Herr Bundespräsident! Herr Bundesratspräsident! Frau Bundeskanzlerin! Herr Präsident des Bundesverfassungsgerichtes! Lieber Navid Kermani! Meine sehr verehrten Kolleginnen und Kollegen! Was für eine lebendige Feierstunde!
Ich danke dem Bundestagspräsidenten dafür, dass er sie initiiert hat. Ich glaube, wenn das Grundgesetz selbst einen Wunsch hätte äußern können, wie sein Geburtstag gefeiert werden soll, es hätte sich eine solche Feierstunde und vor allen Dingen hätte es sich eine solche Festrede wie die von Navid Kermani gewünscht.
Das Grundgesetz hat uns nach dem Ende der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft 65 Jahre lang ein Leben in Frieden und Freiheit gesichert, es hat die Wiedervereinigung ermöglicht, und es hat uns, wie der Historiker Edgar Wolfrum es formuliert hat, eine „geglückte Demokratie“ beschert. Schon deshalb ist das Grundgesetz die beste Verfassung, die Deutschland jemals hatte.
Auch nach 65 Jahren ist unser Grundgesetz immer noch modern. Es wurde vom Parlamentarischen Rat bewusst als offene Verfassung angelegt. Es lässt gesellschaftliche Veränderungen nicht nur zu, es hat auch selbst gesellschaftsverändernde Kraft.
Vor allem die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes zu den Grundrechten hat unser Land moderner gemacht und die rechtliche Stellung und vor allem die Lebenswirklichkeit von vielen Menschen spürbar verbessert. Ich denke zum Beispiel an die Urteile zur Gleichberechtigung von Frauen, zur Gleichstellung homosexueller Lebenspartnerschaften oder zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Die Frage, die sich heute stellt, ist, ob unser Grundgesetz seine Schutzfunktion für die Menschen und seine wirklichkeitsprägende Kraft auch weiterhin entfalten kann. Ich sehe drei große Herausforderungen.
Die erste Herausforderung: Deutschland ist heute das wichtigste Einwanderungsland in Europa. Unser Land ist attraktiv für gut ausgebildete Menschen, die nach Deutschland kommen wollen, um zu arbeiten, um Geld zu verdienen und um ihr Glück zu machen. Allein in den letzten beiden Jahren sind fast 800 000 Menschen mehr nach Deutschland gekommen als weggegangen sind. Das ist gut; denn wir brauchen diese Menschen, um bei einer schrumpfenden Bevölkerung unseren Wohlstand zu erhalten.
Zuwanderung bereichert unser Land aber nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell.
Wir müssen allerdings noch lernen, mit dieser kulturellen Diversität positiv umzugehen, und das Grundgesetz hilft uns dabei. Es will Toleranz, es akzeptiert Meinungsunterschiede, Pluralität von Religionen sowie kulturelle Vielfalt. Es bietet deshalb alle Voraussetzungen, unsere faktische Einwanderungsgesellschaft zu einer Gesellschaft freier und gleichberechtigter Bürger zu machen, zu einer Gesellschaft, in der alle die gleichen Rechte, Pflichten und Chancen haben, unabhängig von ihrer Herkunft, Hautfarbe und Religion.
Die zweite große Herausforderung ist der Schutz der Grundrechte im digitalen Zeitalter. Das Grundgesetz schützt unsere private, geschäftliche und politische Kommunikation. Es garantiert das Post- und Fernmeldegeheimnis, und wo Lücken waren, hat sie das Bundesverfassungsgericht mit dem Recht auf informationelle Selbstbestimmung und dem Grundrecht auf die Vertraulichkeit und Integrität informationstechnischer Systeme geschlossen.
Dieser Grundrechtsschutz hat jahrzehntelang gut funktioniert, aber er stößt jetzt an seine nationalen Grenzen; denn im weltweiten Netz werden unsere elementaren Freiheitsrechte gleich von zwei Seiten bedroht: zum einen von Regierungen und Nachrichtendiensten wie der NSA, die ihre Kontrolle ausweiten und im Namen der Sicherheit schrankenlose Überwachungsprogramme auflegen, zum anderen von mächtigen Konzernen wie Google und Facebook, die sich das Internet als Werkzeug zur Durchsetzung ihrer wirtschaftlichen Interessen aneignen und unser Verhalten vorhersagen und steuern möchten.
Angesichts dieser doppelten Bedrohung geht es nicht mehr nur um die klassische Idee der Grundrechte als Abwehrrechte gegen den Staat. Der Staat muss heute gleichzeitig die Grundrechte der Bürger vor dem Zugriff internationaler privater Wirtschaftsmacht schützen.
Wir kommen deshalb nicht umhin, die Funktion der Grundrechte im digitalen Zeitalter neu zu justieren.
Was wir jetzt brauchen, ist eine breite gesellschaftliche und politische Debatte darüber, in welchen Grenzen Überwachung in Demokratien zulässig ist und wo der unantastbare Kernbereich privater Lebensführung beginnt. Es geht dabei nicht nur um den Schutz jedes Einzelnen von uns. Es geht um die Demokratie insgesamt; denn eine geschützte Privatsphäre ist genauso wie die Meinungsfreiheit schlechthin konstituierend für eine freiheitliche Demokratie.
Die dritte große Herausforderung ist die notwendige Vertiefung der Europäischen Union. Welchen Wert die EU für uns hat, ist in diesen Tagen allen besonders bewusst. In der Ukraine erleben wir, wie das Völkerrecht gebrochen wird und nationalistisches Denken wieder Einzug hält. Wir merken: Auch 100 Jahre nach dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges ist es keine Selbstverständlichkeit, in Europa in Frieden zusammenzuleben. Die Entscheidung für die EU ist deshalb der beste Weg, den Frieden zu sichern. Aber die EU steht nicht nur für Frieden, sondern auch für gemeinsame Werte wie Freiheit, Demokratie und Solidarität. In unserer globalisierten Welt ist jedes einzelne europäische Land zu schwach, diese Werte allein zu verteidigen. Deshalb kann nur ein vereintes, ein wirtschaftlich starkes, ein demokratisches und soziales Europa unsere Werte und Interessen in der Welt behaupten.
Auf dem Weg dahin hat uns das Bundesverfassungsgericht enge Grenzen gesetzt. Ich bin aber überzeugt, dass das Grundgesetz uns nicht nur die deutsche Einheit ermöglicht hat, sondern uns am Ende auch die europäische Einheit ermöglichen wird; denn das Grundgesetz will ausdrücklich, dass wir Deutschen als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden in der Welt dienen. Das sollten alle, die am Sonntag zur Europawahl gehen, bedenken. Und all diejenigen, die nicht zur Wahl gehen wollen, sollten das erst recht bedenken.
Ich danke Ihnen.