Kanada hat etwas, das wir – noch – nicht haben. Mit seiner aktiven Einwanderungspolitik zieht das Land schon seit Jahrzehnten viele Fachkräfte aus der ganzen Welt an. Bezogen auf die Einwohnerzahl ist Kanada das Land mit der höchsten Zuwanderung von Arbeits- und Fachkräften weltweit. Fachkräfte, die auch Deutschland dringend braucht: in Kitas, in Krankenhäusern, in Ingenieursberufen.

Ende März haben sich Innenministerin Nancy Faeser und Arbeitsminister Hubertus Heil daher vor Ort in Kanada über die erfolgreiche Einwanderungspolitik des Landes informiert. Beim Medizintechnik-Hersteller Siemens Healthineers in Ottawa etwa machten sie sich schlau – das Unternehmen integriert seit Jahren qualifizierte Fachkräfte und High Potentials aus allen Teilen der Welt in seinen Betrieb. Eine Erkenntnis der Reise: Die zugewanderten Angestellten entschieden sich vor allem für Kanada, weil die bürokratischen Hürden niedrig, der Familiennachzug unproblematisch und die Integration in die tolerante kanadische Gesellschaft leicht seien.

Bald soll auch Deutschland für solche Menschen attraktiver werden, ein entsprechendes Gesetz wurde bereits vom Kabinett verabschiedet. Nun muss noch der Bundestag grünes Licht geben. „Wir haben uns das Ziel gesetzt, das modernste Einwanderungsrecht Europas zu schaffen“, sagt Innenministerin Nancy Faeser.

Die Zuwanderung nach Deutschland für Fach- und Arbeitskräfte aus dem außereuropäischen Ausland attraktiver zu machen, ist jedoch nur ein Teil des Plans der Ampel-Koalition für den großen Neustart in der Migrationspolitik. Die Einwanderung soll insgesamt besser gesteuert, die Integration erleichtert werden, auch in der Asylpolitik soll es klarere Regeln geben.

22,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund

Deutschland ist schon in den sechziger Jahren zum Einwanderungsland geworden, nachdem 1961 das Anwerbeabkommen mit der Türkei für Gastarbeiter:innen geschlossen wurde. Millionen Männer und Frauen kamen und holten ihre Familien nach. Statt wie ursprünglich gedacht wieder zurückzukehren, blieben viele von ihnen in Deutschland. Zudem kamen in den darauf folgenden Jahrzehnten Schutzsuchende aus vielen Regionen der Welt sowie Menschen auf der Suche nach einer besseren Zukunft nach Deutschland.

Im Jahr 2021 lebten in Deutschland 22,3 Millionen Personen mit Migrationshintergrund. Zu ihnen zählen Zuwanderer:innen, in Deutschland geborene Ausländer:innen sowie Menschen mit einem zugewanderten oder ausländischen Elternteil. Wirtschaftlich, gesellschaftlich und kulturell ist Deutschland also schon lange auch stark durch das geprägt, was viele Menschen unterschiedlichster Herkunft einbringen und beitragen. Doch Deutschland stellt sowohl bei der Arbeits- und Bildungsmigration als auch bei der Integration von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt und bei Einbürgerungen hohe Hürden auf.

Das macht es für Fachkräfte wenig reizvoll, nach Deutschland zu kommen. Zudem wird das Potenzial der Menschen mit Migrationshintergrund, die bereits hier sind, zu wenig ausgeschöpft. Deshalb möchte die Ampelkoalition nun endlich den Paradigmenwechsel zu einer progressiven Einwanderungspolitik mit einer Willkommenskultur vollziehen – die eine erfolgreiche Teilhabe aller Menschen in Deutschland ermöglicht.

Chancen für gut integrierte Menschen

Im Januar gab es mit der Verabschiedung des Gesetzes zum Chancen-Aufenthaltsrecht bereits einen ersten Schritt in diese Richtung. Es ermöglicht geduldeten Menschen, die schon lange in Deutschland leben, ein 18-monatiges Aufenthaltsrecht zu erhalten. In dieser Zeit haben sie die Chance, die Voraussetzungen für ein reguläres Bleiberecht in Deutschland zu erfüllen, wie etwa ihre Deutschkenntnisse oder einen gesicherten Lebens-unterhalt nachzuweisen. „Wir wollen, dass Menschen, die gut integriert sind, auch gute Chancen in unserem Land haben“, sagt Dirk Wiese, stellvertretender Fraktionsvorsitzender der SPD.

Das Chancen-Aufenthaltsrecht beendet die bisherige Praxis der sogenannten Kettenduldungen und damit auch die oft jahrelange Unsicherheit für Menschen, die schon längst Teil unserer Gesellschaft geworden sind. Es gibt allerdings Ausnahmen: Wer wegen Straftaten verurteilt wurde oder seine Abschiebung durch Identitätstäuschung oder vorsätzliche Falschangaben zu verhindern versucht hat, ist vom Chancen-Aufenthaltsrecht ausgeschlossen.

Eine weitere positive Neuerung: Asylbewerbern wird nun ein früher Zugang zu Integrations- und Berufssprachkursen angeboten, unabhängig von ihrem Einreisedatum und Herkunftsland. Geplant ist zudem, das Beschäftigungsverbot für Asylbewerber aufzuheben. So können sie arbeiten, während sie auf ihren Bescheid warten. Und auch Geduldeten soll die Möglichkeit gegeben werden, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten.

Zwei Pässe werden erlaubt

Zentral für den Paradigmenwechsel in der Migrationspolitik sind auch Neuerungen im Staatsangehörigkeitsrecht. Ein entsprechender Gesetzesentwurf soll noch in diesem Frühling im Kabinett beschlossen werden: Es geht darum, dass es einfacher wird, den deutschen Pass zu bekommen.

Rund zwölf Millionen Menschen mit ausländischem Pass leben in Deutschland, fast sechs Millionen bereits seit über zehn Jahren. Sie alle können nicht an Wahlen und Abstimmungen teilnehmen, nicht für öffentliche Ämter kandidieren und auch sonst in vielen Bereichen nicht mitgestalten, obwohl sie schon so lange hier zuhause sind – weil sie nicht die deutsche Staatsbürgerschaft besitzen.

Deshalb soll es die Möglichkeit zur Einbürgerung bereits nach fünf Jahren rechtmäßigen Aufenthalts in Deutschland geben – bisher waren es acht Jahre. Und auch für in Deutschland geborene Kinder mit ausländischen Eltern soll es einfacher werden, mit der Geburt einen deutschen Pass zu bekommen. Die erforderliche Dauer des rechtmäßigen gewöhnlichen Aufenthalts eines Elternteils wird von acht auf fünf Jahre verkürzt.

Wer sich in Deutschland künftig einbürgern lassen will, soll dafür nicht mehr die Staatsangehörigkeit des Herkunftslandes seiner Familie aufgeben müssen. Mehrstaatigkeit wird akzeptiert. „Es ist falsch, Menschen dazu zu zwingen, ihre alte Staatsangehörigkeit aufzugeben, wenn sie die deutsche beantragen wollen. Für viele ist das ein schmerzhafter Schritt, der ihrer persönlichen Geschichte und Identität nicht gerecht wird“, so Innenministerin Faeser.

Wettbewerb um kluge Köpfe

Diese Erleichterungen sollen auch helfen, im Wettbewerb mit Ländern wie Kanada oder den USA um Fachkräfte aus aller Welt punkten zu können. Denn Deutschland braucht sie dringend: Durch die seit Jahrzehnten sinkende Geburtenrate gibt es auch weniger Arbeitskräfte. Diese Lücke konnte lange über Zuwanderung aus dem EU-Ausland gefüllt werden. Doch inzwischen reicht das nicht mehr aus.

Zwar ist das klare Ziel der Ampel-Regierung, die Menschen in Deutschland aus- und weiterzubilden, damit sie fit für den Arbeitsmarkt sind. Gerade hat das Kabinett ein Weiterbildungsgesetz verabschiedet, welches jungen Menschen einen Ausbildungsplatz garantiert und die ständige berufliche Weiterbildung fördert. Ganztagsschulen sollen mehr Frauen den Weg in längere Beschäftigungszeiten ebnen. Aber selbst wenn es gelingt, alle inländischen Potenziale zu erschließen, benötigt Deutschland künftig mehr qualifizierte Einwanderung aus Drittstaaten außerhalb Europas. In der Pflege, in der Industrie, in den Kitas, überall fehlen Fach- und Arbeitskräfte. Rund 400.000 Zuwanderer:innen braucht Deutschland im Jahr, so Expert:innen, um den Bedarf an Fach- und Arbeitskräften zu decken.

Deshalb hat das Kabinett jetzt eine Weiterentwicklung des Fachkräfteeinwanderungsgesetzes auf den Weg gebracht, mit dem sich Deutschland für Fachkräfte noch mal deutlich attraktiver macht. Das Gesetz sieht unter anderem vor, dass es aus Drittstaaten stammenden Jobsuchenden „mit gutem Potenzial“ ermöglicht werden soll, bereits zur Suche eines Arbeitsplatzes nach Deutschland zu kommen. Dafür soll nach dem Vorbild des kanadischen Punktesystems eine sogenannte Chancenkarte eingeführt werden.

Außerdem sollen qualifizierte Nicht-Akademiker mit Berufsabschluss leichter kommen können. Für diese Gruppe wird in nicht reglementierten Berufen – das sind vor allem die 330 Ausbildungsberufe im dualen System – künftig darauf verzichtet, dass ihr Abschluss in Deutschland formal anerkannt sein muss.

Bereits im Dezember wurde beschlossen, bei Fachkräften, die von außerhalb Europas stammen, den Familiennachzug durch den Wegfall des Sprachnachweises für die Familienmitglieder zu erleichtern.

Schnelle Asylverfahren

Neben der Einwanderung von Fach- und Arbeitskräften wird es aber auch in Zukunft viele Menschen geben, die nach Deutschland flüchten und hier Schutz suchen. Allein aus der Ukraine hat Deutschland im vergangenen Jahr über eine Million Menschen aufgenommen, sie müssen allerdings keine Asylverfahren durchlaufen. Die Zahl der Asylanträge ist 2022 jedoch auch stark gestiegen.

Mit Blick auf diese Situation ist wichtig, dass die Asylverfahren schnell, fair und rechtssicher sind. Dafür hat die Ampel das Gesetz zur Beschleunigung der Asylgerichtsverfahren und Asylverfahren beschlossen, das im Januar in Kraft getreten ist.

Klar ist: „Wer aus humanitären Gründen nach Deutschland kommt und hier Schutz begehrt, muss diesen Schutz bekommen. Das ist unsere völkerrechtliche, humanitäre Verpflichtung“, so Kanzler Olaf Scholz im März im Bundestag.

„Wer aus humanitären Gründen nach Deutschland kommt und hier Schutz begehrt, muss diesen Schutz bekommen.“ — Olaf Scholz, Bundeskanzler

Dazu gehöre aber auch, so Scholz, dass wer in Deutschland kein Aufenthaltsrecht besitze, zügig in sein Heimatland zurückkehren müsse. Das funktioniert noch nicht gut genug. Deshalb hat die Ampel im Januar beschlossen, die Rückführung von Menschen, die nicht hierbleiben können, konsequenter als bisher durchzusetzen. Das gilt insbesondere für Straftäter und Gefährder. Für diese Personengruppe wurde bereits die Ausweisung und die Anordnung von Abschiebungshaft erleichtert.

Weniger irreguläre Migration, mehr reguläre Zuwanderung

Zudem wurde ein Sonderbevollmächtigter für Migrationsabkommen eingesetzt, der neue Migrationsabkommen mit Herkunftsstaaten schließen soll. Denn oft scheitert die Rückführung daran, dass die Herkunftsstaaten die abgelehnten Asylsuchenden nicht zurücknehmen wollen.

Der Grundsatz der Ampel ist: irreguläre Migration verringern, um mehr reguläre Einwanderung zu ermöglichen. Weniger Menschen sollen sich in die Hände von Schleusern und auf lebensgefährliche Fluchtrouten begeben.

Dafür sind die asylpolitischen Regeln auf europäischer Ebene besonders wichtig. Derzeit wird die Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems verhandelt, bei der es auch um schnellere Asylverfahren bereits an den Außengrenzen geht. Dort soll es ein „Screening“ geben, bei dem Personen, die keine Aussicht auf Schutz haben, das Asylverfahren an der Grenze durchlaufen sollen und von dort aus wieder abgeschoben werden können. Zudem geht es um die fairere Verteilung der Geflüchteten unter den Mitgliedstaaten. Innenministerin Faeser dringt dabei auf Tempo in Europa: Sie will, dass es bis zum Sommer eine Einigung gibt.