Wenn Anna Kassautzki in ihrem Wahlkreis in Vorpommern unterwegs ist, trifft sie viele Menschen, bei denen das Geld knapp ist. „Manche haben nur um die 1200 Euro netto pro Monat“, erzählt sie. Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro die Stunde ab Oktober werde für sie einen willkommenen Puffer schaffen: „Gerade bei den gestiegenen Lebensmittelpreisen machen 200 Euro auf dem Konto am Ende des Monats eine ganze Menge aus“, sagt die Bundestagsabgeordnete.

Die 28-Jährige hat den Wahlkreis Vorpommern-Rügen – Vorpommern-Greifswald I im vergangenen September direkt gewonnen und der Union abgejagt – ihre Amtsvorgängerin hieß Angela Merkel. Attraktive Teile der Ostseeküste und die Insel Rügen gehören dazu.

Während Menschen aus ganz Deutschland anreisen und viel bezahlen, um hier einen schönen Urlaub zu verbringen, arbeiten ganze 40 Prozent der Männer und 44 Prozent der Frauen im Niedriglohnsektor. Damit gehören die Menschen hier zu jenen, die am allermeisten von der Erhöhung des Mindeslohns profitieren werden.

Wichtiges Thema im Wahlkampf

Da ist es kein Wunder, dass Kassautzki Erfolg hatte, auch weil sie für die Erhöhung des Mindestlohns warb: „Ich bin mit dem Thema mit wehenden Fahnen in den Wahlkampf gezogen“, erzählt sie.

Gut ein Jahr nachdem die Wahl von Anna Kassautzki und 206 weiteren Abgeordneten die SPD-Fraktion zur größten Fraktion im Bundestag machten, wird die Erhöhung des Mindestlohns Realität. Der Bundestag hat das Gesetz mit den Stimmen der Ampel-Fraktionen Ende Mai verabschiedet, am 1. Oktober tritt es in Kraft.

Ein Meilenstein, nicht nur für Vorpommern. Über sechs Millionen Beschäftigte in ganz Deutschland werden von der Lohnerhöhung profitieren. Es sei eine „Frage des Respekts“ für harte Arbeit, sagte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) im Bundestag, als das Gesetz verabschiedet wurde. Für Niedriglöhner sei dies „möglicherweise der größte Lohnsprung in ihrem Leben“, so Heil.

Für manche Beschäftigte bedeutet er eine Steigerung von nicht weniger als 22 Prozent. Wer bisher Vollzeit auf Basis des Mindestlohns brutto 1.700 Euro verdient, erhält zukünftig 2.100 Euro, rechnete Heil vor. „Das ist zwar immer auch noch nicht die Welt, aber spürbar mehr im Portemonnaie.“

Lohnuntergrenze wurde 2015 eingeführt

Die Erhöhung des Mindestlohns auf zwölf Euro ist eine wichtige Etappe in der noch jungen Geschichte der gesetzlichen Lohnuntergrenze, die erst 2015 in Deutschland gezogen wurde. Zuvor waren in manchen Branchen Löhne von weniger als fünf Euro Realität – was auch den Steuerzahler kostete. Denn die Jobcenter mussten mächtig aufstocken, damit diese Arbeitnehmer:innen überhaupt irgendwie über die Runden kamen.

Auch die SPD-Politikerin Anna Kassautzki profitierte damals von der Einführung des Mindestlohns: Ende 2014 kellnerte sie als Studentin in Passau, verdiente 6,50 Euro die Stunde. Der Lohnsprung auf 8,50 Euro zum 1. Januar 2015 gefiel ihrem Chef gar nicht: Er beschwerte sich, dass die Küchenhilfe auf einmal soviel bekomme wie sein gelernter Koch. Kassautzki schlug dem Chef vor, dem dann doch auch das Gehalt zu erhöhen. „Das fand der nicht so witzig“, sagt sie heute. „Es war ein gutes Gefühl, zwei Euro mehr zu bekommen“.

Die Lohnuntergrenze wird seit ihrer Einführung von einer Mindestlohnkommission bestimmt, in der Vertreter:innen der Sozialpartner ihre Entscheidung selbstständig treffen, ohne Einfluss der Regierung. Bisher wurde der Mindestlohn vier Mal erhöht: zuletzt zum 1. Juli auf 10,45 Euro.

Der nun bevorstehende Sprung ist also die größte Erhöhung seit der Einführung im Jahr 2015. Sie wurde ausnahmsweise nicht von der Kommission, sondern von der Ampel-Koalition beschlossen. In Zukunft soll die Entscheidungsmacht über weitere Erhöhungen wieder in die Hände der Mitglieder der Mindestlohnkommission gelegt werden.

Leere Drohungen

Als die Einführung der Lohnuntergrenze 2014 diskutiert wurde, war die Aufregung groß. Kritiker prophezeiten den Verlust von mehreren Hunderttausend Arbeitsplätzen. Gegner des Mindestlohns argumentierten: „Dann werden die Leute zu teuer und einfach gekündigt.“ Eine leere Drohung. Laut dem Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit haben weder die Einführung noch die danach folgenden Erhöhungsschritte „spürbar negative Beschäftigungseffekte“ nach sich gezogen.

Dafür gab es aber durchaus positive Effekte, berichtet das IAB: Seit der Einführung des Mindestlohns sei die Einkommensungleichheit insgesamt gesunken: Sowohl die Unterschiede zwischen den Einkommen in Ost und West als auch diejenigen zwischen Männern und Frauen hätten sich verringert.

Auch im Wahlkreis von Anna Kassautzki, in dem der Niedriglohnsektor besonders groß ist, hat der Mindestlohn keine Jobs vernichtet. Der Arbeitsmarkt habe sich im Landkreis Vorpommern-Greifswald auch nach 2015 gut entwickelt, sagt Gunther Gerner, Geschäftsführer des Jobcenters Greifswald. Und in der Tat: Die Arbeitslosenquote ist von 13,6 Prozent im Jahr 2014 (12,7 Prozent im Jahr 2015) auf 8,6 Prozent im Jahr 2021 gesunken. In der Summe seien keine Stellen abgebaut worden – im Gegenteil, die Anzahl der sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sei von 80.200 im Jahr 2015 auf 82.948 im Jahr 2021 gestiegen, so Gerner. Ein positiver Nebeneffekt: Ein höherer Mindestlohn erhöht den Abstand zwischen Lohn und staatlichen Transferleistungen und verstärkt dadurch den Anreiz, Arbeit aufzunehmen.

Expert:innen erwarten positive gesamtwirtschaftliche Effekte 

Wie genau sich die weitere Erhöhung des Mindestlohnes auf zwölf Euro im Detail auswirken wird, kann man noch nicht abschließend vorhersagen. Expert:innen der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung erwarten jedoch auch durch die Erhöhung auf zwölf Euro keine nennenswerten ungünstigen Auswirkungen auf die Beschäftigung, dafür jedoch positive gesamtwirtschaftliche Effekte.

„Angesichts der hohen Teuerung ist es zentral, dass die Einkommen von Menschen mit geringen Verdiensten gestärkt werden“, sagt Sebastian Dullien, wissenschaftlicher Direktor des Instituts für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung.

Simulationsstudien zeigten zugleich positive gesamtwirtschaftliche Effekte der Mindestlohnerhöhung, beispielsweise auf die Konjunktur und den Spielraum für öffentliche Investitionen. Nachfrage und Produktivität könnten durch die höheren Löhne gesteigert werden. Die Befürchtungen mancher Skeptiker, die Lohnerhöhungen könnten die Inflation weiter anheizen, teilen die Wissenschaftler nicht.

Beschäftigte in der Gastronomie und im Einzelhandel profitieren besonders

Profitieren vom höheren Mindestlohn werden der Stiftung zufolge insbesondere Beschäftigte in der Gastronomie und im Einzelhandel. Nicht nur Ungelernte, sondern auch Beschäftigte mit Ausbildung etwa als Bäckereifachverkäufer:in, Friseur:in oder Hotelfachfrau/mann würden oft unter zwölf Euro bezahlt.

Doch es gibt ein weiteres Problem: Niedriglöhne sind auch vor allem dort verbreitet, wo es keine Tarifverträge gibt. Galt um die Jahrtausendwende noch für 68 Prozent der Beschäftigungsverhältnisse bundesweit eine Tarifbindung, so ist diese Quote inzwischen auf etwa 50 Prozent gefallen.

Auch in Vorpommern sei die Tarifbindung „nicht üppig“, wie Volker Schutz, Regionalgeschäftsführer des Deutschen Gewerkschaftsbundes sagt. Sie liege nur zwischen 30 und 40 Prozent. Der in der Region vorherrschende Dienstleistungssektor, der von kleinen Betriebseinheiten geprägt ist, sei gewerkschaftlich kaum organisiert. „Der Mindestlohn ist für uns nur eine Krücke“, sagt er. Für ihn sei es darüber hinaus wichtig, mehr Unterstützung aus der Politik zu bekommen, was die Tarifbindung angehe.

Mehr Tarifbindung ist norwendig

Die wird er bekommen, denn es gibt dafür schon konkrete Pläne. „Die Erhöhung des Mindestlohns ist in der Tat oft ein Akt der Notwehr gegen sinkende Tarifbindung und unanständige Löhne“, sagt die stellvertretende Vorsitzende der SPD-Fraktion im Bundestag, Dagmar Schmidt. „Zwölf Euro sind nicht das Ende unserer Vorstellungen. Wir wollen wieder mehr Tarifbindung in Deutschland.“ Im Koalitionsvertrag sei vereinbart, dass öffentliche Aufträge des Bundes in Zukunft nur an die Unternehmen gehen, die nach Tarif bezahlen. Lohndumping dürfe kein Wettbewerbsvorteil sein.

Das sieht auch Anna Kassautzki so: „Es müssen ordentliche Tariflöhne her“, fordert sie. Aber jetzt, so die Abgeordnete, „freuen sich hier bei uns erst mal alle tierisch auf die zwölf Euro Mindestlohn“.