SPIEGEL: Herr Oppermann, bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt hat Ihre Partei jeweils nur zehn Prozent der Stimmen bekommen und lag sogar hinter der AfD. Ist die SPD noch eine Volkspartei?

Oppermann: Natürlich. Denn die Antwort darauf hängt nicht nur von Wahlergebnissen ab. Eine Volkspartei ist für alle gesellschaftlichen Gruppen offen und hat den Anspruch, das Gemeinwesen zu gestalten und nicht nur Klientelinteressen zu vertreten. Das ist bei der SPD der Fall.

SPIEGEL: Aber in vielen Ländern hat die SPD inzwischen nicht mehr Stimmen als  die FDP zu ihren besten Zeiten. Wollen Sie das wirklich „Volkspartei“ nennen?

Oppermann: Wir haben in den allermeisten Ländern Wahlergebnisse von über 30 Prozent. In einigen Ländern – im Osten und im Süden von Deutschland- ist das anders. Das ist ein Problem, keine Frage. Diese strukturellen Mängel müssen wir beheben.

SPIEGEL: Das sagen Sie seit Jahren.

Oppermann: Ja, aber es war noch nie so viel Bewegung im Parteiensystem wie jetzt. Die Wahlen haben gezeigt, dass man mit authentischen Kandidaten, einem klaren Kurs und einer geschlossenen Partei selbst unter schwierigsten Bedingungen gewinnen kann.

SPIEGEL: Genau diese Bedingungen sind auf Bundesebene derzeit nicht erfüllt, sagen viele Genossen. Ist Parteichef Sigmar Gabriel ein authentischer Kandidat mit klarem Kurs?

Oppermann: Gabriel hat die Eigenschaften, die ein Kanzlerkandidat braucht: Er kämpft, setzt politische Themen und hat ein Gespür dafür, was die Menschen umtreibt.

SPIEGEL: Von Geradlinigkeit haben Sie gerade nicht gesprochen.

Oppermann: Die hat er aber auch. Gerade in der in der Flüchtlingsfrage fährt kaum jemand einen so konsequent klaren Kurs wie Gabriel das schon seit letztem Sommer tut.

SPIEGEL: Auf dem Parteitag im Dezember hat Gabriel bei seiner Wiederwahl nur 73 (74,3) Prozent bekommen. Steht die Partei wirklich noch hinter ihm?

Oppermann: Ja. Abgesehen von dieser Wahl haben die Delegierten seinen Kurs auf dem Parteitag unterstützt. Sigmar Gabriel arbeitet daran, auch die Kritiker zu überzeugen. Und die Partei arbeitet daran, ihre Spitzenleute so zu unterstützen, wie es die SPD in Rheinland-Pfalz bei Malu Dreyer gemacht hat. Die Chancen für die SPD sind viel besser als Sie denken.

SPIEGEL: Mag sein, aber die SPD steht bundesweit derzeit allenfalls bei 25 Prozent. Wie will die SPD da den Kanzler stellen? 

Oppermann: Im Augenblick ist doch eher die Union in Schwierigkeiten. In Rheinland-Pfalz hat sie in wenigen Monaten über 10 Prozentpunkte verloren. Wenn CDU und CSU ihren Konflikt in dieser Schärfe fortsetzen, werden sie die nächste Bundestagswahl verlieren.

SPIEGEL: Die CSU hat nach dem Spitzengespräch zwischen Parteichef Seehofer  und Kanzlerin Merkel bekräftigt, dass sie gegen die Flüchtlingspolitik der Regierung klagen will. Was passiert, wenn es soweit kommt?

Oppermann: Dann hätte Angela Merkel keine Wahl. Sie müsste die CSU-Minister entlassen, wenn sie sich nicht ganz klein machen will. Allein deshalb wird Seehofer am Ende soweit nicht gehen.

SPIEGEL: Was macht die SPD, wenn er es doch tut?

Oppermann: Dann könnten wir auch ohne die CSU weiterregieren. CDU und SPD hätten eine ordentliche Mehrheit im Bundestag.

SPIEGEL: Das Problem für die SPD liegt doch darin, dass sie von dem unionsinternen Flüchtlingsstreit bisher nicht profitiert. Besteht Ihre Machtoption nicht allein darin, Teil einer Großen Koalition zu sein?

Oppermann: Die Union ist 2017 kein unschlagbarer Gegner mehr. Die SPD ist geschlossen, die Union ist angeschlagen. In der letzten Großen Koalition haben wir versucht, gleichzeitig Regierung und Opposition zu sein. Das ist uns nicht gut bekommen. Genau diesen Fehler machen jetzt CDU und CSU. Deshalb bin ich sicher, dass die Union deutlich schwächer aus dieser Regierung herausgehen wird, als sie hinein gegangen ist.

SPIEGEL: Die AfD holt ihre Wähler nicht nur am rechten Rand des politischen Spektrums, sondern auch in klassischen SPD-Milieus. Wie wollen Sie darauf reagieren?

Oppermann: Ein Teil unserer Wählerschaft gehört zu jenen, die sich potenziell benachteiligt sehen, weil sie mit den Flüchtlingen  um Jobs und bezahlbare Wohnungen konkurrieren. Diese Ängste müssen wir sehr ernst nehmen. Umso wichtiger ist es, dass wir die noch offenen sozialen Projekte aus dem Koalitionsvertrag jetzt anschieben.

SPIEGEL: Ihr Parteichef spricht von einem „Solidaritätspakt“ für die deutsche Bevölkerung. Was verstehen Sie darunter?

Oppermann: Wir müssen im Sinne der doppelten Integration beides machen: Einerseits geht es darum, die Flüchtlinge gut zu integrieren. Was wir heute versäumen, können wir nicht wieder aufholen. Gleichzeitig müssen wir sozial benachteiligten Deutschen Chancen geben. Wir haben eine wachsende soziale Spaltung. Deshalb müssen wir etwas für die kleinen Rentner tun und mehr in Kitas, gute Bildung und den Wohnungsbau investieren.

SPIEGEL: Was Sie vorschlagen, kostet Geld. Viel Geld. Ex-Kanzler Gerhard Schröder hat in dieser Woche gesagt, ein ausgeglichener Haushalt sei in der jetzigen Ausnahmesituation nicht das Maß aller Dinge. Hat er Recht?

Oppermann: Im Moment haben wir kräftige Überschüsse. Da müssen wir nicht zwingend die schwarze Null antasten.. Ich sage aber auch: Die Integration darf nicht an fehlendem Geld scheitern.

SPIEGEL: Das sieht Wolfgang Schäuble anders.

Oppermann: Der Finanzminister ist nicht dafür da, politische Vorgaben zu machen, er muss für die beschlossene Politik die nötigen Mittel bereitstellen. Wie er das schafft, überlassen wir ihm. Bisher hatte er es leicht, weil er von der guten Konjunktur und den niedrigen Zinsen profitierte. Jetzt ist sein Job schwieriger geworden. Aber wenn es einfach wäre, könnte es ja auch jemand anderes machen als Wolfgang Schäuble.

SPIEGEL: Und wenn Schäuble an seinem Mantra festhält, dass es keine Spielräume im Haushalt gibt? Sind dann Steuererhöhungen eine Option?

Oppermann: Steuererhöhungen für Flüchtlinge sind nicht empfehlenswert.

SPIEGEL: Nicht empfehlenswert klingt nach „vielleicht“. Zumal Sie mit dem Geld ja auch Deutschen helfen wollen.

Oppermann: Aber die Flüchtlinge würden doch für die Steuererhöhungen verantwortlich gemacht. Deshalb erwarten wir jetzt von Schäuble mehr Kreativität. Die Haushaltsüberschüsse gehören doch nicht Wolfgang Schäuble persönlich.

SPIEGEL: Wir halten fest: Die SPD will mehr Geld ausgeben, um Wähler von der AfD zurückzuholen. Glauben Sie, dass das reicht?

Oppermann: Die SPD will die Mittel so einsetzen, dass wir die Gesellschaft zusammen halten und die Menschen nicht gegeneinander ausspielen. Wir sollten die AfD nicht dämonisieren, sondern sie bei Sachfragen stellen, da hat sie nichts zu bieten.

SPIEGEL: Die AfD ist in den vergangenen Monaten vor allem deshalb so stark geworden, weil viele Menschen die Flüchtlingspolitik umtreibt. Muss die Regierung stärker gegensteuern?

Oppermann: Gegen die AfD hilft nur, dass wir die Probleme lösen, die die Menschen beschäftigen. Das bedeutet: Wir müssen die sozialen Fragen angehen, ein Einwanderungs- und  Integrationsgesetz verabschieden, mehr für die innere Sicherheit tun - und die Zahl der Flüchtlinge dauerhaft reduzieren.

SPIEGEL: Die Kanzlerin will mit der Türkei einen Tauschhandel vereinbaren: die Regierung in Ankara macht die Grenzen für Flüchtlinge dicht, dafür Türken ohne Visum in die EU einreisen. Macht die SPD da mit?

Oppermann: Ich fand es immer fragwürdig, Geschäftsleute einer prosperierenden Volkswirtschaft auf komplizierte Visaverfahren zu verweisen, wenn sie ihr Geld in Deutschland investieren wollen. Aus Sicherheitsgründen ist es übrigens besser, wenn die Türken ohne Visa aber dafür mit biometrischen Pässen einreisen.

SPIEGEL: Biometrische Pässe herzustellen ist sehr aufwendig. So schnell werden die Türken das nicht schaffen.

Oppermann: Müssen sie aber. Erst dann ist Visafreiheit möglich. Vorher nicht.

SPIEGEL: Das alles hilft jenen Flüchtlingen nicht, die heute zu Hunderttausenden in den Nachbarstaaten der Türkei festsitzen. Was wollen Sie tun?

Oppermann: Wir können sie nicht einfach dort sitzen lassen. Wenn wir die Zahl der Flüchtlinge, die über Schlepperorganisationen illegal nach Deutschland kommen, reduzieren können, bin ich dafür, dass wir auch aus Jordanien, dem Irak und Libanon fest vereinbarte Kontingente übernehmen, allerdings in überschaubaren Dimensionen.

SPIEGEL: Bleibt die Frage, was die Bundesregierung für jene hunderttausende von Flüchtlingen tut, die schon hier sind. Warum gibt es auch im Frühjahr 2016 noch immer keinen Plan, wie wir sie integrieren wollen?

Oppermann: Wir werden noch vor der Sommerpause ein Integrationsgesetz in den Bundestag einbringen. Damit wollen wir Regeln für die Menschen aufstellen, die zu uns kommen.

SPIEGEL: Ein Pflichtenheft für Flüchtlinge?

Oppermann: Wir wollen fördern und fordern. Es gibt Angebote und Pflichten. Einwanderer müssen die grundlegenden Werte und Spielregeln unserer Gesellschaft akzeptieren, so wie sie im Grundgesetz stehen. Andersdenkende und Andersgläubige müssen respektiert und die Rechte von Frauen und Kindern geachtet werden, Gewalt muss als Mittel der Konfliktbewältigung ausgeschlossen sein. Wir respektieren die Kultur der Einwanderer, aber es darf keine abgeschotteten Parallelgesellschaften mit eigenen Spielregeln geben.

SPIEGEL: Gehört es für Sie dazu, dass man in Deutschland Frauen die Hand gibt?

Oppermann: Das ist ein kultureller Aspekt, keine rechtlicher. In unserer Kultur gehört es sich, dass man Frauen die Hand gibt. Das ist eine Frage des Respekts.