Herr Oppermann, vor einer Woche hat sich Michael Müller für Rot-Rot-Grün in Berlin ausgesprochen. Ist diese Klarheit vorbildlich?

Die Wählerinnen und Wähler entscheiden, was möglich ist. Deswegen hat Michael Müller Rot-Rot-Grün nicht ausgeschlossen. Aber er strebt ein rot-grünes Zweierbündnis an. Das ist die klare Ansage von Michael Müller. Er will ein stabiles, weltoffenes, auf soziale Politik gerichtetes Bündnis für Berlin. Ich unterstütze ihn dabei.

Müller sieht eine Signalwirkung in den Bund. Sie auch?

Landtagswahlen sind zuerst immer Landtagswahlen. Deshalb muss es zunächst für Berlin passen. Alles, was dort gut funktioniert, kann die Diskussion auf Bundesebene positiv beeinflussen.

Laut Umfragen ist Rot-Rot-Grün Ihre einzige Kanzler-Option im Bund. Müssen Sie deshalb nicht daran arbeiten?

In diesen turbulenten Zeiten brauchen wir vor allem eine gute, verlässliche Regierung. Die SPD kann mit allen im Bundestag vertretenen Parteien reden. Rot-Rot-Grün wäre nur möglich, wenn wir uns in grundlegenden Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik verständigen können. Aber wenn ich Sahra Wagenknecht zuhöre, ist das ein weiter Weg.

Was will die SPD bis zur Wahl noch erreichen?

Erstens: die Lebensleistungsrente für Menschen, deren Rente trotz lebenslanger Arbeit nicht höher als die Grundsicherung ist. Da muss es einen deutlichen Aufschlag geben, der aus Steuermitteln finanziert wird. Zweitens: das Teilhabegesetz mit mehr Rechten für Menschen mit Behinderungen. Drittens: Reform der Pflegeberufe mit deutlich höheren Verdiensten für Altenpfleger. Viertens: Maßnahmen für mehr Sicherheit, unter anderem durch mehr Polizei.

Das will auch der CDU-Bundesinnenminister.

Thomas de Maizière hat Vorschläge vorgelegt, die nicht neu sind und über die wir sprechen können. Die CDU-Länderinnenminister sind offenbar zur Räson gebracht worden. Vor allem Frank Henkel hat die Backen aufgeblasen: Burka-Verbot, Abschaffung der Doppelten Staatsbürgerschaft – das waren doch Scheindebatten, die nur für mehr Unsicherheit gesorgt haben. Dass sich die Union der SPD-Forderung nach mehr Polizei und besserer Ausstattung der Sicherheitsbehörden angeschlossen hat, finde ich gut.

Gehen Sie auch an die Versicherungsbeiträge ran?

Die SPD will zurück zur paritätischen Finanzierung der gesetzlichen Krankenversicherung. Die Arbeitgeber müssen wieder ins Boot geholt werden. Dafür sehe ich in dieser Koalition keine Chancen. Aber es wird ein klarer Punkt unseres Wahlprogramms für 2017 sein.

Was noch?

Im Mittelpunkt werden Sicherheit, soziale Gerechtigkeit und innovativer Fortschritt stehen. Denn unser Land muss wirtschaftlich stark bleiben, wenn wir mehr Verteilungsgerechtigkeit wollen. In jedem Fall wollen wir untere und mittlere Einkommen deutlich entlasten.

Von welchen Einkommen reden wir?

Die Entlastung muss zielgenau bei durchschnittlich verdienenden Arbeitnehmern ankommen und nicht mit der Gießkanne auch die Spitzenverdienern begünstigen. Wir werden ein Steuerkonzept vorlegen, das die Be- und Entlastungen auf kluge Weise neu justiert.

Als Bedingung für potenzielle Koalitionspartner?

Wir haben schon im letzten Wahlkampf den Mindestlohn zur Bedingung gemacht. Die Botschaft kam an, der Koalitionspartner hat den Preis gezahlt. Die SPD wird 2017 keine Koalitionsaussage machen. Aber wir werden einige Forderungen ins Zentrum stellen und sagen: Nur wenn diese Dinge umgesetzt werden, geht die SPD in eine Regierung. Einer dieser Punkte wird die Bürgerversicherung für alle sein.

"Innere Sicherheit" gilt als Kernthema der Union. Kann das die SPD?

Innere Sicherheit ist ein SPD-Kernthema. Die Schwachen der Gesellschaft sind darauf angewiesen, dass der Staat für Schutz und Ordnung sorgt, damit sie in einer freien Gesellschaft teilhaben können. Dabei dürfen wir Sicherheit und Freiheit nicht gegeneinander ausspielen. Und: Öffentliche und soziale Sicherheit gehören zusammen. Durch eine gute Integrations- und Bildungspolitik müssen wir dafür sorgen, dass jeder eine Chance bekommt und keine Parallelgesellschaften entstehen, die ein Nährboden für kriminelle Aktivitäten werden können.

Was tun, wenn importierte Konflikte aus der Türkei und anderen Ländern unseren inneren Frieden gefährden?

Wenn politische Konflikte gewalttätig ausgetragen werden, müssen wir sofort intervenieren. Aber das sehe ich im Moment nicht, auch wenn es innerhalb der türkischstämmigen Community Spannungen gibt. Deshalb hat die SPD für Anfang September Hunderte türkeistämmige Mandatsträger aus dem Bundestag, den Landes- und den Kommunalparlamenten nach Berlin eingeladen – um darüber zu beraten, wie man das friedliche Miteinander organisiert.

Das Bundesinnenministerium hat die Türkei als Partner von Terroristen identifiziert. Welche Konsequenzen müssen wir ziehen?

Nein, das Innenministerium hat die Türkei als „zentrale Aktionsplattform für islamistische Gruppierungen“ bezeichnet. Das ist zugespitzt formuliert, aber keine neue Information. Die Nähe der Türkei zu den Muslimbrüdern und der Hamas ist lange bekannt. Schlimmer war, dass Erdogan sich im vergangenen Jahr nicht deutlich von "ISIS" abgegrenzt hat. Inzwischen  ist er ganz klar Teil der Anti-"ISIS"-Koalition. Leider ist die Türkei nun immer wieder Opfer blutiger Terror-Anschläge.

Also kein Grund, den Flüchtlingspakt in Frage zu stellen?

Wir müssen mit Erdogan immer Klartext reden. Die sogenannten Säuberungen in der Türkei sind ein Angriff auf die Demokratie. Ich wünschte mir, die Kanzlerin wäre da deutlicher. Aber das Flüchtlingsabkommen sehe ich davon nicht berührt, weil es aus sich selbst heraus sinnvoll ist. Es ist gut, dass die EU 3 Milliarden Euro aufwendet, um die Lage der syrischen Flüchtlinge in der Türkei zu verbessern. Das hilft auch Europa, weil sie dann nicht aus Not weiter ziehen und sich kriminellen Schlepperbanden anvertrauen.

Warum klärt die SPD nicht endlich die Kanzlerkandidatur?

Darüber werden wir im Wahljahr entscheiden. Auch die Union hat ja noch nichts entschieden. Aber klar: Sowohl die CDU-Vorsitzende als auch der SPD-Vorsitzende haben in ihren Parteien jeweils das erste Wort.

Gerade zeigte Sigmar Gabriel rechtsradikalen Demonstranten den Stinkefinger. Fanden Sie das passend?

Das war eine emotionale Reaktion auf pöbelnde, aggressive und beleidigende Neonazis, die ich nachvollziehen kann.