Sehr geehrte Frau Präsidentin,
sehr geehrte Damen und Herren,
hätten Sie gedacht, dass vier von fünf Arztpraxen in Deutschland heute im Jahr 2014 noch immer nicht barrierefrei sind? Ja, dass nicht einmal 7% der Praxen barrierefreie Sanitärräume haben?
Ist Ihnen bewusst, dass Ärzte und Pflegekräfte in unseren Krankenhäusern in aller Regel überfordert sind mit der Behandlung von demenzkranken Patienten oder Menschen mit geistiger Behinderung?
Menschen mit erheblichen Behinderungen oder besonders originellem Verhalten haben oft einen komplexen Hilfebedarf. Darauf ist unser Gesundheits-wesen in der Fläche noch nicht eingestellt. Und wir müssen heute ehrlich zugeben, dass die zentrale Intention der UNBRK noch nicht in der Mitte unserer Gesellschaft angekommen ist.
Recht allgemein - und dennoch bestimmt - formuliert Artikel 25 der UN-BRK: „ Die Vertragsstaaten anerkennen das Recht von Menschen mit Behinderungen auf das erreichbare Höchstmaß an Gesundheit ohne Diskriminierung …“ Sehr viel konkreter wird dann Artikel 26: Menschen mit Behinderungen sollen in die Lage versetzt werden, „ ein Höchstmaß an Unabhängigkeit…und die volle Teilhabe an allen Aspekten des Lebens zu erreiche. Zu diesem Zweck organisieren, stärken und erweitern die Vertragsstaaten umfassende Habilitations- und Rehabilitationsdienste und -programme, insbesondere auf dem Gebiet der Gesundheit, …und der Sozialdienste, […].“
Dies bleibt auch 5 Jahre nach Unterzeichnung der Konvention Aufgabe und Herausforderung in unserem Land.
Unüberwindbare Treppen, zu schmale Türen, ungeeignete Behandlungstische und -stühle bei Ärzten und in Krankenhäusern markieren dabei Barrieren, die mit gutem Willen und überschaubarem Ressourceneinsatz in absehbarer Zeit verändert werden können. Ärzte und andere Akteure hätten jedenfalls die als Rechtsanspruch verankerte Zielsetzung der UN-Konvention - aber auch die Zeichen des demografischen Wandels - noch nicht wirklich erkannt, wenn sie diese Missstände nicht zeitnah und konsequent beseitigen würde.
An anderen Stellen sind dickere Bretter zu bohren. So erleben behinderte und chronisch kranke Menschen fast täglich bei der Versorgung mit Arznei- und Heilmitteln die Diskrepanz zwischen ihren gesetzlichen Ansprüchen und der vom Kostendämpfungsbestreben beherrschten Wirklichkeit: Wenn die Zeit fehlt für den Aufbau von Vertrauen und Verstehen, wenn Assistenz nicht zur Verfügung steht. Wenn das Taschengeld nicht reicht, um rezeptfreie Arzneimittel bezahlen zu können. Wenn Kommunikation nicht gelingt, weil man einfach nicht die gleiche „Sprache“ spricht. (Weil bspw. auch der behandlungsspezifische Mehrbedarf im einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) und der Gebührenordnung der Ärzte (GOÄ) nicht angemessen abgebildet wird oder die pauschalierte Bezahlung in der Behindertenhilfe nicht zum komplexeren Hilfebarf stimmig ist.)
Die volle Zugänglichkeit zu Gesundheitsdienstleistungen wird nur dann realisiert, wenn die noch immer erheblich vorhandenen Kommunikationsbarrieren konsequent abgebaut werden. (Am Dienstag haben wir im Gesundheitsausschuss den ausführlichen Teilhabebericht der Bundesregierung diskutiert. Darin ist kritisch vermerkt, dass z.B. Informationsmaterialien oder die Einrichtung eine Homepage in leichter Sprache so gut wie nicht erfolgt, dass Orientierungshilfen für Sehbehinderte oder die Möglichkeit, in Gebärdensprache zu kommunizieren, so gut wie gar nicht vorhanden sind.)
Müssten nicht alle Beschäftigten im medizinischen Bereich eine für Laien verständliche Sprache nutzen, um überhaupt erst eine gute Kommunikation auf Augenhöhe zu ermöglichen? Beipackzettel oder Therapieanweisungen in einfacher Sprache zu formulieren, wäre nicht nur für Menschen mit Behinderung ein legitimer Anspruch. Es wäre ein Gewinn für alle und ein wichtiger Beitrag zu einer bürgernahen Gesundheitsversorgung.
Es gibt viele gute Angebote und fantastische Hilfsmittel (für Menschen mit Behinderungen und chronisch Kranke). Aber die schwierigsten Hürden sind dann zu überwinden, wenn es um die Frage geht:
- Wer trägt die Kosten?
- Wer ist zuständig?
- Wo stelle ich den Antrag?
- Wie hoch ist der Zuschuss?
Solche Barrieren in den Strukturen unseres Sozialleistungssystems müssen dringend überwunden werden. Das SGB IX setzt dafür richtige Akzente und die Einrichtung von medizinischen Behandlungszentren, wie im Koalitionsvertrag vereinbart, ist dafür wichtig.Aber darüber hinaus sollten wir es nicht länger hinnehmen, dass sich die unterschiedlichen öffentlich finanzierten Leistungsträger im Gesundheits- und Rehabereich im Wettbewerb um die jeweilige NICHTzuständigkeit gegenseitig übertreffen, anstatt im Interesse der Patienten kooperativ zusammenzuwirken.
(Komplizierte Antragsverfahren, langwierige Widerspruchsverfahren stellen nicht nur für Menschen mit Behinderungen oder chronisch Kranke unüberwindliche Hürden dar. Sie binden auch enorme Kräfte bei den Leistungsträgern und Leistungsanbietern, die im Sinne der UN-BRK vielmehr dafür eingesetzt werden sollten, Menschen mit Behinderung bei der Verwirklichung Ihres Rechts auf Selbstbestimmung und Teilhabe zu unterstützen.)
Was wir brauchen, ist ein echter Paradigmenwechsel – hin zu einer Kultur der Achtsamkeit, (wie sie etwa die deutsche Ethikerin Elisabeth Conradi in ihrer Care-Ethik ausbuchstabiert hat.) Eine Achtsamkeit, die sich in besonderer Aufmerksamkeit gegenüber jenen Bürgerinnen und Bürgern ausdrückt, die da oder dort - aber eben nicht überall - Rat, Begleitung, etwas mehr Zeit oder gelegentlich auch einmal kräftige Unterstützung brauchen. Eine solche Grundhaltung der Achtsamkeit und des sich Selbstzurücknehmens schützt das Recht und die prinzipielle Fähigkeit eines Menschen, über sich selbst zu bestimmen. Von solchem Geist sollte die Weiterentwicklung unserer Sozialgesetzgebung getragen sein.