Eine neue Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung ("Pragmatisches Einwanderungsland") zeigt deutlich: Die Menschen sehen Deutschland mehrheitlich als Einwanderungsland und zeigen sich grundsätzlich offen für Zuwanderung. Mehr als die Hälfte (53 Prozent) der Bevölkerung sieht Einwanderung sogar als Chance.
Besonders groß ist die Offenheit für eine Einwanderung, die dem Fachkräftemangel entgegenwirken soll (63 Prozent). Auch ist ein Großteil der Befragten für die Aufnahme von Geflüchteten bereit, nämlich fast 70 Prozent. Noch höher ist die Zustimmung für den sogenannten Spurwechsel: Wer nach Deutschland geflüchtet ist, sich hier gut integriert hat und einer Arbeit nachgeht, der soll bleiben dürfen - selbst wenn er oder sie eigentlich ausreisepflichtig ist (80 Prozent Zustimmung).
Zu den Ergebnissen der FES-Studie sagt der Sprecher der Fraktions-AG Migration und Integration, Lars Castellucci:
"Unsere Bevölkerung ist nicht das Problem. Zu dieser Auffassung kann man kommen, wenn man die Studie 'Das pragmatische Einwanderungsland' liest. Der Titel der Studie ist zwar eine Interpretation. Doch diese Interpretation kann sich auf klare Aussagen stützen: Die Deutschen sehen Einwanderung mehrheitlich als Chance und Bereicherung des kulturellen und sozialen Lebens. Fachkräfte aus dem Ausland sind willkommen, ebenso wie Menschen, die vor Krieg oder Bürgerkrieg fliehen oder politisch verfolgt sind. Wer gut integriert ist, einen Job oder Ausbildungsplatz hat, soll in Deutschland bleiben dürfen, auch wenn die Person eigentlich ausreisepflichtig ist, weil der Asylantrag abgelehnt wurde. Gleichzeitig gibt es jede Menge Sorgen im Zusammenhang mit Migration: vor der Zunahme von Rechtsextremismus, vor der Spaltung der Gesellschaft, vor Kriminalität und Terroranschlägen, um nur die Spitzenreiter zu nennen.
Mehr Pragmatismus in der Politik
Also ist doch die Politik das Problem. Mehr als zwei Drittel sagen, die Bundesregierung habe keinen Plan. Das kann man auch verstehen. Zunächst sagte die Kanzlerin "Wir schaffen das", vergaß aber zu sagen, wie wir das schaffen wollen und wer dabei was zu leisten hat. Und vor allem im letzten Jahr ging es munter durcheinander, es gab viele Pläne, Masterpläne und andere, die die öffentliche Debatte beherrschten.
Der Pragmatismus, den man unserer Bevölkerung zuschreiben kann, täte auch der Politik ganz gut. Also die fortbestehenden Probleme, maßgeblich in den Herkunftsregionen und auf den Fluchtrouten, zu benennen und hart an Verbesserungen zu arbeiten. Und aufzuhören, den Populisten hinterher zu hecheln, sondern vernünftige Lösungen zustande bringen, die allen Beteiligten nutzen. So macht es tatsächlich keinen Sinn, etwa gut integrierte Arbeitskräfte, die ihren Lebensunterhalt selbst erwirtschaften und sich nichts zu Schulden kommen lassen, abzuschieben, nur weil der rechte Mob Abschiebungen fordert, um dann gleichzeitig über ein Einwanderungsgesetz Fachkräfte anzuwerben, die hier erst einmal bei null anfangen.
Steuerung und Ordnung wieder hergestellt
Dass unsere Bevölkerung so pragmatisch sein kann, hängt freilich auch mit erfolgreicher Politik zusammen. Niemand wäre pragmatisch, wenn die Zustände einfach weitergelaufen wären, wie wir sie in den Jahren 2015 und 2016 erlebt haben. Noch einmal: Bei weltweit steigenden Flüchtlingszahlen kann niemand behaupten, die Probleme wären gelöst. Aber in Deutschland sind Steuerung und Ordnung wieder hergestellt. Auch hier ist vieles zu verbessern, aber mit überwältigender Unterstützung der Zivilgesellschaft haben Politik und Verwaltungen und Hauptamtliche in den Hilfsorganisationen und Sicherheitsbehörden Großes geleistet. Bei aller Kritik darf man doch fragen, welches Land wir uns denn als Beispiel nehmen sollten, das die Dinge besser hinbekommen hätte.
Wie kann Politik zu mehr Pragmatismus finden? Auch dazu gibt die Studie Hinweise. Den vielleicht wichtigsten: Deutschland ist kein gespaltenes Land, in dem sich politische Kräfte Mitte-Links oder Mitte-Rechts entscheiden müssten, wen sie mit ihrer Politik ansprechen wollen. Schon gar nicht funktioniert es, mal die einen und dann wieder die anderen anzusprechen: Derzeit wird sonntags zum Empfang für Ehrenamtliche in der Flüchtlingshilfe geladen, montags kommt die Polizei und bringt die Leute, die sich seit Jahren ohne Beanstandungen im Lande befinden, zum Flughafen. So verliert man die Helfer und bestätigt die Populisten, ohne jemanden zurückzugewinnen.
Aus meiner früheren Arbeit in kommunalen Bürgerbeteiligungsprozessen weiß ich: Am lautesten sind meist die Gegner irgendwelcher Projekte. Ihnen antworten, meist leiser und zeitversetzt, die Befürworter. Das sind aber nur die Pole. Die Mehrheit befindet sich dazwischen. Wer diese Mehrheit erreicht, gewinnt, nicht wer die Pole bedient. Dafür braucht es intensiven Dialog und harte Arbeit an den Themen, die den Menschen Sorgen machen. Und es braucht Zuversicht. Willy Brandt hat einmal gesagt, eine Sozialdemokratie ohne Hoffnung sei wie eine Kirche ohne Glauben.
Die Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung sagt uns, dass fast drei Viertel der Menschen eine Vision vermissen, wie es in Deutschland langfristig weitergehen soll. Hier treffen sich diejenigen, denen es heute sehr gut geht mit denen, die sich abstrampeln und trotz wirtschaftlicher Entwicklung kaum über die Runden kommen. Die sagen dann zwar, dass Migration, Flucht und Asyl die größte Herausforderung für Deutschland ist. Dahinter verstecken sich aber grundsätzliche Zukunftsfragen. Es ist die Aufgabe progressiver Kräfte, sich diesen Zukunftsfragen zu stellen. Wer ein positives Zukunftsbild hat, das motiviert, mit anzupacken, wird auch die Herausforderungen, die jede Zeit kennt, pragmatisch anpacken. Und wer das tut, hat guten Grund positiv in die Zukunft zu blicken."
Das pragmatische Einwanderungsland - Was die Deutschen über Migration denken http://library.fes.de/pdf-files/fes/15213-20190402.pdf