mich schon, dass hier zwar Einigkeit darüber besteht, dass wir sie eigentlich bräuchten, dass dann aber gesagt wird: Dafür haben wir kein Geld. Liebe Kolleginnen und Kollegen von der Regierungsseite, ich mache Ihnen einen Vorschlag: Verzichten Sie auf das schwachsinnige Betreuungsgeld. Dann haben wir auch Geld für die steuerliche Forschungsförderung. Das wäre ein großartiger Schritt für die Internetwirtschaft in Deutschland.

(Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE
GRÜNEN)

Zur anderen Kultur gehört auch, dass wir das Scheitern anerkennen. Wir waren neulich mit dem Unterausschuss „Neue Medien“ in den USA. Dort wurde uns gesagt: Wenn du zwei-, dreimal mit einer Unternehmensgründung gescheitert bist, dann wissen wir, du bist vernünftig ausgebildet. Beim vierten oder fünften Mal klappt es dann. – Wenn man hier in Deutschland einmal mit einer Unternehmensgründung gescheitert ist, dann kommt man kaum noch auf die Beine. Auch hier können wir in Bezug auf das gesellschaftliche Klima für Gründungen noch viel nachholen.

Der letzte Punkt, den ich ansprechen will, ist die Rolle des Staates. Der Staat muss Treiber von Innovationen sein. Bei der Energiewende und bei Veränderungen in den Bereichen Bildung, Gesundheit, Verkehr und Verwaltung ist der Staat in der Pflicht, Treiber von Innovationen und Veränderungen zu sein. Herr Rösler, hierzu haben Sie leider nichts gesagt. Ich hätte mir gewünscht, dass Sie heute Morgen einige Sätze dazu gesagt hätten, dass der Staat seiner Verantwortung als Nachfrager gerecht wird.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, bei aller Wichtigkeit dieses Themas kann ich nur feststellen: Mit den Forderungen in Ihrem Antrag bleiben Sie weit hinter den Erwartungen und auch hinter den Debatten zurück, die wir im Deutschen Bundestag, beispielsweise in der Enquete-Kommission, führen. Ich hätte mir gewünscht, dass hier heute Morgen mehr als eine Schaufensterdebatte stattfindet und dass ein wirklicher Impuls für digitale Wirtschaftspolitik aus der Mitte des Parlaments kommt. Leider hat es nicht geklappt. Vielleicht wird es mit der nächsten Regierung besser.

Herzlichen Dank fürs Zuhören.

(Beifall bei der SPD sowie der Abg. Kerstin Andreae [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])