Das erste Halbjahr 2016 stand vor allem im Zeichen der Flüchtlingspolitik. Deutschland hat sich als Land der Extreme gezeigt: Willkommenskultur auf der einen, Ablehnung bis hin zu Anschlägen auf Flüchtlingsunterkünfte auf der anderen Seite. Wo stehen wir heute?
Nachdem wir in den vergangenen Monaten eine große Zahl von Flüchtlingen aufgenommen haben, geht es jetzt darum, diese Menschen bei uns zu integrieren. Das ist eine Mammutaufgabe. Um sie besser zu bewältigen, haben wir in der letzten Sitzungswoche vor der Sommerpause das Integrationsgesetz verabschiedet. Wir verbessern damit die Angebote zur schnellen Integration in den Arbeitsmarkt und zum Spracherwerb nach dem Grundsatz des Förderns und Forderns. Das Gesetz trägt eine klar sozialdemokratische Handschrift: Es belohnt Anstrengungen bei der Integration, berücksichtigt aber gleichzeitig die besondere Situation von Flüchtlingen. Parallel arbeiten wir an einem Einwanderungsgesetz, um die Zuwanderung von Fachkräften besser steuern zu können. Dies ist auch im wirtschaftlichen Interesse unseres Landes, denn den Fachkräftemangel können wir nicht allein durch die Flüchtlinge beheben.
Großbritannien hat entschieden, die EU zu verlassen. Wie geht es jetzt weiter?
Das Votum der britischen Wähler war klar, wenn auch knapp. Es muss jetzt so schnell wie möglich umgesetzt werden, auch wenn der Katzenjammer groß ist. Wir können uns eine lange Periode der Unsicherheit nicht leisten. Es darf auf keinen Fall der Eindruck entstehen, dass es möglich ist, statt eines Austritts die Bedingungen der EU-Mitgliedschaft neu zu verhandeln. Auf eine solche Hinhaltetaktik werden wir uns nicht einlassen. Aus einer Gemeinschaft nur Vorteile ziehen, sich aber nicht an den Pflichten beteiligen, das geht nicht. Eine Mitgliedschaft light oder à la carte wird es für Großbritannien nicht geben.
Welche Konsequenzen ergeben sich daraus für die verbleibenden EU-Staaten?
Wir müssen Europa besser machen: Es kommt jetzt darauf an, dass wir beieinander bleiben und gemeinsame Lösungen für die großen Herausforderungen, vor denen Europa steht, finden. Europa hat uns mehr als 60 Jahre Frieden und wachsenden Wohlstand gebracht, das darf nicht leichtfertig aufs Spiel gesetzt werden. Vor allem müssen wir die Arbeitslosigkeit bekämpfen, insbesondere bei jungen Menschen. Sie sind die Zukunft unseres Kontinents und dürfen nicht zurückgelassen werden. Deshalb müssen wir deutlich mehr in Wachstum und Beschäftigung investieren. Nur durch Sparen entsteht keine Arbeit.
Welche Bilanz für die Große Koalition ziehen Sie abseits der Themen Flüchtlingspolitik und Brexit zum ersten Halbjahr 2016?
Die SPD-Fraktion bleibt der Motor der großen Koalition. Es ist uns gelungen, auch im ersten Halbjahr 2016 etliche unserer Projekte voranzutreiben. Bessere Integration, gerechte Reform der Erbschaftssteuer, mehr Teilhabe für Behinderte: das sind sozialdemokratische Kernthemen, bei denen wir ein gutes Stück vorangekommen sind. Dazu gehört auch die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes, die für den weiteren Ausbau der erneuerbaren Energien ohne negative Kostenspirale für die Verbraucher unerlässlich ist.
Fortschritte gibt es auch beim Kampf gegen den Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen. Wann wird das Gesetz beschlossen, und was wird es bringen?
Auch hier haben wir es gegen den Widerstand der Union geschafft, mit Beharrlichkeit zu einem guten Ergebnis zu gelangen. Wir werden den Gesetzentwurf von Andrea Nahles nach der Sommerpause im Parlament behandeln und noch in diesem Jahr zum Abschluss bringen. Wir schieben damit dem Missbrauch von Leiharbeit und Werkverträgen endlich einen Riegel vor und sorgen dafür, dass gute Arbeit auch fair bezahlt wird. Die Leiharbeit wird auch zukünftig die nötige Flexibilität für Auftragsspitzen oder Vertretungen bieten, der Verdrängung von Stammbelegschaften wird jedoch entgegengewirkt. Ebenso wird verhindert, dass Leiharbeitnehmerinnen und Leiharbeitnehmer dauerhaft zu niedrigeren Löhnen als die Stammbeschäftigten eingesetzt werden.
Wie lässt sich verhindern, dass schlechte Arbeitgeber jetzt nach dem nächsten Instrument für prekäre Beschäftigung suchen?
Es wäre naiv zu glauben, dass sich unlautere Arbeitgeber prinzipiell davon abhalten ließen, Mitarbeiter zu unfairen Bedingungen zu beschäftigen. Wir müssen deshalb immer wachsam sein, um auf Fehlentwicklungen am Arbeitsmarkt schnell reagieren zu können. Es ist uns aber in dieser Wahlperiode gelungen, zwei zentrale Einfallstore für prekäre Beschäftigung zu schließen, indem wir konsequent gegen Dumpinglöhne und Scheinselbstständigkeit vorgegangen sind. Mit der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns haben wir gegen harten Widerstand erreicht, dass Millionen Arbeitnehmer auch von ihrer Arbeit leben können. Von den vorhergesagten Horrorszenarien ist nichts eingetreten – im Gegenteil. Und wir schaffen Klarheit bei der Abgrenzung von selbständiger Tätigkeit. Endlich wird gesetzlich definiert, wer Arbeitnehmerin und Arbeitnehmer ist. Damit werden wir missbräuchliche Gestaltungen des Fremdpersonaleinsatzes durch Beschäftigung in vermeintlich selbständigen Dienst- oder Werkverträgen verhindern. Von diesen Regelungen profitiert im Übrigen auch die große Mehrheit der ehrlichen Arbeitgeber, weil sie zu fairen Arbeitsbedingungen beitragen.
Um gerechtere Löhne geht es auch beim Gesetz für die Entgeltgleichheit zwischen Männern und Frauen. Der Gesetzentwurf liegt schon seit Monaten vor, wann geht es hier weiter?
Es ist ein Skandal, dass der Gesetzentwurf von Bundesfamilienministerin Schwesig immer noch von der Union blockiert wird. Die Lohnlücke zwischen Männern und Frauen beträgt bei uns 21 Prozent, das verstößt gegen das Gerechtigkeitsempfinden der Menschen und muss dringend angegangen werden. Wir werden hier nicht nachlassen und alles dafür tun, damit das Lohngerechtigkeitsgesetz noch in dieser Legislaturperiode umgesetzt wird. Dabei wissen wir auch die Gewerkschaften und ein breites Bündnis gesellschaftlicher Kräfte an unserer Seite.
Das Institut der deutschen Wirtschaft in Köln sagt in einer kürzlich veröffentlichten Studie, dass die Lohnlücke zwischen Frauen und Männern vor allem auf individuellen Entscheidungen bei der Berufswahl beruhe und nicht auf Diskriminierung. Wählen Frauen nur den falschen Job?
Nein, man macht es sich viel zu einfach, wenn man sagt, die Frauen seien selber schuld. Wir haben ein strukturelles Problem. Dazu gehört, dass klassische Frauenberufe - zum Beispiel im sozialen Bereich – deutlich schlechter bezahlt werden als typische Männerberufe. Dazu gehört auch, dass viele Frauen keinen Anspruch auf eine Heraufsetzung ihrer Arbeitszeit haben, nachdem sie einmal Teilzeit gearbeitet haben. Auch in Führungspositionen sind Frauen deutlich seltener vertreten als ihre männlichen Kollegen – und das bei oftmals besserer Qualifikation. Aber selbst wenn man all diese Faktoren herausrechnet, bleibt es bei einer Lohnlücke von sieben Prozent bei exakt gleicher Arbeit. Auch dies ist ungerecht und hat viel damit zu tun, dass es keine Transparenz bei den Löhnen und Gehältern gibt. Wir verlangen deshalb ein Auskunftsrecht, das möglichst für alle gilt. Die Union will dieses Auskunftsrecht nur für Betriebe von über 500 Mitarbeitern haben - damit blieben 80 Prozent der Frauen außen vor. Ein solches Gesetz hätte bestenfalls eine Alibifunktion. Das ist mit uns nicht zu machen.
Die großen Themen im Koalitionsvertrag scheinen abgearbeitet. Was bleibt für das letzte Jahr in der Koalition?
Wir sind für vier Jahre gewählt und in die Bundesregierung eingetreten. Die Bürgerinnen und Bürger hätten kein Verständnis dafür, wenn wir bereits jetzt die Arbeit einstellen und uns dem vorgezogenen Wahlkampf widmen würden. Es gibt auch noch einiges zu tun. Zum Beispiel muss noch das neue Bundesteilhabegesetz vom Bundestag beschlossen werden. Es ist eines der großen sozialpolitischen Reformprojekte in dieser Legislaturperiode und bringt Menschen mit Behinderung mehr Gleichberechtigung, Teilhabe und Selbstbestimmung. Das sind konkrete Verbesserungen, auf die Behinderte und ihre Angehörigen seit vielen Jahren gewartet haben. Zu den Fragen, die die Menschen am meisten beschäftigen, gehört die Zukunft der Rente. Bundessozialministerin Andrea Nahles wird hierzu im Herbst ein Gesamtkonzept vorlegen. Viele haben über Jahrzehnte Beiträge eingezahlt und landen mit ihren Renten trotzdem nicht über der Armutsschwelle. Dies kann uns nicht kalt lassen. Wir haben deshalb im Koalitionsvertrag eine solidarische Lebensleistungsrente vereinbart. Dies muss ebenfalls noch umgesetzt werden. Die Verbesserung wird vor allem Geringverdienern und Menschen zugutekommen, die Angehörige gepflegt und Kinder erzogen haben. Ein weiteres Problem, dass viele Menschen beschäftigt, sind die stark steigenden Mieten in den Ballungsräumen. Auch hier wollen wir noch weitere Verbesserungen erreichen.