Die europäische Integration war schon immer ein Laborversuch mit ungewissem Ausgang. Und das wird auch so bleiben. Denn eine Demokratie muss sich immer wieder neu erproben, wenn sie lebendig bleiben will. Eine genaue Versuchsan-leitung hat es für die EU nie gegeben. Weil der große Wurf zu einem föderalen Europa bislang nicht möglich war, haben sich überzeugte Europäer stets experimentierfreudig gezeigt. Oft haben institutionelle Neuerungen erst über Umwege Einzug in die politische Praxis gehalten. So hat sich das Europaparlament Schritt für Schritt von einer Versammlung entsandter nationaler Abgeordneter zu einem direkt gewählten, einflussreichen Mitgesetzgeber emanzipiert. Auch der Europäische Rat mauserte sich zum Machtzentrum, obwohl er lange Zeit in keinem Vertragstext auftauchte.

Die EU hat schon immer nach dem Prinzip „trial and error“ funktioniert: Der Erfolg heiligt die Mittel, der Misserfolg eröffnet neue Wege. Diese Logik haben die Staats- und Regierungschefs zuletzt besser verinnerlicht als die gewählten Volksvertreter. Angela Merkel und Co. haben aus der Not der Krise eine Tugend gemacht und eine europäische „Räterepublik“ errichtet, in der die Parlamente nur wenig mitzuentscheiden haben. Auch wenn die Mitwirkungsrechte des Bundestages gestärkt wurden, bleibt das europäische Krisenmanagement vor allem eine Regie-rungsveranstaltung. In der „marktkonformen Demokratie“, die der Bundeskanzlerin vorschwebt, sind die Parlamentarier nur ein lästiger Störfaktor. Dabei wird oft verkannt, dass die Parlamente auch der Stabilitätsanker der europäischen Politik sein könnten. Schließlich waren es die Regierungen, die Europa in eine tiefe Vertrauenskrise und politische Instabilität gestürzt haben. Nun liegt es in der Hand der Parlamente, der krisengeschüttelten EU einen Vertrauens- und Stabilitätsschub zu versetzen.

Doch der „Kreativität“ der Regierungen hatten Europas Parlamentarier bislang wenig entgegenzusetzen. Dabei braucht Europa gerade jetzt keine gefügigen Abnickparlamente, sondern selbstbewusste Volksvertreter, die an einem Strang zie-hen, um die Euro-Rettungspolitik aus dem parlamentarischen Niemandsland zu holen. Fakt ist: Kein Parlament in Europa ist stark genug, um im Alleingang die demokratische Legitimation europapolitischer Entscheidungen zu sichern. Wenn das „Europa der Regierungen“ zum „Europa der Parlamente“ werden soll, dann schaffen das die nationalen Parlamente und das Europäische Parlament nur gemeinsam.

Die erste Gelegenheit, um Kooperationswillen und Kreativität unter Beweis zu stel-len, bietet ausgerechnet der Fiskalpakt – der Vertrag, den die Regierungen unter Ausschluss der Parlamente und außerhalb des EU-Rahmens geschlossen haben. Artikel 13 des Fiskalvertrags eröffnet die Chance für nationale und europäische Ab-geordnete, die haushalts- und wirtschaftspolitische Koordinierung gemeinsam zu begleiten. Von den regelmäßigen interparlamentarischen Konferenzen würden beide Seiten ihren Nutzen ziehen: Die nationalen Volksvertreter könnten ihren Blick weiten und sich vernetzen. Die Europaparlamentarier bekämen ein besseres Gespür für die Debatten in den Mitgliedstaaten, in denen „Europa“ meist kontroverser diskutiert wird als in Brüssel.

Sollte sich der Versuchsballon einer interparlamentarischen Konferenz bewähren, könnte sie gar zur Keimzelle für ein Euro-Parlament werden – einem eigenen Parlament für die Eurozone. Denn schließlich müssen die Euro-Staaten künftig noch enger zusammenrücken. Neben die Währungsunion muss eine echte Wirtschafts-, Fiskal- und Sozialunion treten, in der die Mitgliedstaaten ihre nationalen Politiken verbindlich abstimmen. Eine gemeinsame Währung braucht klare Regeln, die demokratisch legitimiert sind und deren Nichteinhaltung sanktioniert wird. Hierüber dürfen nicht allein die Staats- und Regierungschefs, Minister oder EU-Kommissare entscheiden. Ein Euro-Parlament wäre ein echter Durchbruch, um die Demokratie-Lücke in den bislang weitgehend intergouvernemental geprägten Koordinierungsmechanismen zu schließen.

Wie fragil die Partnerschaft der Parlamente immer noch ist, zeigen die heftigen Ab-wehrreflexe aus Brüssel gegen alle Bestrebungen, die Parlamentarisierung Europas auf eine breitere Basis zu stellen. Dabei sind die Pläne für ein Euro-Parlament keine Kampfansage an das Europäische Parlament. Sie bilden nur das ab, was im europäischen Mehrebenensystem eigentlich selbstverständlich sein sollte: Die Parlamente in Brüssel und den Mitgliedstaaten sind keine Gegner, sondern Partner auf Augenhöhe. Weder soll das Europaparlament entmachtet, noch sollen die nationalen Volksvertretungen durch einen Superstaat Europa aus-gehöhlt werden.

Die Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs sind inzwischen eine feste Größe im EU-Kalender. Mit einem Euro-Parlament gäbe es endlich auch einen Gipfel für Europas Parlamentarier. Das wäre doch mal einen Versuch wert im Demokratielabor Europa!

Michael Roth ist europapolitischer Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion.