Herr Oppermann, wissen Sie noch, was Sie am 17. Dezember 2013 gemacht haben?
Thomas Oppermann: Ja. An diesem Tag haben wir die Bundeskanzlerin gewählt.
War das ein Fehler?
Nein. Diese Bundesregierung hat in den vergangenen drei Jahren sehr viel geleistet: die Pflegereform, den Mindestlohn, die Frauenquote, das Integrationsgesetz und vieles mehr. Das hat das Leben der Menschen verbessert. Noch nie waren so viele Deutsche mit ihrer wirtschaftlichen Lage so zufrieden wie heute.
Heute vergeht kaum ein Tag, an dem die SPD nicht Angela Merkel attackiert...
Wir sind in einer gemeinsamen Regierung, aber nicht in einer gemeinsamen Partei. Die SPD achtet auf ihre Eigenständigkeit und hat in wichtigen Fragen Differenzen zu ihrem Koalitionspartner. Das wollen wir nicht verschweigen. Es völlig legitim, auf Unterschiede hinzuweisen, solange man gleichzeitig gut regiert.
Immer wieder ist zu hören, die SPD kritisiere die Flüchtlingspolitik der Kanzlerin. Exekutiert Merkel Politik, ohne Sie zu fragen?
In der Flüchtlingspolitik haben SPD, CDU und CSU unterschiedliche Akzente gesetzt. Uns ging es stets darum, die außergewöhnliche Situation gut zu bewältigen, ohne die anderen Probleme zu vergessen. Wir haben früh gesagt: Wir müssen die Aufnahme von Flüchtlingen in geordnete Bahnen lenken. Wir haben die Fluchtursachen zu bekämpfen, brauchen sichere Außengrenzen – und dürfen nicht kriminellen Schleppern die Entscheidung überlassen, wer zu uns kommt und wer nicht. Wir wollen Flüchtlinge mit Bleiberecht integrieren, die anderen rasch abschieben. Um all das zu erreichen, mussten wir mit der Union hart ringen.
Was hat die Regierung konkret falsch gemacht?
Auf die große Zahl von Flüchtlingen waren wir denkbar schlecht vorbereitet. Aber es hilft nicht, permanent rückwärts zu schauen. In einer historischen Situation haben wir humanitäre Entscheidungen getroffen, zu denen wir stehen. Jetzt kommt es doch darauf an: Was lernen wir für die Zukunft? Die Aufnahme von Flüchtlinge muss sich ändern: Keine kriminellen Schlepper, keine Balkanroute, keine Schlauchboote. Wir müssen zu einer kontrollierten Form der Aufnahme kommen über verabredete Kontingente und sichere legale Wege. Und in Deutschland darf nicht der Eindruck entstehen, die berechtigten Interessen der Bürger würden unter die Räder kommen.
Wie bewerten Sie die Neiddebatte?
Gibt es Gründe, die Flüchtlinge zu beneiden? Ich habe noch niemand getroffen, der mit den Flüchtlingen tauschen möchte. Aber es gibt Ängste und die Sorge, dass immer mehr Flüchtlinge kommen. Darauf müssen wir vernünftige Antworten geben.
Die Demoskopen von Allensbach haben Ihnen bei der Fraktionsklausur gezeigt, wie mies die Stimmung im Land ist. Müssen Sie die Ängste im Land stärker berücksichtigen?
Die Menschen sind laut Allensbach sehr zufrieden mit der eigenen Situation, aber die Angst vor Gewalt, Kriminalität und Terror ist groß. Wir nehmen das ernst, treten aber denen, die damit ein politisches Süppchen kochen wollen, entschieden entgegen. Wichtig ist ein handlungsfähiger Staat, der öffentliche Sicherheit garantiert, die Kontrolle behält – und soziale Sicherheit schafft. Niemand darf durch die Aufnahme von Flüchtlingen Nachteile haben.
Vor einer Woche hat Mecklenburg-Vorpommerns Ministerpräsident Erwin Sellering (SPD) die Wahl für sich entschieden, nachdem er Frau Merkel immer wieder von rechts kritisiert hat. In Berlin wirbt Ihre Partei für Multikulti. Welche Strategie fährt denn nun die SPD?
Mecklenburg-Vorpommern und Berlin sind sehr unterschiedliche Bundesländer – mit sehr unterschiedlichen Menschen und Mentalitäten. Da gibt es natürlich unterschiedliche Probleme und jeweils entsprechende Lösungen, aber immer auf sozialdemokratischer Basis.
Und was tut die Bundes-SPD? Gilt hier Sellerings oder Müllers Formel?
Die SPD im Bund macht sozialdemokratische Politik für ganz Deutschland, die gilt von Vorpommern bis Oberbayern, von Sachsen bis NRW.
NRW-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft (SPD) sagt, sie sei froh, „dass die Grenzen erst mal dicht sind“.
Alle in der SPD wollen die geordnete Aufnahme von Flüchtlingen. Aber unser Ziel ist nicht, dass möglichst viele Menschen kommen, sondern dass möglichst wenig Menschen fliehen müssen.
Der Bund verlangt nun ein Durchgreifen bei Abschiebungen. Bislang sind die Länder verantwortlich. Sollte Bundesinnenminister Thomas de Maizière (CDU) diese Zuständigkeit an sich reißen?
Die Zahl der Rückführungen steigt deutlich. In verschiedene Herkunftsländer können wir jedoch schlecht rückführen, weil deren Regierungen nicht mit uns kooperieren. Es ist die Aufgabe des Bundesinnenministers, die Abkommen so zu verhandeln, dass abgelehnte Asylbewerber etwa in Nordafrika auch ohne Probleme zurückgenommen werden können.
Muss Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) auch mehr unternehmen, damit die Maghreb-Staaten ihre Bürger auch wieder zurücknehmen?
Natürlich geht es auch um auswärtige Beziehungen, die hat Steinmeier im Griff. Operativ aber ist es Sache des Innenministers.
Ihr Koalitionspartner CSU griff am Wochenende abermals die Themen Burkaverbot und Nein zum Doppelpass auf...
Die CSU macht einen schweren Fehler. 80 Prozent der Deutschen lehnen wie die SPD die Burka ab, sie passt nicht zu einer freiheitlichen, toleranten Gesellschaft. Aber die Menschen wissen: Die Burka ist kein Problem der Inneren Sicherheit. Mit derlei Themen Angst zu verbreiten und Probleme herbeizureden, spielt der AfD in die Hände. Die Union hat innerhalb eines Monats vier verschiedene Papiere zur inneren Sicherheit vorgelegt. Das ist grotesk und zeigt das Ausmaß der eigenen Zerrissenheit und Verunsicherung. Ich rate der Union dringend, zur Sacharbeit zurückzukehren – statt permanent folgenlose Symboldebatten zu führen.
Blicken nicht Politiker aller Parteien, auch Ihrer, viel zu sehr auf die 10, 15, 20 Prozent AfD-Anhänger, und zu wenig auf die restlichen 80 bis 90 Prozent?
In der Tat sollte sich niemand von der AfD die Themen diktieren lassen. Die CSU und Teile der CDU liefern sich leider gerade einen Wettbewerb mit der AfD um eine möglichst aggressive Haltung gegen Flüchtlinge. Das ist der falsche Weg. Die demokratischen Parteien sollten für Augenmaß, Vernunft und Entschlossenheit stehen. Klar ist: Integration funktioniert nur mit Regeln. Das Integrationsgesetz fördert und fordert. Wir müssen die Flüchtlinge fordern, das wollen sie selbst. Sie wollen lernen, arbeiten, ihren Lebensunterhalt verdienen, und nicht Objekt staatlicher Fürsorge werden.
Halten Sie an Ihrer Idee eines Einwanderungsgesetzes fest?
Mit einem Einwanderungsgesetz wollen wir die Einwanderung von Arbeitnehmern vernünftig steuern. Weil wir kein Einwanderungsgesetz haben, kommen viele, die politisch nicht verfolgt sind, aber in Deutschland Arbeit und ein besseres Leben anstreben, als Asylbewerber. Das ist der falsche Weg.
Überzeugen Sie die Union von einem Einwanderungsgesetz?
Auch die Union kann an der demographischen Entwicklung nicht vorbei: Wenn wir unseren Wohlstand erhalten wollen, brauchen wir Einwanderung, weil uns die Arbeitskräfte ausgehen, allerdings eine genau definierte, gesteuerte Einwanderung. Anders als im Asylrecht – geht es hier nicht um Schutz für politisch Verfolgte, sondern um unsere wirtschaftlichen Interessen. Da darf der Staat fragen: Wen brauchen wir? Wen wollen wir? Dafür werden wir genaue Kriterien definieren. Der Bundestag sollte jedes Jahr die Quote für die Einwanderung festlegen, so dass es ein politisch legitimierter und kontrollierter Prozess ist.
Wann beginnt eigentlich der Bundestagswahlkampf?
Im August 2017. Wir arbeiten bereits jetzt an unserem Wahlprogramm, die Kandidaten werden aufgestellt und dann auch unser Kanzlerkandidat.
Gibt es überhaupt noch realistische Alternativen zu einem SPD-Kanzlerkandidaten Sigmar Gabriel?
Darüber entscheiden wir Anfang 2017. Der Parteivorsitzende hat immer den ersten Zugriff.
Erst einmal muss Gabriel den SPD-Parteikonvent am 19. September für das europäisch-kanadische Freihandelsabkommen Ceta überzeugen. Scheitert Ceta, scheitert Gabriel, oder?
Ich freue mich auf diesen Konvent in Wolfsburg. Wir werden über den Sinn und Nutzen von Freihandel diskutieren, und unter welchen Voraussetzungen dieser im Abkommen mit Kanada gut gelingen kann. Wir werden klären, wie wir Ceta in der parlamentarischen Beratung präzisieren und verbessern können. Es geht am 19. September nicht um die Zukunft Sigmar Gabriels.
Aber wer gegen den Leitantrag der SPD-Spitze stimmt, düpiert Ihre gesamte Führung, oder?
Ja, aber nicht nur die. Wer gegen den Antrag stimmt, fällt auch all den CETA-Kritikern in den Rücken, die mit sachlicher und konstruktiver Arbeit für Verbesserungen gesorgt haben. Deren Erfolge wären mit einem Mal zunichte gemacht. Der Beschluss im Parteivorstand mit nur einer Gegenstimme und drei Enthaltungen kommt ja nicht von ungefähr. Die gesamte Partei- und Fraktionsspitze steht hinter diesem Antrag. Außerdem die Führungen des DGB, der IG Metall und der IG Bergbau, Chemie, Energie.
Wie erklären Sie die großen Vorbehalte gegen Ceta in der Bevölkerung?
Es gibt nur wenige gute Freihandelsabkommen weltweit. Ceta könnte das beste Freihandelsabkommen der Welt werden. Die kanadische Regierung ist in vielen politischen, sozialen, ökologischen Fragen ganz nahe bei unseren europäischen Werten. Die Chance, solch ein Abkommen zu erzielen, das weltweit Maßstäbe setzt, dürfen wir nicht leichtfertig vertun.
Die Union hat schon für 2017 ein Wahlkampfthema gefunden: Steuersenkungen. Tappen Sie abermals, wie 2009 und 2013, in die Falle und verlangen Steuererhöhungen?
Die SPD wird sehr genau überlegen, was wir in unser Wahlprogramm schreiben. Die Steuersenkungsversprechen der Union sind nicht seriös. Wir werden solider rechnen und mit einem Teil der Einnahmeüberschüsse kleine und mittlere Einkommen entlasten.
Steuerlich, oder eher mit einem Freibetrag in der Rentenversicherung?
Wir wollen gezielt normale Arbeitnehmer und ihre Familien entlasten. Das gelingt mit der Schaffung eines Freibetrags in der Sozialversicherung am besten. Davon profitieren alle.
Wollen Sie eine neue Reichensteuer schaffen?
Ich rate in Zeiten von Rekordüberschüssen davon ab, mit einem Bündel an Steuererhöhungs-Ideen in den Wahlkampf zu ziehen. Wir sollten uns auf die Frage konzentrieren, wie wir Be- und Entlastungen neu und gerecht justieren. Untere und mittlere Einkommen werden wir entlasten, und nicht belasten.
Ist die Aussicht auf eine rot-rot-grüne Regierung für Sie Grund zur Freude? Linke-Fraktionschef Dietmar Bartsch hat Ihnen ja erst neulich wieder eine Kooperation angeboten.
Ich freue mich über die Verantwortungsbereitschaft des Kollegen Bartsch. Dafür aber wird er noch manchen in seiner Partei und Fraktion überzeugen müssen. Die Linken spüren, wie sehr sie Protestwähler an die AfD verliert. Das Modell linke Protestpartei könnte schon in Kürze ausgedient haben. Vielleicht ist es deshalb für die Linke jetzt der richtige Zeitpunkt, politisch Verantwortung zu übernehmen – wie sie es auf Landesebene überall im Osten außer Sachsen schon getan hat.
Macht die AfD Rot-Rot-Grün also möglich?
Wir sind derzeit von Rot-Rot-Grün noch weit entfernt – auch inhaltlich.
Aber viele in der SPD träumen davon. Wäre Sahra Wagenknecht eine gute Außenministerin, Anton Hofreiter ein guter Finanzminister?
Ich sehe, diese Vorstellung macht Ihnen Spaß. Im Ernst: Die SPD ist bereit, nach der Wahl mit allen Parteien außer der AfD über eine gemeinsame Regierung zu reden. Für eine Koalition bedarf es zwei Voraussetzungen: genügend inhaltliche Gemeinsamkeiten und wechselseitiges Vertrauen, um auch in schwierigen Lagen gemeinsam handeln zu können.
Das ist in der Außenpolitik mit der Linken schwer vorstellbar.
Stimmt. Nicht nur in der Außenpolitik, auch in der Sicherheits- und Europapolitik spielt die Linke nach wie vor eine unrühmliche Rolle. Hier fehlen die Voraussetzungen für eine Koalition. Wir können nicht jede Woche in Brüssel oder im Nato-Rat Grundsatzdiskussionen über den Verbleib in EU und Nato führen. Die Linke hat sich in 26 Jahren im Bundestag daran gewöhnt, in ihren Reden nur der eigenen Klientel zu gefallen. Mit dieser politischen Praxis müsste sie brechen, wenn sie regieren und Verantwortung übernehmen will.