Manche Dörfer haben womöglich deshalb keine Mitte, weil sich Protestanten und Katholiken nicht auf eine gemeinsame Mitte einigen konnten. Die Kirchen wurden auf gegenüberliegenden Anhöhen errichtet, die Kanonen aufeinander ausgerichtet und in Bereitschaft gehalten. An Fronleichnam fuhren die protestantischen Bauern den Mist raus. An Karfreitag wurde die katholische Wäsche rausgehangen. Wenn ein neues Gemeindehaus gebaut werden musste, war das Wichtigste, dass es größer war als das von der Konkurrenz. Gemischtkonfessionelle Ehen führten zu heftigen Auseinandersetzungen in den Familien.
Das ist alles noch nicht so lange her. Eine Sache kritisch zu betrachten, ist keine Form der Abwendung, sondern der Zuwendung. Das, was als Reformation geendet hat, war ursprünglich nicht gegen die (katholische) Kirche gerichtet gewesen, sondern gegen den Zustand, in dem sie sich befand und die Zustände, für die sie mit verantwortlich war. Dass einer aufstand und das beim Namen nannte, an die Schlosskirche hängte und allen Konsequenzen tapfer begegnete, fasziniert mich noch heute. Es macht einen Menschen stark, seinem Gewissen zu folgen. Es ist auch ein Erbe der Reformation, dass ich als Abgeordneter nach unserem Grundgesetz nur meinem Gewissen unterworfen bin. Das ist befreiend und herausfordernd.
Die katholische Kirche nicht unberührt
Auf die Reformation folgt die Gegenreform, auf die Revolution die Restauration. Die Reformation ließ auch die katholische Kirche nicht unberührt. Die Reaktion bestand nicht nur im Bestehen auf dem, was Kritik ausgelöst hatte, sondern stärkte die Kräfte, die ebenfalls eine Reform anstrebten, nur innerhalb, nicht außerhalb der Kirche. Vergleichbares lässt sich in der Musik finden, wo Neuerungen der protestantisch geprägten Kirchenmusik zunächst heftigen Widerstand auslösten, um danach doch Einzug in das Repertoire zu halten.
Freiheit, die man einmal geschmeckt hat, lässt einen nicht wieder los. Das ist die Hoffnung unserer Zeit, die durch das Gedenken an die Reformation gespeist und gestärkt wird.