SZ: Angesichts zunehmender Schärfe in der politischen Auseinandersetzung zieht mancher Parallelen zwischen Weimar und Berlin. Geht es Ihnen auch so, Herr Schäuble?

Wolfgang Schäuble: Für mich ist der Vergleich in nahezu jeder Beziehung ungerechtfertigt. Wir haben eine vollkommen andere Ausgangslage. Außerdem teile ich die Auffassung, dass die mutigen Demokraten damals nicht das leisten konnten, was man sich im Rückblick von ihnen erhofft hätte. Durch die dominierende Debatte über die Kriegsschuld wurde die Weimarer Republik mit allem belastet, was man ihr nur zusätzlich auflasten konnte.

Trotzdem beeinflussten in der Weimarer Republik auch Ängste und Verschwörungstheorien den Lauf der Geschichte. Erleben wir das nicht heute wieder?

Katrin Göring-Eckardt: Nein, wir haben Stabilität. Durch den Föderalismus, unser Wahlsystem, unsere Parteiendemokratie. Ja, es gibt Angst, Angstmacherei und Lügen. Aber dagegen steht eine Mehrheit, die das ablehnt. Die Demokratinnen und Demokraten sind anders als in Weimar eindeutig in der Mehrheit. Wir haben gelernt, unsere Demokratie zu schätzen, und werden sie verteidigen, auch wenn eine lautstarke Minderheit das anders sieht.

Aber politische Gewalt gibt es schon. Ob Grüne, Linke oder die AfD - Parteibüros werden angegriffen, Fassaden beschmiert, Autos angezündet.

Schäuble: Deshalb müssen wir heute zeigen, dass wir aus der Geschichte gelernt haben. Also versuchen wir, sensibel zu sein gegen mögliche Eskalationen. Aus dem Wissen, dass von der Sprache schnell eine Provokation zur Gewalt ausgehen kann.  

Carsten Schneider: Ich habe 2017 zum sechsten Mal kandidiert, und einen so harten Wahlkampf habe ich noch nie erlebt. Nicht wegen der politischen Auseinandersetzungen zwischen den Parteien, sondern wegen der Stimmung auf der Straße. Die war zeitweise aggressiv, und gelegentlich war ich angespannt, wenn jemand auf mich zukam. Das betrifft nicht nur Anhänger der AfD, sondern es herrscht insgesamt eine stärkere Polarisierung.

Was verlangt das von Ihnen?

Schneider: Dass man sich gezielt in den anderen hinein versetzt. Ich versuche das auch bei Abgeordneten der AfD. Ich habe keinerlei Verständnis dafür, wie die AfD agiert und die politische Stimmung radikalisiert. Diese Radikalität setzt eine Aggressionsspirale in Gang. Deshalb sollten wir uns alle mäßigen. Gewalt darf aber niemals ein Mittel der politischen Auseinandersetzung sein.

Welche Bilanz ziehen Sie nach dem Einzug der AfD in den Bundestag, Herr Schäuble? Ist das Klima feindseliger geworden? Oder gehören Sie zu denen, die sagen: Alles nicht so schlimm?

Schäuble: Ich gehöre zu den Zweiten. So furchtbar ist es nicht. Jedenfalls nicht für die Politik. Mit allem Respekt, wir haben uns nicht geprügelt im Parlament. Damit will ich nichts verharmlosen. In den westlichen Staaten Europas haben wir lange in einer demokratischen Komfortzone gelebt. Jetzt ist das Modell unter Stress. Und zwar überall.

Göring-Eckardt: Ich habe einen anderen Eindruck von der Lage im Bundestag. Abgeordnete der AfD beleidigen, diffamieren, reden an der Sache vorbei - ganz bewusst. Es gibt eine Verrohung der Sprache und des Umgangs miteinander. Die Lehre aus Weimar ist, dass Sprache Wegbereiter für offene Gewalt sein kann, und das dürfen wir nie wieder zulassen.

Wer den unversöhnlichen Positionen zuhört, kann den Eindruck bekommen, die Menschen lebten in getrennten Welten.

Schneider: Das spiegelt die Ausdifferenzierung der Gesellschaft. Es gibt immer weniger Gemeinsamkeit, immer mehr Individualisierung und Ideologisierung. Es gibt nicht mal mehr den Konsens der Fakten. Wenn die Welt nicht mehr für alle eine Kugel ist, sondern für manche eine Scheibe, ist Konsensfindung unmöglich geworden.

Göring-Eckardt: Es hilft nur, dass wir die Leute rausholen aus ihrer Blase. Ich bin drei Wochen nach der tödlichen Messerattacke und den Unruhen in Chemnitz für ein Gespräch mit Bürgern dorthin gefahren. Die Veranstaltung hieß: "Drüber Reden!" Wir haben drei Stunden hart gerungen. Mir wurden aus dem Saal immer wieder vermeintliche Fakten vorgehalten, die einfach nicht stimmten. Oder angebliche Aussagen von mir.

Und wie ging das aus?

Göring-Eckardt: Ich habe zugehört, ausreden lassen, Hintergründe erläutert und Falschbehauptungen widersprochen. Das war für alle anstrengend, auch für mich. Trotzdem war es gut, weil wir, egal wie hart die Fronten sind, nie aufhören dürfen, das Gespräch zu suchen, und sogar Gemeinsamkeiten auszuloten. Ich werde vermutlich keinen hassenden Nazi überzeugen, aber denen, die nicht wissen, wo sie hinsollen mit ihrer Unsicherheit, ihrer Angst, können wir zumindest einen Ort bieten.

Ausgerechnet im Zeitalter der Digitalisierung müssen Sie wieder mehr direkt zu den Menschen?

Schäuble: Und nicht nur das. Vor zwanzig Jahren galt ich als altmodisch, weil ich sagte, dass ich nicht so sehr an die plebiszitäre Demokratie glaube. Ich halte es viel mehr mit der repräsentativen Demokratie. Inzwischen ist dieser Standpunkt fast...

Schneider: common sense.

Wieso?

Schäuble: Weil wir auf eine Erkenntnis zurückkommen, die schon die alten Griechen hatten: Dass die große Menge der Bevölkerung leicht verführbar und manipulierbar ist. Die gewählten Vertreter in einem Parlament haben ein höheres Maß an Verantwortung, sie nehmen das in der Regel sehr ernst. Sie informieren sich, diskutieren lange, bevor sie entscheiden.

Schneider: Aber wir müssen die Bürger mitnehmen. In der Flüchtlings- aber auch in der Eurokrise haben wir intern früh kontrovers diskutiert. Nur sind die unterschiedlichen Positionen nicht nach draußen gedrungen. Dabei ist der Eindruck entstanden, es gebe nur eine Meinung, die Mehrheitsmeinung. Bei mir in Erfurt haben die Leute gesagt: "Na, das ist ein bisschen wie früher, alles gleichgeschaltet." Manche hatten den Eindruck, als würden sie für dumm verkauft. Das ist mir oft begegnet.

Göring-Eckardt: Moment mal. Die besondere Sensibilität im Osten sehe ich auch. Nur: Es wird hier nichts gleich geschaltet. Es gibt niemanden, der von oben herab sagt: Darüber darf nicht geredet werden.

Schäuble: Aber wir müssen schon auch aufpassen: Wir dürfen nicht jeden, der AfD wählt, zum Nazi erklären. Ich muss Meinungen, die mir nicht gefallen, aushalten.

Im Herbst sind Landtagswahlen in Sachsen, Thüringen und Brandenburg. Die AfD erwartet Rekordergebnisse. Warum gibt es im Osten oft das Gefühl, ein Mainstream bestimme, was gesagt werden darf und was nicht? Woher das schwindende Vertrauen in die Volksparteien?

Schneider: Es gibt sicherlich einen Unterschied zwischen Ost und West. Die Geschichte im Westen war von wachsendem Wohlstand geprägt. Damit einher ging die hohe Identifikation mit den Parteien und der Demokratie. Im Osten war das anders. Die letzten 30 Jahre waren für viele eine große Herausforderung und Belastung. Für mich persönlich war das Ende der DDR ein großer Aufbruch. Ich war 14, für mich war es die Befreiung schlechthin. Aber ich kenne viele Menschen, für die war es eine persönliche Niederlage, weil sie an diesen Staat geglaubt hatten. Dazu kam das Materielle, weil sie ihren Arbeitsplatz verloren und damit nicht nur Einkommen, sondern oft auch Halt, Zugehörigkeit und Ansehen.

Göring-Eckardt: Viele hatten sich auch einfach eingerichtet in diesem Land, wussten, wann es besser war zu schweigen oder nur die offizielle Meinung zu vertreten. Viele redeten zu Hause anders als am Arbeitsplatz oder in der Schule. Nach der friedlichen Revolution gab es Meinungsfreiheit, aber diese auch selbstbewusst zu vertreten, kommt nicht selbstverständlich. Viele hatten das Gefühl, nicht dazu zu gehören, auch weil lange in erster Linie westdeutsche Stimmen zu vernehmen waren.

Schneider: Und dann hat sich alles in ihrem Leben auf den Kopf gestellt. Bei vielen zählte ihre berufliche Qualifikation nicht mehr, sie mussten mit 35 Jahren ganz unten neu anfangen. Das wirkt nach. Da braucht man sich nicht zu wundern, dass die Identifikation mit der Demokratie nicht so groß ist wie im Westen nach dem Wirtschaftswunder. Und wenn man den Ostdeutschen jetzt noch erklärt, sie müssten erst mal Demokratie lernen, wenn sie Dinge sagen, die nicht so reinpassen, werden sie sauer. Und das zu Recht.

Herr Schäuble, haben Sie 1990, als Sie den Einigungsvertrag aushandelten, damit gerechnet, dass Ost und West auch 30 Jahre nach dem Mauerfall noch fremdeln?

Schäuble: Nein. Da muss ich klar sagen, damit habe ich nicht gerechnet. Diese vielen Verletzungen - wir haben nicht geahnt, dass das passieren könnte. Diese Erfahrung bringt mich heute dazu, mit Blick auf Europa zu warnen: Liebe Leute, macht ein bisschen langsamer, was die Ansprüche an die neuen Mitgliedsstaaten der EU angeht! Wir dürfen nicht noch einmal wie Besserwessis auftreten. Das war beim ersten Mal falsch und wäre es jetzt noch mehr. Soll ich Ihnen eine kleine Geschichte aus den Wirren der Wiedervereinigung erzählen?

Aber bitte.

Schäuble: Ich bin ab und zu beim damaligen Ministerpräsidenten Lothar de Maizière gewesen. In einer Nacht hat er zu mir gesagt: "Weißt du, ich verstehe die Leute nicht. Die kaufen keine Schrippen mehr, nur noch Westbrötchen, obwohl die 50 Pfennig kosten und bei uns nur fünf. Dabei schmecken die genauso gut."

Göring-Eckhardt: Nicht genauso gut. Westbrötchen bestanden quasi aus Luft. Heute bilden sich Schlangen vor Bäckern, die Brötchen nach DDR-Rezeptur backen.

Schneider: Raj Kollmorgen, Professor an der Hochschule Zittau-Görlitz, vertritt die These, dass die Ostdeutschen aufhören sollten, einem scheinbaren westdeutschen Ideal hinterher zu hetzen. Statt ständig Benachteiligungen zu thematisieren, sollten wir uns auf eigene Stärken besinnen. Zum Beispiel in Fragen der Gleichstellung von Mann und Frau, die im Osten immer weiter war als im Westen.

Göring-Eckardt: Aber es gibt Entwicklungen, die nachwirken. 1990 gab es die Idee, Ostdeutsche mit Hochschulabschluss zu Juristen auszubilden, damit sie die Einführung des freiheitlichen Systems begleiten könnten. Am Ende hat man lieber gesagt: Wir haben doch genug im Westen, schicken wir die rüber. Die sitzen da heute noch. Natürlich sind das gute Juristen. Aber die miserable Repräsentation von Ostdeutschen selbst im Osten ist ein Problem.

Herr Schneider, Sie kamen wie Frau Göring-Eckardt 1998 in den Bundestag - als jüngster Abgeordneter. Hat man Sie Ihre Herkunft spüren lassen?

Schneider: Mein Ostdeutschsein war ein Grund, warum ich in die Politik gegangen bin: Ich wollte den Menschen im Osten eine Stimme geben. Natürlich gab es Kollegen, die Witze machten. Die gibt es bis heute. Ich mache inzwischen aber auch welche.

Zum Beispiel?

Schneider: Bananen gehen immer. Im Ernst: Ich weiß, dass ich anders sozialisiert bin. Die meisten Kollegen, die mit mir in den Bundestag gekommen sind, hatten eine typische Juso-Sozialisation. Ich habe allein gelebt, seit ich 14 bin. Meine Eltern mussten völlig von vorn anfangen. Es gab kein Geld für ein Sinnsuche-Jahr im Ausland. Aber ich habe aus meiner Herkunft immer Selbstbewusstsein gezogen. Denn ich habe gelernt: Auch wenn die Welt um einen herum zusammenbricht, man kann es trotzdem schaffen.

Es heißt, wer den Rechtsruck im Osten verstehen will, muss die 90er anschauen.

Schneider: Ich wurde durch die Vorfälle in Rostock-Lichtenhagen politisiert. Als ich die Titelgeschichten im Spiegel gelesen habe, hat das bei mir den Schalter umgelegt. Ich bin selbst in einer Plattenbausiedlung groß geworden: Auf dem Erfurter Herrenberg zogen die Nazis in den 90ern mit Bomberjacke und Baseballschläger durch die Straßen. Ich hatte Glück, dass ich einige von denen vom Fußballspielen kannte. Der Staat war nicht präsent damals, es galt das Recht des Stärkeren.

Wie im August in Chemnitz?

Schneider: Die Erfahrung, dass man sich die Straße mit Gewalt nehmen kann, haben einige von denen schon in den 90ern gemacht, ja. Ich habe im vergangenen Jahr eine Jugendweiherede an meiner alten Schule gehalten und im Publikum Gesichter von früher erkannt, die heute Eltern sind und inzwischen ihr persönliches Glück gefunden haben. Einige von ihnen wären in Chemnitz auch sofort wieder dabei gewesen. Trotzdem ist die AfD in Thüringen nicht in der Platte am stärksten, sondern auf den Dörfern, wo die Leute in den 90ern hingezogen sind und sich ein Häuschen gekauft haben.

Schäuble: Ich halte nichts davon, die AfD zu einem rein ostdeutschen Problem zu machen, nur weil sie dort ein paar Prozente mehr hat. In Wohlstandsregionen in Baden-Württemberg wird man auf ähnliche Haltungen treffen. Der Satz: "Das wird man ja wohl noch sage dürfe", steht schon vom Sprachklang nicht im Verdacht, ostdeutsch zu sein.

Hier sitzen CDU, SPD und Grüne an einem Tisch. Neudeutsch heißt das Kenia-Koalition. Wird diese Art Bündnis zum Vorbild für Ostdeutschland, weil andere Mehrheiten nicht möglich sind?

Schneider: In Sachsen-Anhalt gibt es das ja schon eine Weile. In Thüringen haben wir noch eine Mehrheit für die rot-rot-grüne Koalition. Meine Sorge für den Herbst ist: Lagerübergreifende Koalitionen gegen eine Partei würden diese noch stärken. Bei diesen Wahlen steht viel auf dem Spiel. Das wird eine Prüfung für die Funktionsfähigkeit unserer parlamentarischen Demokratie.

Göring-Eckardt: Es kann Situationen geben, in denen es nicht anders geht, so wie in Sachsen-Anhalt. In Zeiten des Zweifels an der Handlungsfähigkeit demokratischer Institutionen fordern die Menschen als Antwort mehr Geschlossenheit und Entschiedenheit von ihren Regierungen und weniger Politik des kleinsten gemeinsamen Nenners. Entscheidend ist, dass sich was bewegt. Ich werde bei den Wahlen dafür werben, dass auch andere Koalitionsoptionen möglich sind. Demokraten dürfen sich nicht von Populisten treiben lassen.