RND: Herr Mützenich, stellen wir uns vor, vor einem Jahr hätte jemand zu Ihnen gesagt: „Rolf, du wirst bald Fraktionschef der SPD.“ Was hätten Sie erwidert?

Rolf Mützenich: Das hätte mich überrascht. Und ich hätte sicher geantwortet, dass das unwahrscheinlich ist.

Wie viel Ihres legendären Vorgängers Herbert Wehner steckt in ihnen?

Ich kenne natürlich die Erzählungen über Wehner als Zuchtmeister. Dieser Begriff und diese Rolle passen sicher nicht mehr in die heutige Zeit und schon gar nicht auf mich. Aber Herbert Wehner hat der Fraktion Selbstbewusstsein und Eigenständigkeit gegeben. Beides möchte ich gerne auch für unsere Fraktion stärken: Kompetenz und  Selbstbewusstsein. Dort, wo die Abgeordneten Fachpolitiker sind, sollen sie mehr Gewicht bekommen.

Sie haben als Außenpolitik-Fachmann einen Satz zu Rüstungsexporten in den Koalitionsvertrag verhandelt: „Wir werden ab sofort keine Ausfuhren an Länder genehmigen, solange diese unmittelbar am Jemen-Krieg beteiligt sind.“ Gilt er ohne Wenn und Aber?

Er muss ohne Wenn und Aber gelten. Ich hatte in den Sondierungen eine noch klarere Linie durchgesetzt, die jeden Export ausschloss. Erst in den Koalitionsverhandlungen kam auf Wunsch der Kanzlerin und anderer das Wort „unmittelbar“ dazu, das leider etwas mehr Spielraum lässt. Ich bedaure das.

Was sagen Sie etwa zu den Lieferungen an die Vereinigten Arabischen Emirate?

Die Vereinigten Arabische Emirate und Saudi-Arabien sind an diesem Krieg beteiligt. Ich will keine Waffenlieferungen an Staaten, die im Jemen Krieg führen. Und gerade in Saudi-Arabien hat sich seit der Ermordung des regimekritischen Journalisten Jamal Khashoggis nichts verändert. Die Sonderermittlerin beim UN-Menschenrechtsrat hat gerade erst auf die Verwicklungen des saudischen Kronprinzen aufmerksam gemacht. Auch daran werde ich die Bundeskanzlerin erinnern, wenn es das nächste Mal um die Verlängerung des Exportstopps nach Saudi-Arabien geht.

Gilt diese Linie auch für europäische Gemeinschaftsprojekte – bei denen Frankreich und Großbritannien auf mehr Pragmatismus drängen?

Wir müssen in Europa endlich zu einer gemeinsamen Position in der Rüstungsexportpolitik kommen. Innerhalb der EU haben wir bereits klare Regelungen gefunden, daher können wir in der Frage der Rüstungsexporte gegenüber Großbritannien und Frankreich auch selbstbewusst auftreten. Das Problem ist, dass die EU-Regeln unterschiedlich interpretiert werden. Deswegen ist eine anstehende Überarbeitung so wichtig.

Sie möchten also in Europa die deutsche Linie in der Rüstungsexportpolitik durchsetzen?

Ja. Es wäre für alle in Europa gut, wenn wir viel stärker Zurückhaltung bei Waffenexporten üben würden - insbesondere in Konfliktgebiete.

Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier rät Europa zu einem distanzierteren Verhältnis zu Russland. Finden Sie das richtig?

Der Bundespräsident hat Recht. Mehr Realismus in unseren Erwartungen an Russland kann auch wieder größere Nähe schaffen. Aus seinen Worten spricht, wie bei vielen anderen, zugleich die Enttäuschung darüber, dass es nicht gelungen ist, mit Russland partnerschaftliche Beziehungen und ein friedlicheres Miteinander zu entwickeln. Gleichzeitig stimme ich ihm zu, dass es weiter sinnvoll ist, mit Russland Gespräche zu führen und nach gemeinsamen Interessen und Wegen zu suchen. Wenn wir eine europäische Friedensordnung wollen, müssen wir Russland darin einbinden.

Zur Innenpolitik: Seit Monaten schwelt der Streit um die Grundrente. Findet die Koalition eine Lösung?

Die Grundrente stärkt den Zusammenhalt in unserem Land. Sie ist Ausdruck des Respekts für die, die 35 Jahre lang für kleine Löhne gearbeitet haben, betroffen sind größtenteils Frauen. Es geht um Anerkennung und den Wert der Arbeit. Es gibt in der Union dazu unterschiedliche Stimmen. Wenn Sie die Vertreter vom sozialpolitischen und wirtschaftspolitischen Flügel hören, ist nicht ersichtlich, ob die Union ein gemeinsames Konzept hat. Wir haben eins. Und am Ende geht es um eine vernünftige Lösung für eine der bedeutendsten sozialpolitischen Fragen dieser Zeit.

Die SPD sucht nach einer neuen Parteispitze. Sind Sie für eine Mitgliederbefragung?

Das Verfahren liegt jetzt in den guten Händen der drei kommissarischen Parteivorsitzenden. Die breite Beteiligung der Mitglieder ist bereits jetzt beachtlich. Mehr Mitbestimmung von Mitgliedern ist in jedem Fall notwendig und sinnvoll, um den Zusammenhalt zu stärken. Auch der Wettbewerb von Personen, der dann mit Themen verknüpft ist, kann uns als Partei sehr helfen. Es war durchaus eine große Stärke der SPD, die Mitglieder über den Koalitionsvertrag abstimmen zu lassen.

Fänden Sie es legitim, wenn Kevin Kühnert sich als junger Juso-Chef um den Parteivorsitz bewerben sollte?

Es ist ein offenes Verfahren. Wir haben viele in der SPD, die sich auf ihre Art einbringen wollen und jede Bewerbung ist legitim. Wenn Kevin Kühnert sich den Parteivorsitz zutraut, ist das seine Entscheidung. 

Die Grünen sind bei den jungen Wählern aktuell im Vorteil gegenüber der SPD. Liegt das an den Themen oder am frischeren Habitus?

Wenn der Erfolg der Grünen eine Frage des Habitus ist, kann ich dem nicht folgen. Mir entzieht sich die Logik, warum ein Loch in der Socke jemanden zu einem besseren Politiker machen soll. Ich muss den derzeitigen Erfolg der Grünen akzeptieren. Aber die Grünen verlieren an Glanz, wenn sie regieren. In der Flüchtlingspolitik gibt es deutliche Unterschiede zwischen dem, was die Grünen auf Bundesebene fordern und dem, was sie in Landesregierungen tun.

Ist Robert Habeck der coole Typ, der der SPD momentan einfach fehlt?

Am Ende kommt es auf Themen und Inhalte an – und nicht nur auf das Auftreten.

Im Fußball ist schon mancher Interimstrainer dauerhaft geblieben. Wäre das auch für Sie als Fraktionschef vorstellbar?

Der Fußballtrainer ist auf das Zusammenspiel mit seiner Mannschaft angewiesen. Ich bleibe kommissarischer Vorsitzender bis zu den Neuwahlen des Fraktionsvorstands im September. Wo danach mein Platz ist, werden wir sehen.

Wir sprechen hier im Büro des stellvertretenden Fraktionsvorsitzenden, es liegt etwas weiter entfernt vom Reichstagsgebäude. Ist es eine bewusste Entscheidung, dass Sie hier geblieben sind?

Ja, es ist eine bewusste Entscheidung. Ich bin als stellvertretender Fraktionsvorsitzender von meiner Fraktion gebeten worden, die Geschäfte zu führen. Gewählt bin ich als Stellvertreter, nicht als ordentlicher Fraktionschef. Es tut auch ganz gut, einen etwas weiteren Weg zum Reichstag zu haben. Frische Luft kann einen klaren Kopf schaffen.

Wenn die Kollegen Sie bitten würden, auch regulärer Fraktionschef zu werden, würden Sie es also tun?

Ich konnte noch nicht mit allen 151 Abgeordneten der Fraktion reden. Aber ich werde versuchen, mit allen zu sprechen. Und ich höre mir ihre Vorschläge gern an.

Sie sind einer aus der überschaubar großen Anzahl der verbliebenen Spitzenpolitiker, die nicht twittern. Bleibt es dabei?

Ich habe überhaupt nichts gegen die sozialen Medien. Ich wünsche mir aber, dass meine Kollegen in der Fraktion zu mir kommen, wenn sie mir etwas sagen wollen – und es mir nicht via Twitter mitteilen. Ich möchte mir treu bleiben. Ich glaube nicht, dass mich bisher viele bei Twitter vermisst haben. Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Menschen jeden Tag ständig von mir hören wollen, wie es mir geht.

Was ist wahrscheinlicher: dass Sie in den kommenden Jahren eine Deutsche Meisterschaft des 1. FC Köln erleben – oder dass die SPD noch einmal eine Regierung auf Bundesebene anführt?

Beides ist absolut zu wünschen.