Herr Oppermann, der Koalitionsstreit über die Flüchtlingspolitik spitzt sich zu. Bayern will nun Flüchtlinge, die über Österreich einreisen, an der Grenze zurückweisen oder direkt in andere Bundesländer weiterleiten. Ministerpräsident Seehofer spricht von Notwehr. Haben Sie dafür Verständnis?
Oppermann: Bayern hat bei der Aufnahme von Flüchtlingen in den vergangenen Wochen ungeheuer viel geleistet. Aber es ist völlig abwegig, wenn Seehofer jetzt glaubt, dass er eine eigenmächtige bayerische Außenpolitik betreiben kann. Er sollte sich lieber daran beteiligen, dass wir die einvernehmlich in der Koalition getroffenen Beschlüsse schnell umsetzen.

Sind Seehofers Drohungen rechtlich überhaupt umsetzbar?
Oppermann: Natürlich dürfen bayerische Grenzbeamte unbefugte Grenzübertritte kontrollieren. Aber das Regime an der Grenze obliegt dem Bund. Ich bin dagegen, dass jedes Bundesland macht, was es will.

Aber Sie verstehen seine Nöte?
Oppermann: Länder und Kommunen, freiwillige Helfer und Hilfsorganisationen kommen überall in Deutschland an ihre Belastungsgrenzen. Darüber dürfen wir nicht hinwegsehen. Wenn im Oktober wie im September erneut mehr als 200.000 Flüchtlinge nach Deutschland kommen, können die nur noch in Notunterkünften, in Turnhallen und Zelten untergebracht werden. Das sind sehr problematische Verhältnisse. In Notunterkünften kann Integration nicht gelingen. 

Sie haben vor „Grenzen der Aufnahmefähigkeit“ gewarnt. Für die Jusos ist das „CSU-Rhetorik“.
Oppermann: Ich habe gesagt, dass die „Möglichkeiten bei der Aufnahme nahezu erschöpft“ sind. Das ist eine realistische Beschreibung der Situation in Ländern und Kommunen. Ich halte es mit dem Bundespräsidenten, der gesagt hat: Das Herz ist weit, doch unsere Möglichkeiten sind endlich. Und viele Kommunen sind an der Grenze ihrer Möglichkeiten. Natürlich können und werden wir weiter Flüchtlinge aufnehmen. Aber es geht nicht darum, ihnen nur ein Dach über dem Kopf zu besorgen und sie zu versorgen. Wir wollen die Menschen ja integrieren. Und das ist eine gewaltige Herausforderung in den kommenden Jahren.

Anfangs war die Bevölkerung den Flüchtlingen gegenüber sehr aufgeschlossen. Jetzt nehmen Ängste  vor Wohnungsnot, Probleme an Schulen und Kriminalität zu. Müsste die Politik da nicht gegenhalten?
Oppermann: Wir müssen beides tun: Wir müssen die Ängste und Sorgen der Menschen ernst nehmen und mit ihnen darüber reden. Ich war am Dienstag bei einer Bürgerversammlung in Friedland, wo im Durchgangslager, das für 750 Menschen ausgelegt ist, über 3000 Flüchtlinge untergebracht sind. Dort haben die Menschen viele Bedenken vorgetragen – aber ohne Stimmungsmache und Schaum vor dem Mund. Wir dürfen die Sorgen der Menschen nicht verschweigen, sondern müssen Lösungen aufzeigen. Ich finde: Ein realistischer Optimismus ist die richtige Haltung. Denn wahr ist auch: Bei allen Belastungen, die wir im Augenblick spüren, bieten die Flüchtlinge eine riesige Chance für eine alternde Gesellschaft. Die Hälfte von ihnen ist jünger als 25 Jahre. Die Flüchtlinge von heute können die Facharbeiter von morgen sein

Was erwarten Sie von der Kanzlerin?
Oppermann: Es ist gut, dass die Kanzlerin die Flüchtlingsfrage jetzt zur Chefsache gemacht hat. Die Berufung von Peter Altmaier zum Koordinator ist ein erster Schritt. Jetzt müssen wir schnell unsere Beschlüsse für ein Gelingen der Integration umsetzen. Dazu gehören vier Dinge: Sprache, Werte, Ausbildung und Wohnung.

Das hilft den Ländern bei ihren akuten Problemen aber wenig. 
Oppermann: Tatsächlich gibt es ein Missverhältnis:  Mit anhaltend hoher Geschwindigkeit kommt eine große Zahl von Flüchtlingen nach Deutschland. Mit deutlich geringerer Geschwindigkeit schaffen wir die Voraussetzungen, um die Flüchtlinge ordentlich aufzunehmen. Wir müssen dringend das Tempo bei der Umsetzung bereits vereinbarter Beschlüsse erhöhen. Vor allem müssen wir den Bau von Erstunterkünften und Wohnungen vorantreiben und die Verfahren spürbar beschleunigen.  

Und wie kann der Zustrom der Flüchtlinge gedrosselt werden?
Oppermann: Ich glaube, dass wir mit isolierten Einzelmaßnahmen nicht zu einer Lösung des Problems kommen. Wir müssen gleichzeitig die Fluchtursachen in den Herkunftsländern bekämpfen, die Bedingungen in den Flüchtlingslagern verbessern, die Sicherung der EU-Außengrenzen vorantereiben,  für eine faire Verteilung der Flüchtlinge in Europa sorgen und die ohne Bleiberecht schnell zurückführen.

Das kann dauern.
Oppermann: Ja. Aber es ist trotzdem richtig. Und ich bin zuversichtlich in der Frage der Sicherung der Außengrenzen mit der Türkei und Griechenland zu vernünftigen Vereinbarungen zu kommen.

Brauchen wir feste Obergrenzen für die Aufnahme von Bürgerkriegsflüchtlingen?
Oppermann: Logische Konsequenz aus sicheren Außengrenzen mit Aufnahmezentren ist es, dass wir in Kontingenten weiterhin Flüchtlinge nach Deutschland holen. Wir können ja nicht die Länder mit EU-Außengrenzen allein lassen. Zudem würden wir Flüchtlingen lebensgefährliche Routen ersparen und den Schleusern das Handwerk legen.

Das hieße: Deutschland nimmt eine bestimmte Zahl pro Jahr. Dann ist Ende?
Oppermann: Das heißt eine geordnete Aufnahme von Flüchtlingen in Europa. Das Recht auf Asyl in Deutschland wird dadurch in keiner Weise eingeschränkt. Im Übrigen plädiere ich für großzügige Kontingente. Europa darf sich nicht abschotten, sondern muss  seiner Verantwortung für eine humane Flüchtlingspolitik gerecht werden.

Was halten Sie von dem Vorhaben von Innenminister Thomas de Maizière, an den deutschen Grenzen Transitzonen einzurichten?
Oppermann: Ich kann noch nicht erkennen, wie das funktionieren soll. Richtig ist: Wir brauchen eine regelgerechte Registrierung der Flüchtlinge an den Grenzen. Die chaotischen Verhältnisse, dass Flüchtlinge unregistriert durch Deutschland reisen, müssen wir beenden. Aber das Flughafenverfahren lässt sich nicht auf die deutschen Grenzen übertragen.

Die SPD hat sich in den vergangenen Tagen vielstimmig zur Flüchtlingspolitik geäußert. Möchten Sie die Kanzlerin rechts oder links überholen?
Oppermann: Es geht nicht um rechts oder links in der Flüchtlingsfrage. Die Bürgermeister, Landräte und die freiwilligen Helfer vor Ort haben alle die gleichen Probleme, egal welcher Partei sie angehören. Deswegen spielen für mich politische Richtungskämpfe im Augenblick keine Rolle. Wir müssen in der großen Koalition diese Aufgabe gemeinsam schultern. Die heftige Auseinandersetzung innerhalb der Union muss dort geklärt werden. Ich hoffe, dass dies der Kanzlerin gelingt.