SPIEGEL ONLINE: Bereuen Sie es schon, nicht Kanzlerkandidat der SPD geworden zu sein?

Steinmeier: Nein. Bei mir war das keine Entscheidung einer plötzlichen Laune, sondern gut überlegt. Deshalb hadere ich nicht damit. Die SPD hat mit Peer Steinbrück einen guten Kanzlerkandidaten. Und wir haben noch acht Monate Zeit, um Merkel aus dem Amt zu heben.

SPIEGEL ONLINE: Peer Steinbrück hat die SPD mit seinen Patzern in eine schwierige Lage gebracht. Wie sehr ärgert Sie das?

Steinmeier: Jetzt lassen Sie mal die Kirche im Dorf. Am meisten ärgert sich Peer Steinbrück selbst über die Dinge, die nicht rund gelaufen sind. Aber bei manchen Sachen kann ich mich über die Aufregung im Berliner Blätterwald auch nur wundern.

SPIEGEL ONLINE: Zum Beispiel?

Steinmeier: Steinbrück hat über das Verhältnis von Politikergehältern und Gehältern in der Wirtschaft einen Satz gesagt, den ich zuvor hundertmal gehört habe - auch aus dem Mund von Helmut Kohl. Ich weiß wirklich nicht, was daran spektakulär sein soll. Außerdem hat Steinbrück nie für die Erhöhung von Politikergehältern plädiert, sondern eher dafür, in anderen Bereichen Maß zu halten, zum Beispiel dem Bankwesen. Darum ging es.

SPIEGEL ONLINE: Viele in Ihrer Partei sprechen von einer Medienkampagne gegen Steinbrück. Teilen Sie diese Einschätzung?

Steinmeier: Kampagne klingt nach Verabredung mehrerer Medien. Das glaube ich nicht. Aber in der Aufgeregtheit eines Berliner Medienumfelds ist die Negativmeinung über diese Äußerung von Steinbrück schnell eskaliert. Ich habe manchmal den Eindruck, dass etwas mehr Gelassenheit dem ganzen Betrieb - auch den Medien - gut täte.

SPIEGEL ONLINE: Am Sonntag wählt Niedersachsen. Die Landtagswahl wird auch die kleine Bundestagswahl genannt - was steht in Hannover für die SPD auf dem Spiel?

Steinmeier: Niedersachsen ist zuallererst eine Landtagswahl. Aber es wäre naiv zu glauben, dass es sich darauf beschränkt. Natürlich wird der Wahlausgang die Stimmung am Anfang eines langen Wahljahrs beeinflussen. Deshalb sind alle im Bundestag vertretenen Parteien in Niedersachsen kräftig unterwegs, selbst wenn in Niedersachsen für die Verhältnisse im Bund nichts entschieden wird.

SPIEGEL ONLINE: Die Umfragen zeigen einen knappen Abstand zwischen Rot-Grün und Schwarz-Gelb. Kann Steinbrück im Falle einer Niederlage noch Kanzlerkandidat bleiben?

Steinmeier: Die Umfragen sind schon seit langem knapp. Was mich freut, ist, dass es für Rot-Grün auch in jenen Umfragen reicht, in denen die FDP mit fünf Prozent im Landtag gesehen wird. Deshalb müssen wir die letzten Tage nutzen, um den knappen Vorsprung auszubauen. Ich bin nach vielen Veranstaltungen und Begegnungen in den letzten Wochen in Niedersachsen ganz zuversichtlich, dass wir gewinnen und Stephan Weil Ministerpräsident wird. Und glauben Sie mir: Peer Steinbrück ist Kanzlerkandidat vor und nach der Niedersachsen-Wahl.

SPIEGEL ONLINE: Mit der Kanzlerin sind die meisten Deutschen zufrieden. Wo soll im Bund in den verbleibenden Monaten die Wechselstimmung herkommen?

Steinmeier: Wir haben thematisch gut für das Wahljahr vorgearbeitet. Die Zukunftsfragen zur Infrastruktur zur Energieversorgung und den Herausforderungen der Demografie werden von Schwarz-Gelb nicht ansatzweise beantwortet. Unter der Kanzlerin ist in den letzten Jahren nichts passiert, was uns sicher über die eigene Zukunft sein lässt. Diese Regierung lebt von den Entscheidungen aus der Mitte des letzten Jahrzehnts. Sie erntet nur ab, was andere gepflanzt haben. Ansonsten herrscht Taten-, Entscheidungs- und Mutlosigkeit!

SPIEGEL ONLINE: Ihre Sicht der Dinge scheint bei den Menschen noch nicht so recht durchgedrungen zu sein. Wie wollen Sie das ändern?

Steinmeier: Das beherrschende Thema im Wahlkampf wird die soziale Gerechtigkeit sein. Die Menschen haben ein feines Gespür dafür, dass in den letzten Jahren etwas aus dem Lot geraten ist. Die Finanzkrise hat das Gespür für Ungerechtigkeit befördert. Unten wird zu wenig verdient und oben wird zu wenig versteuert. Wir treten an, um das zu verändern. Mit neuen Regeln für die Finanzmärkte, der Einführung von Mindestlöhnen, der Begrenzung von Mieten und dem Kampf gegen Steuerflucht haben wir entsprechende Themen besetzt. Die Koalition ist da blank.

SPIEGEL ONLINE: Sie wollen härter gegen Steuersünder vorgehen, haben aber das Schweizer Steuerabkommen von Finanzminister Schäuble blockiert. Schäuble wirft Ihnen deshalb "Obstruktionspolitik" vor. War die Blockade ein Fehler?

Steinmeier: Schäuble sollte den Mund nicht so voll nehmen. Sein Abkommen war ein billiger Versuch, ein Kapitel zu schließen. Es war kein Beitrag zur Herstellung von Steuergerechtigkeit, sondern die schlechte Grundlage einer Teilamnestie für Steuersünder. Das konnten wir nicht mittragen.

SPIEGEL ONLINE: Die SPD setzt stattdessen auf den Ankauf von Steuer-CDs. Kann das eine langfristige Lösung sein?

Steinmeier: Die SPD will keine dauerhafte Praxis mit zugespielten Steuer-CDs. Wir werden nach einem Wahlsieg ein eigenes Schweizer Steuerabkommen aushandeln. Wir wollen ein echtes Abkommen, das den Namen verdient. Eine rückwirkende Pauschalbesteuerung von Steuerflüchtlingen, wie es Finanzminister Schäuble gerne hätte, wird es darin nicht geben. Niemand darf sich vor Strafverfolgung freikaufen können.

SPIEGEL ONLINE: Muss Deutschland den Druck auch auf andere Steueroasen erhöhen, zum Beispiel Singapur?

Steinmeier: Über Jahrzehnte war es tabuisiert, wie Staaten steuerrechtlich mit denen bei ihnen angelegten Vermögen umgehen. Die USA haben durch ihr Vorgehen dieses Tabu gebrochen. Deutschland ist zwar nicht in derselben außenpolitischen Vormachtstellung wie die USA. Aber auch wir müssen unsere Interessen entschiedener durchsetzen. In Deutschland verdientes Einkommen und entstandenes Vermögen muss auch nach unseren Grundsätzen versteuert werden. Sonst entziehen sich allzu viele ihrer Verantwortung für das Gemeinwesen, in dem sie leben und auf dessen Leistung sie bei Straßen, Schule und Kultur vertrauen. Wir können nicht Steuerflucht in einigen mediterranen Ländern geißeln, und sie bei uns gleichzeitig als Kavaliersdelikt behandeln.