Herr Steinmeier, Sie sind auf Wahlkampftour. Die SPD-Umfrageergebnisse sind schlecht, Ihr Kandidat Steinbrück hat, gelinde gesagt, Probleme. Woher sollte ein SPD-Sieg noch kommen?

Wahlkampf heißt Wahlkampf, weil man um jede Stimmen kämpfen muss, und das tun wir. Das ist Kärrnerarbeit, Graswurzelwahlkampf,  mit einer sehr breiten Themenpalette, bei der soziale Gerechtigkeit eine herausragende Rolle spielt. Das ganze Geheimnis dieses Wahlkampfs wird darin liegen, dass wir diejenigen, die uns früher mal gewählt haben, beim letzten Mal aber nicht zur Wahl gegangen sind, jetzt zurückgewinnen. Die Chance für ein gutes Ergebnis und eine starke SPD am 22. September liegt in der Mobilisierung der Nichtwähler.

Bleibt es bei der Aussage der SPD: keine Regierungskoalition auf Bundesebene mit der Linkspartei? Andererseits: Würde sich die SPD doch noch einmal eine Große Koalition antun, an deren Ende sie 2009 ein miserables Wahlergebnis einfuhr?

Ich habe als Kanzlerkandidat 2009 eine Koalition mit der Linkspartei ausgeschlossen – aus gutem Grund. Und der Grund hieß nicht alleine Oskar Lafontaine. Die Linkspartei ist in vergangenen vier Jahren nicht regierungsfähiger geworden, eher im Gegenteil. Was die Große Koalition angeht: Ich verstehe Spekulationen von Journalisten. Für uns bleibt es aber dabei: Die Große Koalition liegt hinter uns, nicht vor uns. Wir streiten für eine starke SPD und suchen ein Regierungsbündnis mit den Grünen.

Hat die SPD noch ein Thema in petto, das den Trend drehen könnte, wie 2002 die Absage an den Irakkrieg? Könnte so ein Thema der Abhörskandal sein, nach der Lesart: Merkel hat doch alles gewusst, wir, die SPD, sind die Guten?

In der Tat, ist das ein ganz zentrales Thema. Die Art und Weise, wie die Bundesregierung damit umgeht, ist eine einzige Katastrophe. Der schlagende Beweis dafür war der Satz des Bundesinnenministers, Kritik an der Ausspähung sei eine neue Form von Anti-Amerikanismus. Das – anstatt zu erkennen, dass die Bürger wirklich besorgt sind angesichts lückenloser und flächendeckender Abschöpfung auch privater Internetkommunikation. Es empört mich zudem, dass offenbar auch Botschaften befreundeter Staaten bis hin zu Einrichtungen der EU in den USA abgehört wurden. Das ist 19. Jahrhundert, das passt nicht mehr in das Verhältnis von befreundeten Staaten.

Sie waren unter Gerhard Schröder Kanzleramtsminister und Geheimdienstkoordinator. Wie geht‘s denn da so zu? Wollte die deutsche Seite vielleicht gar nicht so genau wissen, was vor sich geht?

Ich bin seit acht Jahren nicht mehr Geheimdienstkoordinator, kann also keine Auskunft darüber geben, was die aktuelle Bundesregierung wusste oder nicht. Zu meiner Zeit gab es meines Wissens weder Programme der Amerikaner und Briten wie die jetzt aufgedeckten Prism noch Tempora mit einer darauf gestützten flächendeckenden Abhörpraxis. Selbstverständlich müssen alle Staaten um den Schutz ihrer Bürger besorgt sein, zumal die USA nach Nine Eleven. Aber die Abwägung zwischen diesem Schutz und den Freiheitsrechten hat es bei den amerikanischen und britischen Abhöraktionen offenbar nicht gegeben, da ist einiges völlig aus den Fugen geraten.

Rechtsstaatlichkeit und Freiheitsrechte – das dominierende Thema auch in Ägypten, wohin die westliche Welt mit Angst schaut...

Eine furchtbare Situation, die staatliche Ordnung war praktisch nicht mehr existent, es gab keine Brücken mehr zwischen der Muslimbruderschaft, die den ägyptischen Staat  nach religiösen Grundsätzen neu zu ordnen versuchte, und den säkularen, liberalen Kräften. Letztlich wurde wieder die Armee als Garant von Stabilität  gerufen. Ich hoffe nur, dass sie nicht Macht für sich selbst beansprucht, sondern Ägypten den zweiten Versuch auf dem Weg hin zu einer Demokratie ermöglicht.

Muss nicht die größte Angst des Westens darin bestehen, dass ein Staat wie Ägypten unter radikal-islamische Herrschaft gerät?

Ägypten zeigt, wie schwierig und von schlimmen Rückschlägen bedroht der Weg zur Demokratie ist. Aber gerade das Verhalten der Bürger dort ist doch ermutigend: Die lassen sich nicht von religiös geprägtem Machtgehabe beeindrucken, die wollen einen funktionierenden Staat mit politischer und demokratischer Teilhabe und Arbeitsplätzen, die wollen keinen religiösen Fundamentalismus.