SPIEGEL: Herr Oppermann, die deutschen Geheimdienste sind gerade vollauf mit der Beobachtung von Salafisten, Dschihad-Reisenden und Syrien-Heimkehrern beschäftigt. Ist in dieser Situation Kritik an den Diensten überhaupt erlaubt?
Oppermann: Natürlich, berechtigte Kritik ist immer erlaubt.

Man hat den Eindruck, die Diskussion über Islamisten und den IS droht die Debatte über die nötige Reform der Sicherheitsbehörden gerade abzuwürgen.
Dazu darf es nicht kommen. Auch mir macht es Sorgen, dass Hunderte Deutsche im Irak und in Syrien kämpfen und als mögliche Attentäter nach Deutschland zurückkehren. Und natürlich brauchen wir gerade in einer solchen Situation Dienste, die das schon im Vorfeld aufklären. Dennoch dürfen die Fehler der Vergangenheit nicht kaschiert werden. Und ich glaube, dass unsere Dienste auch bereit sind, sich der Kritik zu stellen. Wir werden darauf drängen, dass die Rechtsgrundlagen der Dienste grundlegend revidiert werden.

Welche Fehler meinen Sie?
Nehmen Sie das Ermittlungsdebakel rund um den Nationalsozialistischen Untergrund: Wenn die Dienste die Informationen über den NSU richtig verarbeitet und ausgetauscht hätten, hätte eine in der deutschen Nachkriegszeit beispiellose Verbrechensserie wohl verhindert werden können. Das ist eine der größten Niederlagen der deutschen Sicherheitsbehörden überhaupt. Die Verfassungsschutzämter von Bund und Ländern haben kollektiv versagt.

Schon beim Oktoberfest-Attentat in München 1980 wurde schlampig ermittelt, wie wir heute wissen. Das neue rechte Bündnis aus Neonazis und Hooligans hatte lange niemand auf dem Schirm. Es scheint, als sei der Linksextremismus von den Ermittlungsbehörden stets wachsamer begleitet worden als der Rechtsextremismus.
Leider wurde der Rechtsextremismus über viele Jahre systematisch unterschätzt. Hinzu kamen viele einzelne Fehlentscheidungen. Die Behörden haben den brisanten Moment, als der Rechtsextremismus von der offenen Gewalt gegen Ausländer und Flüchtlinge über national befreite Zonen in den terroristischen Untergrund gegangen ist, schlicht verpasst.

Könnte das noch mal passieren?
Das darf nicht noch mal passieren. Deshalb brauchen wir eine neue Sensibilität für die rassistische Dimension von Straftaten. Dass die noch fehlt, zeigt der bizarre Streit um die Kriminalstatistik, in der viele Gewalttaten gegen Flüchtlinge als Wirtshausschlägereien abgetan wurden und der rassistische Hintergrund verkannt  worden ist.

Der Abschlussbericht des NSU-Ausschusses im Thüringer Landtag bestreitet, dass die Pannen und Fehler der Behörden bloßer Zufall waren. Da wird Kumpanei mit Neonazis unterstellt.
Von gezielter politischer Kumpanei würde ich nicht sprechen. Aber eine strukturelle Sehbehinderung der Sicherheitsbehörden halte ich für erwiesen.

Wie erklären Sie sich das?
Einige Ämter haben ein Eigenleben geführt. V-Leute wurden als Existenzberechtigung der eigenen Arbeit betrachtet. Erkenntnisse wurden gehütet, aber nicht weiter gegeben, weil man fürchtete, bei einem Zugriff der Polizei könnte die Quelle auffliegen. Das ist eine Mentalität, die völlig inakzeptabel ist.

Trauen Sie den Nachrichtendiensten noch?
Das fällt vielen schwer. Einen Vertrauensvorschuss kann es nach all dem nicht geben.  Das darf aber nicht zu einem undifferenzierten permanenten Misstrauen auf allen Ebenen führen. Die Arbeit der Dienste ist für unsere Sicherheit unerlässlich. Worauf es ankommt, ist, dass sie effektiv kontrolliert werden.

Im Moment kontrollieren neun Bundestagsabgeordnete mit einer Handvoll Mitarbeiter 4.000 Bedienstete des BND, 750 des Verfassungsschutz und 1200 des Militärischen Abschirmdienstes. Sie sollen die NSU-Aufklärung, den NSA-Abhörskandal und noch eine Menge anderer Themen im Auge behalten. Wie soll das gehen bei der Flut von Daten und Informationen?
Das ist ein absolutes Missverhältnis. In den USA haben die zuständigen Ausschüsse des Senats und des Repräsentantenhauses jeweils rund 60 Mitarbeiter für die Kontrolle der Geheimdienste zur Verfügung. Dort sind die Dienste natürlich auch größer. Wir haben zwar die Rechte unseres Kontrollgremiums schon in der letzten großen Koalition umfassend gestärkt. Aber Sie haben recht: Die parlamentarische Kontrolle muss weiter aus- und umgebaut werden. Sie befindet sich in ihren Strukturen zum Teil noch immer im analogen Zeitalter, als die Mittel der Dienste aus Observieren von Verdächtigen, Abhören von Telefonen und dem Öffnen von Briefen bestanden. Die Strukturen des digitalen Zeitalters erfordern aber mehr.

Was soll sich ändern?
Wir müssen weg vom skandalgetriebenen Einzelfall, von der reaktiven hin zu einer systematischen Kontrolle. Die hat es bisher nicht gegeben. Seien wir ehrlich: Von den meisten Skandalen hat das Kontrollgremium aus den Medien erfahren und nicht von der Bundesregierung, die eigentlich dazu verpflichtet ist, jedes besondere Vorkommnis zu melden.

Wie soll die systematische Kontrolle aussehen?
Jeder Mitarbeiter der Dienste muss wissen, dass seine Arbeit von heute auf morgen kontrolliert werden kann. In diesem Bewusstsein arbeitet dort heute niemand. Nur bei Untersuchungsausschüssen kommen Akten zum Vorschein – wenn sie nicht vorher geschwärzt oder geschreddert wurden. Wir brauchen etwas, das man im Basketball Full-Court-Press nennt – dauernden Druck ausüben auf dem gesamten Spielfeld.

Und die technische Überwachung?
Das vom Verfassungsgericht entwickelte Grundrecht zum Schutz der Vertraulichkeit und Integrität von IT-Systemen läuft ohne entsprechende technische Vorkehrungen ins Leere. Die Frage, ob das Fernmeldegeheimnis oder der Schutz der Privatsphäre gewahrt wird, hängt nicht selten davon ab, welche Filter und welche Software eingesetzt werden. Dafür brauchen wir – auch im Sinne eines technischen Grundrechtsschutzes - ein permanentes Monitoring für alle Instrumente, die die Dienste einsetzen.

Blickt der einzelne Abgeordnete angesichts der technischen Komplexität überhaupt noch durch, was er da eigentlich kontrollieren soll?
Klar ist, dass wir im Zuge des NSA-Untersuchungsausschusses zu einer Revision der Rechtsgrundlagen kommen müssen. Das BND-Gesetz und das Artikel 10-Gesetz müssen grundlegend überarbeitet und die Befugnisse der Dienste klar normiert werden. Das wird dann auch helfen, die Kontrolle zu schärfen.

Der BND beruft sich im Ausland auf den „offenen Himmel“ und ist der Ansicht, machen zu können, was er will, so lange es keine deutschen Staatsbürger trifft. Hochrangige Juristen halten das für verfassungswidrig.
Hoheitliches Handeln ist niemals frei, es ist immer an den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit gebunden. Deshalb ist es in der Tat fraglich, ob die allgemeine Aufgabenzuweisung aus dem BND-Gesetz als Rechtsgrundlage heute noch ausreicht. Es darf nicht der Eindruck von Narrenfreiheit entstehen.

Wenn sich BND-Mitarbeiter mit Hinweisen an das Kontrollgremium wenden, wird automatisch die BND-Leitung informiert. Ist das nicht widersinnig?
Immerhin ermöglicht diese Vorschrift, die 2009 gegen Widerstände aus der Bundesregierung durchgesetzt wurde,es den Mitarbeitern überhaupt, bei den parlamentarischen Kontrolleuren Missstände anzuzeigen.

Wer soll sich melden, wenn die Meldung zuerst beim Chef landet?
Jeder Mitarbeiter, der sich offenbart, ist vor strafrechtlicher Verfolgung geschützt. Das Kontrollgremium wird zudem streng darauf achten, dass dem Mitarbeiter keine Nachteile entstehen.

Tatsächlich? Die Fälle Edward Snowden und Chelsea Manning haben doch gezeigt, dass Whistleblower, wenn es ernst wird, allein stehen.
Bei direktem Whistleblowing ohne Information der Amtsleitung müssten wir das Gremium in seinem Charakter verändern. Wir sitzen dort ja mit den Diensten zusammen, die müssten wir dann im entscheidenden Moment rausschicken.

Wäre das so schlimm?
Ich halte es für problematisch, Mitarbeitern der Dienste zu erlauben, Parlamentariern Geheimnisse vorzutragen, ohne dass die Bundesregierung darüber informiert wird. Damit würde die operative Verantwortung auf die Kontrolleure übergehen.

Vernünftige Informationen über Verfehlungen in den Diensten werden Sie so nicht erhalten.
Das müssen wir abwarten. Früher konnte sich der Betroffene im Rahmen des Beamtenrechts höchstens an seinen Präsidenten wenden. Jetzt kann er sich auch direkt bei uns melden. Und wir können diesen Beamten dann auch schützen.

Auf dem Papier. In der Praxis kann sich der Mitarbeiter, der bei Ihnen vorspricht, jede weitere Beförderung abschminken.
Wenn sich Edward Snowden von schlechten Beförderungsaussichten hätte abschrecken lassen, wäre es nie zu diesem Whistleblowing gekommen. Für mich sind Hinweise auf gravierende Missstände eher ein Grund für Beförderungen.

Was haben Sie gegen ein Whistleblower-Gesetz, das den Informanten schützen würde?
Der Informant wird ja geschützt, wenn er sich an das Gremium wendet. Sollte sich die aktuelle Regelung nicht bewähren, gehen wir da nochmal ran. Im Übrigen sind unsere Dienste mit denen der USA nicht vergleichbar.

Aber auch die sind nimmersatt und rüsten gerade technisch und personell auf, um Amerikanern und Briten künftig „auf Augenhöhe“ begegnen zu können.
Der BND hat zweifellos ein völlig anderes Selbstverständnis und eine andere Kultur als die NSA. Er hat auch ein anderes Budget. Ziel ist nicht der totale Zugriff auf alle Kommunikation dieser Welt. Der BND definiert Krisengebiete und arbeitet dort zielgerichtet.

BND-Chef Gerhard Schindler hat gerade eine ziemlich umfangreiche Wunschliste vorgelegt, auf der sich etwa mit dem Einkauf von Software-Schwachstellen sehr fragwürdige Operationen finden.
In Deutschland setzt das Recht die Schranken, nicht das Budget und nicht der Stand der Technik. In den USA hat sich nach 2001 die Philosophie durchgesetzt, alles was technisch möglich ist, muss man auch machen. Das läuft auf Totalüberwachung hinaus. Wir haben andere gesetzliche Aufgabenbeschreibungen vorgenommen. Und die halte ich für angemessen.

Sie haben im Sommer 2013 gesagt, die Snowden-Enthüllungen müssten zu einem politischen Wendepunkt führen. Hat es den gegeben?
Nein, leider gab es keinen wirklichen Wendepunkt in den USA. Immerhin gibt es Nachdenklichkeit. Die Amerikaner akzeptieren jetzt – übrigens im Gegensatz zu den Briten – ein Konsultationsverfahren in der Frage, ob und welche bilateralen Dokumente für den NSA-Untersuchungsausschuss freigegeben werden können

Und das ist ein Erfolg? Der Ausschuss wird seit Monaten mit Akten bombardiert, aber wirklich relevante Dokumente (mit US-Bezug) werden seitenweise geschwärzt. Und dann erzählt man den Abgeordneten noch: Liebe Leute, wir müssen erst unsere Freunde in den USA fragen, ob wir euch das zeigen dürfen. Das ist doch absurd.
Das mag Manchem so erscheinen. Aber wollen sie im Ernst die Kooperation aufkündigen? Die Welt ist ja nicht sicherer geworden mit dem Islamischen Staat, den Vorgängen in der Ukraine oder mit Ebola. Auf eine Zusammenarbeit in Sicherheitsfragen würde ich gerade in diesen Tagen ungern verzichten. Daran müssen wir festhalten, und gleichzeitig müssen wir Differenzen aushalten und aufarbeiten.

Der Oppositionspolitiker Thomas Oppermann klang einst forscher. Der wollte massiven Druck auf die Amerikaner ausüben. Seit Sie Fraktionschef in der Großen Koalition sind, hört man dazu nichts mehr, obwohl nach wie vor zahllose Fragen offen sind. Macht die Macht zahmer?
Ich bin weiterhin davon überzeugt, dass die amerikanische Praxis dem westlichen Demokratiemodell schadet. Wir wollen eine freiheitliche Demokratie mit einer geschützten Privatsphäre, in der die politische, private und geschäftliche Kommunikation nicht dem unbeschränkten Zugriff der Nachrichtendienste ausgesetzt sind. Gleichzeitig wollen wir funktionierende Dienste, die Informationen sammeln, um Anschläge auf unser Gemeinwesen abwehren zu können.

Aber richtig bleibt, dass Sie seit dem Wahltag verbal massiv abgerüstet haben. Sie bezichtigten Angela Merkel der „Heuchelei“ und nannten die Ausspähung von Daten in Deutschland „eine Straftat“.
In der Tonlage habe ich vielleicht abgerüstet, in der Sache keineswegs. Ich habe mich vor und nach dem Wahltag für den NSA-Untersuchungsausschuss stark gemacht. Die SPD hat ihn mehr als alle anderen vorangetrieben.

Im Ausschuss stimmt die SPD im Regelfall mit der CDU gegen die Opposition, etwa als es um die Snowden-Vernehmung ging. Warum zeigen Sie nicht klarer Kante?
Die SPD hat im Ausschuss ein starkes Interesse an einer vollständigen Aufklärung. Deswegen ist der Regelfall übrigens, dass die Beschlüsse dort einstimmig gefasst werden. Nur bei Snowden hat die Koalition gegen die Opposition gestimmt. Natürlich ist Snowden ein interessanter Zeuge. Leider hat der Ausschuss mit ihm und seinem Anwalt bisher keinen Weg gefunden, wie er vor dem Ausschuss aussagen kann. Schaufenster-Anträge allerdings unterstützen wir nicht. Der Ausschuss darf sich nicht im US-Bashing erschöpfen.

Schaufensterantrag? Was spricht dagegen, Snowden in Deutschland zu vernehmen, wo er frei sprechen könnte?
Der Ausschuss hat Edward Snowden mehrere Gesprächsangebote gemacht, die er alle abgelehnt hat. Eine Vernehmung in Deutschland würde komplizierte rechtliche Fragen aufwerfen und darüber hinaus Edward Snowden auch persönlichen Risiken aussetzen. Die Zukunft von Edward Snowden wird nicht in Deutschland entschieden – und das sieht er wohl auch selbst so. Er hat unbestreitbare Verdienste. Er hat auf Missstände aufmerksam gemacht, die wir sonst so nicht kennen würden. Aber er hat vermutlich das Gesetz in den USA gebrochen, und dafür muss er – auch als Whistleblower – die Verantwortung übernehmen. Ich trete ein für eine humanitäre Lösung.

Und wie sähe die aus?
Die müsste in Absprache mit den USA so gefunden werden, dass er sich unter bestimmten Zusagen den Behörden in den USA stellt.

Verhandlungen darüber sind offenbar gescheitert.
Die können auch wieder aufgenommen werden. Da müssen sich auch die USA bewegen. Er müsste ein faires Verfahren zugesichert bekommen. Das würde den Konflikt entschärfen und allen Beteiligten helfen, gute Lösungen zu finden.

Herr Oppermann, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.