Das Verhältnis zu Russland spaltet die Öffentlichkeit. Nicht erst seit der Vergiftung und der jüngsten Verurteilung Nawalnys, sondern bereits seit der völkerrechtswidrigen Annexion der Krim sind die Beziehungen zwischen der Europäischen Union und Deutschland mit dem östlichen Nachbarn schwer belastet. Doch wie mit einem Nachbarn umgehen, der sich immer mehr von der liberalen Demokratie abgrenzt, der zunehmend aggressiv auftritt und dabei keine Gelegenheit auslässt, die EU zu spalten?
Auch bei uns in der SPD wird um den richtigen Kurs gerungen, fühlen wir uns doch aus guten Gründen der Ostpolitik Willy Brandts verpflichtet. „Wandel durch Annäherung“ hat unbestreitbar unsere Welt friedlicher gemacht und einen unverzichtbaren Beitrag zur Einigung Deutschlands und Europas geleistet.
Heute aber droht die Ostpolitik Willy Brandts zum bloßen Schlagwort zu werden – unter anderem für die nostalgisch verklärte Vorstellung, sie ließe sich eins-zu-eins auf das Hier-und-Jetzt übertragen. Denn der unreflektierte Ruf nach einer Rückbesinnung verkennt, was die Ostpolitik damals tatsächlich war. Und er ignoriert dabei allzu oft, was die Bestrebungen des Kremls heute sind.
Der Schlüssel für die Verständigung lag damals in Moskau
Die Brandtsche Ostpolitik erkannte den Status quo zunächst an, um ihn dann zu ändern. Ziel war der friedliche Ausgleich mit unseren östlichen Nachbarinnen und Nachbarn. Dabei lag der Schlüssel für die Verständigung stets in Moskau. Wer beispielsweise Reiseerleichterungen für Menschen in der DDR erreichen wollte, brauchte die Zustimmung der kommunistischen Führung im Kreml.
Einer solchen Zustimmung bedarf es heute glücklicherweise nicht mehr. Deutschland ist vereint, Polen, Litauen, Ungarn, Tschechien und die Slowakei sind souveräne Staaten, mit denen wir die Mitgliedschaft in der EU teilen. Letztlich entsprang Willy Brandts Politik dem Koordinatensystem der Blockkonfrontation und half dabei, sie zu überwinden. Inzwischen ist die bipolare Welt aus den Zeiten des Kalten Krieges Geschichte.
Ein Blick in unsere östliche Nachbarschaft verrät: Einen Status quo, den man heute anerkennen könnte, gibt es schlicht nicht. Zudem wird oft verkannt, dass auch in den Augen von Willy Brandt NATO-Mitgliedschaft und Westbindung als unverrückbare Bedingungen für eine neue Ostpolitik angesehen wurden.
In einer Regierungserklärung 1969 sagte er: „Unser nationales Interesse erlaubt es nicht, zwischen dem Westen und dem Osten zu stehen. Unser Land braucht die Zusammenarbeit und die Abstimmung mit dem Westen und die Verständigung mit dem Osten“.
Konsequente "Ein-Europa-Politik" ist heute notwendig
Zentraler Bestandteil einer klugen Antwort heute muss eine konsequente „Ein-Europa-Politik“ sein. Im Umgang mit Russland brauchen wir einen europäischen Kurs der Geschlossenheit und Entschlossenheit. Denn wie man in den Verhandlungen über das Austrittsabkommen mit dem Vereinigten Königreich gemerkt hat, sind wir gemeinsam viel besser darin, unsere Werte und Interessen durchzusetzen.
Wenn wir uns nicht auseinanderdividieren lassen, dann können wir mit der geballten Kraft der EU gegenüber Russland effektiv für unsere Werte und Interessen eintreten. Bei allen legitimen nationalen Interessen muss die EU der maßgebliche Orientierungs- und Handlungsrahmen sein. Höchste Zeit also, dass wir eine strategische Debatte führen und eine gemeinsame europäische Russlandpolitik zur Priorität machen.
Trotz oder gerade wegen aller Differenzen darf Sprachlosigkeit im direkten Umgang mit Moskau keine Option sein. Die EU hat ein strategisches Interesse daran, den Dialog mit Russland zu pflegen. Dabei geht es nicht nur um das notwendige Management schwieriger Beziehungen und die Vermeidung weiterer Eskalation.
Wir müssen auch im Gespräch bleiben, um wertvolle Räume für zivilgesellschaftlichen Austausch offen zu halten. Zudem lassen sich zahlreiche internationale Bewährungsproben nur gemeinsam mit Russland lösen. Das gilt für die Beilegung von Konflikten, etwa in der Ukraine, in Belarus, Syrien oder Libyen.
Das gilt für Fragen der internationalen Rüstungskontrolle und Abrüstung. Und das gilt für globale Fragen wie den Klimawandel und die Bekämpfung von Epidemien. Gerade die Bereiche Umwelt, Klima und Gesundheit haben Potenzial für eine vertiefte Zusammenarbeit, von der beide Seiten spürbar profitieren können.
Auf Dialog zu setzen, bedeutet nicht, vor Putin zu kuschen
Weiterhin auf Dialog zu setzen, bedeutet aber keineswegs, vor Präsident Putin zu kuschen oder Störendes zuzuschminken. Wenn es um unsere Werte und Interessen geht, dürfen wir die Auseinandersetzung nicht scheuen. Letztlich müssen und können wir beides: belastbare Kanäle für die Lösung gemeinsamer Probleme offenhalten und im direkten Umgang mit Moskau Klartext reden. Je schwieriger unser Verhältnis zu Russland ist, desto deutlicher sollte unsere Sprache sein. Wir dürfen keinerlei Zweifel daran lassen, dass unsere Grundwerte für uns Europäerinnen und Europäer nicht verhandelbar sind.
Daher hat die EU im Fall Nawalny kein Blatt vor den Mund genommen und mit gezielten Sanktionen entschlossen reagiert. Die Botschaft: Ein schlichtes „Weiter so“ wird es nicht geben. Wenn Völkerrechtsbrüche und schwere Menschenrechtsverletzungen durch den Einsatz von chemischen Kampfstoffen begangen werden, wenn rechtsstaatliche Prinzipien und Bürgerrechte in Gefahr sind, dann geht uns das alle an.
Gerade in Zeiten, in denen die russische Regierung nur eingeschränkt gesprächsbereit ist, müssen wir den „Wandel durch Annäherung“ auf Ebene der Zivilgesellschaft fortsetzen. Nur so können wir verhindern, dass sich die Menschen beider Länder weiter entfernen. Daher gilt es, die Zusammenarbeit in Kultur, Wissenschaft, Sport und Medien aktiv zu fördern. Eine besondere Bedeutung kommt auch dem Jugendaustausch zu. Junge Menschen sind die Brückenbauerinnen und Brückenbauer der Zukunft. Hier sollten wir durch Visaerleichterungen für junge Menschen ein Zeichen setzen, dass wir sie auch in Zeiten schwieriger Beziehungen nicht alleine lassen.
Russlandpolitik muss Teil einer europäischen Ostpolitik sein
Wirklich klug kann eine europäische Russlandpolitik aber nur sein, wenn sie Teil einer ambitionierten europäischen Ostpolitik ist. Denn zu einer europäischen Ostpolitik des 21. Jahrhunderts, die sich nicht dem Denken in bloßen geostrategischen Einflusssphären beugt, gehören eben nicht nur unser größter Nachbar, sondern gehören auch die anderen Staaten in unserer östlichen Nachbarschaft. Viele davon waren selbst Teil der Sowjetunion oder wurden von ihr beherrscht. Ihre Erfahrungen, ihre Sorgen und Ängste müssen wir ernster nehmen und besser mitdenken, als das in der Vergangenheit zuweilen der Fall war.
Gerade Deutschland kommt dabei die Rolle als Brückenbauer und Mittler zu. Im Kreise der EU sollten wir jetzt zügig weitere Anstrengungen unternehmen, um die sogenannte Östliche Partnerschaft zu stärken und unsere Partnerländer insbesondere bei Reformen in den Bereichen Rechtsstaat, Demokratie, Wirtschaft und Nachhaltigkeit bestmöglich zu unterstützen.
Letztlich darf eine europäische Ostpolitik aber niemals dazu führen, dass souveräne, unabhängige Staaten zwischen ihren traditionellen Bindungen zu Russland und ihrer Europaorientierung zerrieben werden. Die Menschen in den Ländern sollen selbst über ihren Weg entscheiden können und nicht zwischen der EU und Russland wählen müssen. Sei es in Belarus oder andernorts. Auch dem russischen Präsidenten steht dabei kein Veto-Recht zu. Eine Hinwendung zu Europa bedeutet eben nicht zwangsläufig eine Abwendung von Russland.
Nationale Interessen in die europäischen Interessen einordnen
Wenn wir wollen, dass Europa außenpolitisch handlungsfähiger wird, dann müssen wir auch bereit sein, unsere nationalen Interessen in die europäischen Interessen einzuordnen. So können wir es schaffen, unsere Werte und Interessen effektiv durchzusetzen. Gegenüber Russland braucht die EU heute einen realistischen Blick auf die Gegebenheiten, geschlossenes Auftreten gepaart mit klarer Haltung und nicht zuletzt einen langen Atem – mit gezieltem Druck, wo nötig, und Angeboten der Zusammenarbeit und Entspannung, wo möglich.
Ernsthafte Reformbemühungen in Ländern der Östlichen Partnerschaft sollten mit zusätzlichen, attraktiven Angeboten der Kooperation und weiteren Annäherung eng begleitet werden. Eine glaubwürdige und konsequente europäische Ostpolitik ist ein unabdingbarer Schritt in Richtung der viel beschworenen „Weltpolitikfähigkeit“ der EU.