spdfraktion.de: Sie haben schon in den 80er Jahren gemeinsam mit anderen Verfassungsschützerinnen und -schützern ein Papier mit dem Titel „Thesen zur Entmythologisierung des Verfassungsschutzes“ verfasst. Darin forderten sie eine progressivere Ausrichtung der Behörde und eine stärkere Einbindung der Gewerkschaften. Was hat sich aus Ihrer Sicht getan?

Die damaligen Bemühungen der ÖTV haben zweifellos mit dazu beigetragen, dass inzwischen alle Verfassungsschutzbehörden eigene Arbeitseinheiten für Presse- und Öffentlichkeitsarbeit unterhalten, die mit Vorträgen, Broschüren, Ausstellungen und Interviews versuchen, den Bürgern ein realistisches Bild der Arbeit, der gesetzlichen Grundlagen und der Kontrolle des Verfassungsschutzes zu vermitteln. Eine Internet-Recherche nach „Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes“ ergibt mit Google derzeit über 1.800.000 Treffer.
Verblüffend für mich war, dass sich dennoch wegen der Verfassungsschutzpannen bei der Bearbeitung bzw. Aufarbeitung der NSU-Morde in der Presse und in der Politik schnell unsägliche Verschwörungstheorien breit machten, die leider zum Teil auch von Mitgliedern unserer Partei aufgegriffen wurden. Offensichtlich ist die „Entmythologisierung“ des Verfassungsschutzes noch nicht vollständig gelungen.

Wie muss man sich gewerkschaftliche Arbeit und gewerkschaftliches Engagement in einem Geheimdienst vorstellen?

Der Hauptvorstand der ÖTV hatte 1969 eine Bundesfachgruppe Verfassungsschutz eingerichtet und systematisch gefördert, um ÖTV-Mitgliedern im Verfassungsschutz eine aktive und solidarische Teilnahme an der Gewerkschaftsarbeit zu ermöglichen und  gewerkschaftliche Zielsetzungen in den Verfassungsschutzbehörden zu verankern. Zu den ersten Forderungen der Bundesfachgruppe zählten die Einrichtung einer gemeinsamen Schule für Verfassungsschutz, die Einrichtung parlamentarischer Kontrollkommissionen, die Weiterentwicklung und Angleichung der Verfassungsschutzgesetze im Bund und den Ländern und die Verstärkung der Öffentlichkeitsarbeit des Verfassungsschutzes. Insbesondere die Forderung nach parlamentarischer Kontrolle des Verfassungsschutzes stieß 1974 auf heftigen Widerstand der Leiter der Verfassungsschutzbehörden – heute eine weitgehend akzeptierte Selbstverständlichkeit.
Leider sind die Aktivitäten der Bundesfachgruppe Verfassungsschutz nach dem Zusammenschluss der ÖTV mit anderen Dienstleistungsgewerkschaften zum Erliegen gekommen; bei ver.di gibt es derzeit keine vergleichbaren Initiativen.

Gibt es Personalräte? Wer ist wahlberechtigt? Wie verhält sich das dort mit Klarnamen?

Die Personalräte in den Verfassungsschutzbehörden werden – wie in anderen Behörden auch – ganz normal nach den jeweiligen in Bund und Ländern geltenden Personalvertretungsgesetzen gebildet. Einschränkungen gibt es allerdings zum Beispiel im BpersVG für das BfV:

"§ 87
Für das Bundesamt für Verfassungsschutz gilt dieses Gesetz mit folgenden Abweichungen:
1. Der Leiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz kann nach Anhörung des Personalrates bestimmen,dass Beschäftigte, bei denen dies wegen ihrer dienstlichen Aufgaben dringend geboten ist, nicht an Personalversammlungen teilnehmen.
2. Die Vorschriften über eine Beteiligung von Vertretern oder Beauftragten der Gewerkschaften und Arbeitgebervereinigungen (§ 20 Abs. 1, §§ 36, 39 Abs. 1, § 52) sind nicht anzuwenden.
3. Bei der Beteiligung der Stufenvertretung und der Einigungsstelle sind Angelegenheiten, die lediglich Beschäftigte des Bundesamtes für Verfassungsschutz betreffen, wie Verschlusssachen des Geheimhaltungsgrades "VS-VERTRAULICH" zu behandeln (§ 93), soweit nicht die zuständige Stelle etwas anderes bestimmt."

Was genau sind die Aufgaben eines Personalrates bzw. einer Gewerkschaft beim Verfassungsschutz?

Die Aufgaben eines Personalrates beim Verfassungsschutz unterscheiden sich nicht von den Aufgaben von Personalräten in anderen Behörden. Einschränkungen ergeben sich ausschließlich aus dem oben zitierten § 87 BpersVG und vergleichbaren Länderregelungen. Bei Streitigkeiten mit dem Arbeitgeber und rechtlicher Unterstützung durch eine Gewerkschaft oder einen Anwalt kann es für Bedienstete allerdings unter Umständen erforderlich sein, eine Aussagegenehmigung einzuholen.

Ist es überhaupt möglich, ohne Behinderung durch den Arbeitgeber/die Innenministerien und ohne Gefahr zu laufen, dem Dienst zu schaden, sich als Verfassungsschützer gewerkschaftlich zu engagieren?

Gewerkschaftliche Aktivitäten haben immer das Potential zu Konflikten mit dem Arbeitgeber, das ist in Verfassungsschutzbehörden nicht anders als im sonstigen Öffentlichen Dienst. Mitarbeiter des BfV haben zum Beispiel mit dem Personalrat in Köln im Jahr 2006 erstmals öffentlich unter Fernsehbeteiligung gegen damalige Umzugspläne nach Berlin demonstriert. Meines Wissens hat keiner der Beteiligten irgendwelche Nachteile dadurch erlitten.
Bei Einbindung in empfindliche operative Maßnahmen könnte ein öffentliches Auftreten als Verfassungsschutzmitarbeiter natürlich zu erheblichen Sicherheitsproblemen führen. Die erforderliche professionelle Zurückhaltung ist den betroffenen Mitarbeitern aber nach meiner Erfahrung immer bewusst gewesen.

Ganz konkret: Wie kann in einer so komplexen Geheimhaltungsbehörde zum Beispiel gleicher Lohn für gleiche Arbeit durch- bzw. umgesetzt werden? Die Stellenprofile und Qualifikationen dürften sich ja doch sehr unterscheiden.

Eine völlige Angleichung der Bezahlung vergleichbarer Tätigkeiten über alle Verfassungsschutzbehörden hinweg war uns nie gelungen – zu unterschiedlich waren die Stellen- und Strukturpläne der einzelnen Ämter. Solange die Diskussion intern unter Verfassungsschutzmitarbeitern, den Personalräten, Behördenleitungen und Ministerien lief, war sie aber insofern unproblematisch, weil alle Beteiligten zum Umgang mit Verschlusssachen ermächtigt waren.
Ein generelles Ärgernis – nicht nur für den Verfassungsschutz – ist, dass die veralteten Tätigkeitsmerkmale des BAT nach der Einführung des TVöD immer noch nicht aktualisiert worden sind.

Die SPD-Bundestagsfraktion fordert als eine Konsequenz aus dem Ermittlungsdebakel rund um die NSU-Mordserie eine verbesserte Ausbildung für Verfassungsschützer und für die Quellenführer. Auch die Rekrutierer von V-Leuten sollen geschult werden. Wie ließe sich das umsetzen? Sollte es beispielsweise eine Schule geben für Verfassungsschützer?

Die 1981 eingerichtete und inzwischen gemeinsam mit dem MAD betriebene Schule für Verfassungsschutz in Heimerzheim dient der Ausbildung von Beamten des mittleren und gehobenen Dienstes des BfV und der Fortbildung von allen Mitarbeitern des Verfassungsschutzes in Bund und Ländern und des MAD. Dort werden u. a. regelmäßig auch Lehrgänge für V-Mann-Führer und Werber durchgeführt. Aus eigener Anschauung kann ich aber nicht mehr beurteilen, ob und wie die Lehrgänge verbessert werden könnten.

Die Geheimdienste stehen massiv in der Kritik, nicht zuletzt, weil sie offenbar eine Gralshütermentalität besitzen. Sie haben das schon vor 25 Jahren kritisiert. Sind Nachrichtendienste unbelehrbar, unkontrollierbar?

Aus meiner heutigen Sicht würde ich den Begriff Gralshütermentalität nicht mehr verwenden. Dieser Begriff war damals vor dem Hintergrund des Kalten Krieges zwischen Ost und West und der fast hysterischen Furcht vor "kommunistischer Unterwanderung" durchaus angemessen.
Gerade in meinen letzten Berufsjahren hatte ich häufig Gelegenheit, Mitarbeiter, Arbeitsweisen und Mentalitäten anderer westeuropäischer und US-amerikanischer Nachrichtendienste kennenzulernen, und habe dabei im Vergleich zum Verfassungsschutz  keine wesentlichen Unterschiede in Denkweisen und demokratischen Überzeugungen  feststellen können.
Die Arbeit in Sicherheitsbehörden scheint mir nach meinen Erfahrungen generell für Menschen mit konservativen rechten politischen Einstellungen attraktiver zu sein als für linke, fortschrittlich eingestellte Menschen.
So haben sich auch nur unverhältnismäßig wenige Sozialdemokraten für eine Arbeit im Verfassungsschutz entschieden.
Die beste Kontrolle der Nachrichtendienste von Bund und Ländern wäre ein Mechanismus, der von innen verhindert, dass sich schädliche Mentalitäten verfestigen. Dazu reicht es nicht aus, immer nur die Präsidenten nach der jeweiligen Großwetterlage neu zu besetzen. Sondern man muss dafür sorgen, dass sich in allen Positionen dieser Apparate alle relevanten demokratischen Überzeugungen wiederfinden lassen; das Personal sollte soweit wie möglich ein Spiegelbild unserer Gesellschaft sein.

Wie könnte man den Verfassungsschutz den Bürgerinnen und Bürgern näher bringen. Wie müsste man ihn modernisieren?

Die einfachste Methode wäre sicherlich, regelmäßig die tatsächlichen Erfolge nachrichtendienstlicher Arbeit in geeigneter Form zu veröffentlichen. Da erscheinen mir manche Verfassungsschutzbehörden noch etwas zu schüchtern.

Modernisierungsversuche habe ich nach jedem tatsächlichen oder vermeintlichen Verfassungsschutzskandal oder bei Wechsel der politischen Verantwortung im Ministerium erlebt. Natürlich war nicht alles Unsinn, was dabei herauskam, und natürlich muss sich ein Nachrichtendienst fortlaufend den Veränderungen seines Beobachtungsfeldes anpassen und seine Schwerpunktsetzungen überprüfen. Aber die Bildung immer neuer Arbeitsstäbe, Projektgruppen und Grundsatzreferate zur Verbesserung und Kontrolle der operativen Arbeit hatte häufig nur zur "Wasserkopfbildung" geführt und die Kapazitäten für die Erledigung des eigentlichen gesetzlichen Auftrages dramatisch vermindert. Am schlimmsten trieb es ein Ministerialbeamter im Auftrag des damaligen Staatssekretärs Hanning, der ohne eigene nachrichtendienstliche Erfahrung das BfV monatelang mit unzähligen "Workshops" überziehen durfte und mit absurden Begriffen aus englischem Manager-Kauderwelsch das Amt zu modernisieren versuchte. Einer der wesentlichen "Erfolge" war die Zusammenlegung der Abteilungen "Linksextremismus" und "Rechtsextremismus", die nach Bekanntwerden der NSU-Morde schleunigst wieder aufgehoben wurde.

 

Wie bewerten Sie in dem Zusammenhang das Eckpunktepapier der SPD-Bundestagsfraktion „Den Verfassungsschutz fit machen für den Schutz unserer Demokratie“?

Generell hatte ich immer ein Problem mit großen und grundsätzlichen Umstrukturierungsprojekten, die nach tatsächlichen oder vermeintlichen Pannen von Sicherheitsbehörden auf den Markt gebracht wurden. Nach meiner Erfahrung reichte es bisher fast immer aus, bei Fehlleistungen im Sicherheitsbereich von Fahrlässigkeit, grober Fahrlässigkeit oder auch Dummheit und Ignoranz einzelner Mitarbeiter auszugehen. Diese im menschlichen Unvermögen steckenden Fehlerquellen werden wir auch durch noch so großartige Entwürfe niemals ausschließen können.

Im Einzelnen:

  • Das Eckpunktepapier begrüße ich in erster Linie wegen der unmissverständlichen Forderung, die Zentralstellenfunktion des BfV zu stärken, ohne die vom Grundgesetz geforderte föderale Aufgabenverteilung in Frage zu stellen. Eine Zusammenlegung von einzelnen Landesbehörden für Verfassungsschutz würde in der Tat zu einer Vielzahl von Unklarheiten über die politische Verantwortung führen.
  • Die geforderte standardisierte Ausbildung aller V-Personen-Führer muss natürlich auch auf die Werber von V-Personen und die Mitarbeiter ausgedehnt werden, die mittelbar mit der Führung und Festlegung der Bezahlung befasst sind.
  • Die Forderung nach einer gesetzlichen Verankerung bundesweiter Rahmenbedingungen für die Quellenführung hat bei mir eine Reihe von Fragen aufgeworfen:

Was machen wir mit dem straffällig gewordenen Mitglied einer Terrorgruppe, das als einziges bereit ist, dem Verfassungsschutz Informationen über geplante Mordtaten zu liefern?
Wie soll sichergestellt werden, dass finanzielle Zuwendungen an V-Personen nicht für die Stärkung des beobachteten Phänomenbereichs genutzt werden?
Soll der erfolgreiche Werber einer möglicherweise problematischen, aber bereitwilligen V-Person ihr trotz dringenden Informationsbedarfs mitteilen, er werde sich erst in wenigen Wochen nach Durchführung aller vorgeschriebenen Prüfungen wieder melden?
Könnte sich die viele Prüferei und zwangsläufige Einbindung von weiteren Mitwissern nicht negativ auf die Bereitschaft potentieller V-Personen auswirken, wenn sie sich auf eine unter Umständen lebensgefährliche Zusammenarbeit mit einer Sicherheitsbehörde einlassen sollen?
Welche Kriterien sollen zur Festlegung des Honorars genutzt werden? Was ist die Verhinderung einer schweren oder schwersten Straftat wert?

Mit meinen Fragen will ich nur beispielhaft deutlich machen, dass die verantwortlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Verfassungsschutzes im Einzelfall unter Zeitdruck höchstproblematische Entscheidungen treffen müssen – die bei nachträglicher Beurteilung alle falsch sein können. Aber wer kann sie aus dem Dilemma erlösen?

  • Die Idee einer Verlegung der Abteilung "Rechtsextremismus" nach Berlin wäre im Sinne einer Konzentrierung von Spezialisten sicherlich nicht schlecht, dürfte aber zu erheblicher Unruhe im BfV führen. Warum haben die Verfasserinnen und Verfasser des Eckpunktepapiers nicht den Mut, die Verlegung des gesamten BfV nach Berlin zu fordern, um die Kommunikationsprobleme und zahllosen Pendelflüge zwischen Köln und Berlin und die dadurch bedingten enormen Arbeitszeitverluste zu beenden?
  • Über eventuelle Mängel in der Informationsgewinnung und -bewertung in der Abteilung "Rechtsextremismus" des BfV kann ich wegen fehlender Kenntnis der dortigen Arbeitsweise keine Anmerkung machen. Ich gebe aber zu bedenken, dass vor einigen Jahren  Staatssekretär Hanning, vormaliger Präsident des BND, schon nach relativ kurzer Zeit in dieser Funktion gegen die Bedenken des BfV eine Zusammenlegung der Abteilungen "Linksextremismus" und "Rechtsextremismus" verfügte – wegen damals so eingeschätzter nachrangiger (!) Priorität gegenüber der Beobachtung des islamistischen Extremismus. Seine Entscheidung dürfte Auswirkungen auf die Motivation der betroffenen Mitarbeiter gehabt haben.

 

Das Interview führte Alexander Linden.