Verstört blicken mehrere Teenager in ein Jugendzimmer, das komplett verwüstet wurde. Die blaukarierte Bettdecke ist zerrissen. Möbel, Boden und Bücher sind mit weißen Daunenfedern überzogen, ein Brett wurde aus dem Bett geschlagen. Der gelbe Stuhl und der weiße Schreibtisch stehen mitten im Raum, auf der Erde liegen zerfetzte Papiere, umgeworfene Pappkartons und Spiele.

Das Zimmer gehört zu einer interaktiven Ausstellung, die die NGO „Gesicht Zeigen!“, die sich gegen Rassismus, Antisemitismus und rechte Gewalt stark macht, in Berlin-Mitte eingerichtet hat: Ziel ist es, für die Schüler:innen sinnlich erfahrbar zu machen, wie es sich anfühlt, in einer Diktatur zu leben.

Mit dem Blick in das verwüstete Zimmer etwa wollen die Organisatoren „für einen Moment Beunruhigung, Irritation, und Empörung in das gewohnte Leben der Jugendlichen hineinkriechen lassen“, erklären sie in einem Informationsfilm über die Ausstellung.

Jugendliche erfahren willkürliche Ausgrenzung

„Gesicht Zeigen!“ ist eine von vielen Organisationen, die mit ihren Projekten für die Stärkung einer demokratischen Zivilgesellschaft kämpfen. Noch in sechs weiteren Räumen präsentiert die Ausstellung "7xjung – Dein Trainingsplatz für Zusammenhalt und Respekt" Erfahrungswelten für Jugendliche.

Um willkürliche Ausgrenzung geht es etwa im Raum „Meine Stadt“: Mustafa, der aus der Türkei stammt, macht hier bei einer Workshop-Übung die Erfahrung, dass er sich auf keine der dort aufgestellten Bänke setzen darf. Denn diese sind ausschließlich für Deutsche und Christen reserviert. „Das war doof“ sagt der 17-jährige ernst.

Er und seine Klassenkamerad*innen können sich in diesem Raum mit der Lebenswirklichkeit jüdischer Jugendlicher auseinandersetzen, die während der frühen 1930er Jahre lebten. „Jetzt kann ich mir besser vorstellen, wie sich die damals gefühlt haben“, sagt Linus, 15, am Ende des Workshops.

„Unser Lernort 7xjung ist ein sehr erfolgreiches Projekt, wir begegnen Schüler*innen dort wertschätzend und mit Respekt für ihre Lebenswelt, das ist oft nicht selbstverständlich für sie“, erzählt Sophia Oppermann, Geschäftsführerin von „Gesicht Zeigen!“. Vor dem Lockdown im Zuge der Corona-Pandemie war die Ausstellung auf Monate ausgebucht.

In Rollenspielen Zivilcourage üben

Seit dem 4. Juni werden wieder Schulklassen empfangen.  Manche Lehrer*innen kämen seit zehn Jahren mit ihren Schulklassen, sagt sie. Die Schüler*innen hören in den Workshops biografische Geschichten Gleichaltriger, mit denen sie sich identifizieren können. Und in Rollenspielen üben sie Zivilcourage ein: etwa wie man Provokationen von Neonazis überzeugend kontern kann. Sie sollen erfahren, dass man etwas tun kann gegen Ungerechtigkeit oder Diskriminierung.

Doch die Finanzierung des engagierten Projekts war lange alles andere als sicher. Schon dreimal musste „Gesicht Zeigen!“ sich um Bundesmittel bewerben, die immer nur für eine begrenzte Zeit zur Verfügung stehen. Die SPD-Bundestagsfraktion hat sich zwar auch in dieser Legislaturperiode wieder dafür eingesetzt, dass Programme der Extremismusprävention auf gleichbleibend hohem Niveau fortgesetzt werden.

Zahlreiche Projekte laufen aber alle paar Jahre wieder aus. Ständig ist unsicher, ob und wie es weitergeht. „Es ist wahnsinnig kontraproduktiv, dass wir nicht kontinuierlich arbeiten können“, sagt Oppermann. Mit immer wieder befristeten Verträgen könne man gute Mitarbeiter*innen nicht halten und keine langfristige Perspektive anbieten.

Finanzierung verstetigen

Jetzt aber sollte sich das endlich ändern: Mit dem Demokratiefördergesetz sollte die Finanzierung verstetigt werden, auch als politisches Signal für die Wichtigkeit solcher Arbeit. Seit mehr als zehn Jahren kämpft die SPD-Fraktion dafür.

„Wir haben bereits zahlreiche Gesetze zur Bekämpfung von Hasskriminalität und Rechtsextremismus beschlossen, um Extremisten konsequent Grenzen aufzuzeigen und sie zur Verantwortung zu ziehen. Jetzt müssen wir die Präventionsarbeit weiter stärken“, sagt Justizministerin Christine Lambrecht. „Projekte brauchen Planungssicherheit, sonst geht viel Know-How verloren und Netzwerke müssen immer wieder neu geknüpft werden“.

Das Gesetzesvorhaben schien auf gutem Weg zu sein: Vom Kabinett wurden im Mai bereits Eckpunkte auf den Weg gebracht - doch die Unionsfraktion blockierte.

„Völlig inakzeptabel“ sei es, dass sich die Union derart verweigere, sagt SPD-Fraktionsvize Dirk Wiese. "Ernüchtert müssen wir feststellen: Die Union nimmt die Gefahren, die von Rechtsextremisten, Rassisten und Antisemiten ausgehen, offenbar weiterhin nicht ernst". Rechtsextremismus zu begegnen sei eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, nicht nur eine der Sicherheitsbehörden. „Die demokratischen Kräfte, die sich in unterschiedlichen Projekten und Initiativen im ganzen Land gegen rechte Entwicklungen stemmen, müssen wir gezielt und nachhaltig finanziell fördern.“

Mehr gewaltorientierte Rechtsextreme

Wiese verweist auf die Ergebnisse des Mitte Juni vorgestellten Verfassungsschutzberichts für das Jahr 2020. Demnach sind die größte Bedrohung für die innere Sicherheit nach wie vor Rechtsextremismus und Antisemitismus. Die Zahl der Rechtsextremen sei auf etwa 33.300 gestiegen, von denen 13.300 potenziell gewaltorientiert seien. Die Corona-Pandemie habe zur Verstärkung der rechten Szene beigetragen. Rechtsextreme hätten sich bemüht, über die Proteste gegen die staatlichen Corona-Maßnahmen Anschluss an das bürgerliche Spektrum zu finden. Erst Anfang Mai hatte das Bundeskriminalamt Zahlen vorgelegt, die eine Zunahme von politisch rechts motivierten Straftaten belegte.

Wolfgang Merkel, emeritierter Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin, sieht gar eine „Erosion“ der Demokratie aufgrund dieser Entwicklungen. Neben der Zunahme rechter politischer Gewalt sowie der größeren Verbreitung rechtspopulistischer Positionen in der Gesellschaft stellt er einen Rückgang der Zufriedenheit der Bürger:innen mit dem Funktionieren der Demokratie fest, sowie „problematisch niedrige Vertrauenswerte in politische Parteien, in Parlament und Exekutive.“

Für besonders alarmierend hält der Forscher die zunehmende Polarisierung der politischen Lager, die nicht mehr miteinander kommunizierten, sondern versuchten, sich „wechselseitig zu exkludieren“. Verstärkt werde diese Polarisierung von den Plattformen der sozialen Medien, Merkel nennt sie „Echokammern“. Sie unterlägen keiner gesellschaftlichen Öffentlichkeitskontrolle, das mache sie so anfällig für Verschwörungsmythen.

Auch Wolfgang Merkel hält es für wichtig, vor diesem Hintergrund die zivilgesellschaftliche Arbeit mit dem Demokratiefördergesetz zu stärken. „Wir müssen die Überzeugungen in der Gesellschaft für Demokratie stärken“, sagt er.

"Demokratie so stark angegriffen wird wie noch nie"

Für Timo Reinfrank, Geschäftsführer der Amadeu Antonio Stiftung, hätte ein solches Gesetz nichts weniger als „ein politisches Bekenntnis zur Relevanz von Demokratiearbeit, die Anerkennung unserer Arbeit, Sicherheit der Finanzierung und damit die Möglichkeit langfristiger Planung“ bedeutet. Das sei „mehr als überfällig, ganz besonders in Zeiten, in denen die Demokratie so stark angegriffen wird wie noch nie. Nun auch von demokratisch gewählten Feinden der Demokratie mitten aus dem Bundestag selbst“, sagt Reinfrank mit Blick auf die AfD-Bundestagsfraktion.

Ihm zufolge hat sich die Situation seit 2015 massiv verschlechtert. „Früher konnten wir bei unserer Arbeit auf ein allgemeines Selbstverständnis setzen, dass die Demokratie die richtige Staatsform ist und Minderheitenrechte und das Grundgesetz akzeptiert werden“. Jetzt gebe es viele Menschen, die den demokratischen Konsens aufkündigten.

Reinfrank will diese Menschen nicht nur mit abstrakter politischer Bildung erreichen. Sie müssten selbst erfahren, dass es etwas bringe, sich einzumischen. Wie etwa beim „Zukunftslabor Ost“, das Menschen aus Ostdeutschland in verschiedenen Veranstaltungen mit Vertreter*innen deutscher Stiftungen, Politik und Verwaltung auf Augenhöhe zusammenbringt, um mit ihnen zusammen Strategien für die Stärkung von Demokratie zu entwickeln. Die Amadeu Antonio Stiftung ist daran beteiligt.

Empowerment zivilgesellschaftlicher Akteure

Es geht der Stiftung verstärkt darum, zivilgesellschaftliche Akteure zu „empowern“, indem sie Strategien lernen, wie sie antidemokratischen Positionen und Angriffen entgegen treten können. Wie etwa mit dem Projekt „Debunk“ in Sachsen, wo sie gemeinsam mit jungen Erwachsenen erarbeitet, wie verschwörungsideologischem Antisemitismus überzeugend Widerspruch entgegengebracht werden kann.

Auch bei einem Projekt gegen Antifeminismus in Kommunen geht es um „Empowerment“. Zusammen mit der Verbreitung des Rechtspopulismus habe in Deutschland auch die antifeministische Mobilmachung deutlich zugenommen, sagt Judith Rahner, die bei der Amadeu Antonio Stiftung die Fachstelle Gender, Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Rechtsextremismus leitet. Ihr zufolge gibt es immer wieder gezielte Angriffe auf Frauenrechtsorganisationen und Gleichstellungsbeauftragte.

Bei einem Fall (Namen und Ort will Rahner zum Schutz der Beteiligten nicht nennen) hat ein stadtbekannter Rechtspopulist eine Veranstaltung über Gewalt an Frauen zunächst gezielt gestört.

Hetze gegen Gleichstellungsbeauftragte

Obwohl sich diese nur an Frauen richtete, verschaffte er sich Zutritt. Im Saal fragte er, was denn für die männlichen Opfer von Falschbezichtigungen und vorgetäuschten Fällen sexualisierter Gewalt an Frauen getan werde. Zugleich wurde in den sozialen Medien ein Shitstorm gegen die Gleichstellungsbeauftragte Maren Schmidt (Name von der Redaktion geändert) losgetreten.

Ihre private Adresse wurde veröffentlicht, es wurde gegen sie gehetzt. Ihre Kinder wurden in der Schule beschimpft. Mehrere Dienstrechtsbeschwerden gegen Schmidt wurden eingereicht, wegen angeblicher Männerfeindlichkeit. „Einige Gleichstellungsbeauftragte oder engagierte Frauen lassen sich durch solche Methoden Angst machen und ziehen sich zurück“, sagt Rahner. „Das ist ein Angriff auf die Demokratie, der von hinten kommt, er frisst sich durch die Zivilgesellschaft und die Kommunen“.

Schwierige Abwehrkämpfe

Jeden Monat kommen in einer von der Bundesarbeitsgemeinschaft kommunale Gleichstellungsstellen und der Amadeu Antonio Stiftung betriebenen Hotline mehrere Gleichstellungsbeauftragte zu Wort, die ähnliche Angriffe schildern.

Die Stiftung berät und unterstützt, hilft, Gegenstrategien zu entwickeln. Online, aber auch vor Ort. Gemeinsam mit Maren Schmidt konzipierten die Projektmitarbeiterinnen Informationsveranstaltungen und entwickelten eine Social Media-Strategie, halfen ihr, den Fall auf der Webseite öffentlich zu machen und sachlich darüber zu informieren. Auch die Mittel für dieses Projekt müssen immer wieder neu gefunden und beantragt werden.

Diese Abwehrkämpfe zu führen sei für die Betroffenen vor Ort, die ja persönlich angegriffen und diffamiert würden, „total schwierig“, sagt Rahner. Maren Schmidt jedenfalls hat sich bisher nicht unterkriegen lassen – auch dank der Amadeu Antonio Stiftung.

Der Stiftung bleibt, was das Demokratiefördegesetz angeht, trotz allem optimistisch. „Wir hoffen“, so Geschäftsführer Reinfrank, „dass die nächste Regierung das Gesetzesvorhaben weiterverfolgt und mit uns im konstruktiven Gespräch bleibt.“