NBR: Herr Mützenich, es heißt, dass jüngere und unbekanntere Parlamentarier mehr Raum finden, seitdem Sie die Fraktion führen. Fürchten Sie nicht, dass das dazu führt, dass die Fraktion vielstimmiger und dadurch weniger einheitlich auftritt?
Rolf Mützenich: Vielstimmigkeit ist nicht schlecht, solange sie sich an den Inhalten, Werten und Überzeugungen der Sozialdemokratischen Partei festmacht. Vielstimmigkeit aber auch alleine deshalb gegeben, weil alle meine Kolleginnen und Kollegen fachpolitisch ein eigenes Arbeitsfeld zu betreuen haben. Man muss sich aber auch nicht zu jedem Thema äußern.
Aber es gibt Leute in der SPD, die das sehr gerne tun.
Das wird jetzt weniger.
Die Reihenfolge ist ja jetzt nicht einfach: Die Fraktion wählt im September eine neue Spitze, die neuen Parteichefs stehen aber erst viel später fest. Würden Sie Ihren Platz wieder räumen, wenn ein neuer Parteichef Anspruch erhebt, auch die Fraktion zu führen?
Ich übernehme jetzt Verantwortung. Die Wahl ist am 24. September, und meine Kandidatur ist ein Signal, das von vielen gewünscht war. Die Bundestagsfraktion ist ein eigener Bestandteil der SPD. Jede und jeder künftige Parteivorsitzende wird ihre Selbstständigkeit achten.
Sie haben eine scharfe Rede zur Regierungserklärung von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer gehalten. War das schon eine Oppositionsrede?
Nein, die Schärfe, die einige herausgelesen haben, war da nicht drin. Es war eine selbstbewusste Rede. Ich wollte außerdem der neuen Ministerin signalisieren, dass sie mit einem selbstbewussten Parlament konfrontiert ist, welches ebenfalls über außenpolitische Expertise verfügt. Wenn mir das gelungen ist: Umso besser.
Aber haben Sie damit nicht die ohnehin zerbrechliche Koalition weiter destabilisiert?
Wer mich kennt, konnte von meinen Aussagen nicht überrascht sein. Mit Blick auf das Zwei-Prozent-Ziel und die Arbeit der Verteidigungsminister aus der CDU habe ich nun ja nichts Neues gesagt. Dass ich Trump einen Rassisten genannt habe, halte ich für berechtigt. Trump hatte unmittelbar vor der Debatte vier US-Abgeordnete mit Migrationshintergrund, drei davon in den USA geboren, aufgefordert in ihre angeblichen Heimatländer zurückzugehen. Das ist rassistisch.
Solche Kritik an Trump ist weitgehend Konsens, während der Umgang mit Putin gerade auch in der SPD umstritten ist. Sind die Maßstäbe, die an die Vereinigten Staaten angelegt werden, strenger als die an Russland?
Eine Demokratie muss sich natürlich an ihren demokratischen Maßstäben messen lassen. Und natürlich müssen wir uns stärker um die USA sorgen, denn wir sind Ihnen seit 50 Jahren in einem Bündnis verbunden. Zusammenschlüsse demokratischer Staaten gründen sich auf Prinzipien und Regeln. Wenn diese missachtet werden, dann muss man das benennen. Außerdem brauchen wir die USA nach wie vor als Garant einer funktionierenden Weltordnung. Leider ist die gegenwärtige Administration daran nicht mehr interessiert. Zum Umgang mit Russland: Dass beispielsweise die russische Besetzung der Krim völkerrechtswidrig ist, habe ich nie bestritten. Am Ende, vielleicht erst in einigen Jahrzehnten, werden die Ukraine und Russland diese Frage bilateral regeln müssen.
Es gibt Sozialdemokraten aus dem Osten, die ein möglichst schnelles Ende der Sanktionen fordern. Lehnen Sie das weiter ab?
Diese Sanktionen sind nicht allein wegen der Krim und wegen des Verhaltens Russlands in der Ostukraine beschlossen worden. Sie waren auch der Kompromiss in der EU, auf den sich alle verständigen konnten. Es gab ja auch Mitgliedsländer, die viel mehr wollten und vielleicht sogar mit militärischen Mitteln geantwortet hätten. Einem Ende der Sanktionen müssen eine Strategie und ein Forderungskatalog vorausgehen und dieser muss eingebettet sein in einen friedlichen und abgestimmten Prozess. Ich habe die Hoffnung, dass es mit dem neuen ukrainischen Präsidenten möglich wird, schrittweise die Sanktionen zurückzunehmen, wenn beide Seiten den Minsk-Vertrag endlich ernst nehmen. Unabhängig davon und trotz aller Rückschläge müssen wir wieder stärker an einer europäischen Friedensordnung arbeiten, unter Einschluss Russlands und der Nachfolgestaaten der Sowjetunion.
Kommen wir noch einmal zur Koalition zurück: Für wie zerbrechlich halten Sie das Bündnis?
Jede Koalition ist zerbrechlich, denn sie setzt sich aus verschiedenen Parteien zusammen. Dass die große Koalition in schwierigem Fahrwasser ist, steht außer Frage. Ich möchte aber daran erinnern, dass zunächst andere den Anspruch hatten, für eine Koalition im Bundestag zu sorgen. Nach dem Scheitern von Jamaika wurde von uns Sozialdemokraten erwartet, nun im Gegensatz zu anderen staatsbürgerliche Verantwortung zu übernehmen. Das haben wir gemacht. Wir haben in unserer Geschichte immer Verlässlichkeit gezeigt und Verantwortung übernommen, wenn andere Parteien sich längst aus dem Staub gemacht haben.
Aber der SPD schadet das ja offensichtlich. War es ein Fehler, in die Koalition zu gehen?
Ich verüble es niemandem, wenn er zu dieser Auffassung kommt. Ich kann mir aber diesen Luxus nicht leisten, denn ich habe Führungsverantwortung in der Fraktion übernommen, erst als stellvertretender Vorsitzender und im Moment als kommissarischer Fraktionsvorsitzender. Ich habe den Auftrag, in dieser Koalition sozialdemokratische Inhalte umzusetzen. Man sollte zudem nicht dem Irrtum erliegen, die Groko zur alleinigen Ursache für die derzeitigen Umfrage- und Wahlergebnisse zu erklären. Das hat auch strukturelle Gründe.
Welche?
Das liegt sicher auch an der Deindustrialisierung und einem tiefgreifenden Struktur- und Kulturwandel, genauso wie an jahrzehntelanger erfolgreicher Sozialpolitik. Einige meinen, damit habe die SPD ihre Aufgabe erfüllt. Die Sozialdemokratie wird aber auch heute noch gebraucht. Gerade die SPD gibt Antworten auf die großen Zukunftsfragen: auf die Digitalisierung der Arbeitswelt, den Klimawandel und den Erhalt des Frieden – bei all diesen Fragen geht es immer zugleich um den Zusammenhalt unserer Gesellschaft.
Der Koalitionsausschuss hat sich darauf verständigt, dass die Bundesregierung bis Mitte Oktober die Bestandsaufnahme vornimmt - welche Rolle spielen die Fraktionen und die Parteien dann noch? Läuft das nicht Ihrem Ziel einer selbstbewussten Fraktion zuwider?
Das eine schließt das andere nicht aus. Die Bundesregierung wird eine Bestandsaufnahme machen und selbstverständlich werden wir als SPD-Bundestagsfraktion zusammen mit der Partei Bilanz ziehen. Wir schauen uns an, was ist erreicht worden, was steht noch im Koalitionsvertrag an Arbeitsaufträgen, und welche Themen sind neu hinzugekommen. Das ist mir besonders wichtig – der Blick auf die Zukunft. Eine Koalition ist nie Selbstzweck, sondern sollte immer dem Wohl des Landes und der Menschen dienen.
Die Grundrente ist am Sonntag noch einmal vertagt worden. Rechnen Sie vor der Bestandsaufnahme mit einer Einigung? In welchen Punkten ist die SPD bereit, auf die Union zuzugehen?
Auch am Sonntag ist wieder deutlich geworden, dass alle Beteiligten ein großes Interesse an einer Einigung haben. Nicht nur die SPD-Fraktion will die Grundrente, auch der Koalitionspartner. Das muss jetzt schnell kommen. Die Grundrente muss unbürokratisch sein und all diejenigen erreichen, die sie sich durch jahrelange Arbeit, Erziehung und Pflege verdient haben. Das sind übrigens besonders viele Menschen in Ostdeutschland. Eine Bedürftigkeitsprüfung ist der falsche Ansatz: Denn die gesetzliche Rente ist immer ein erworbener Anspruch und wird nicht nach Bedürftigkeit verteilt. Die Grundrente setzt jahrzehntelange Beitragszahlungen voraus. Ich erinnere an die Mütterrente, auch diese ist ein Anspruch, kein Almosen.