Deutschland haftet für 211 Milliarden Euro. War das nun die letzte Entscheidung zur Euro-Rettung?
Steinmeier: Nein. Und ich rate allen, endlich ehrlich zu sagen was ist: Wir haben die tiefste Krise der Europäischen Union seit ihrem Beginn. Die Folgen dieser Krise werden uns die nächsten zehn Jahre beschäftigen. Der mehrfach wiederholte Versuch der Bundesregierung, der Öffentlichkeit weis zu machen, das sei das Ende der Fahnenstange, ist schlicht die Unwahrheit. Das führt immer wieder zu Verlust von Glaubwürdigkeit der Politik insgesamt.
Auch in ihrer Wählerschaft gibt es Unmut über die ständigen Rettungsmaßnahmen. Wie lange werden Sie den Pro-Europa-Kurs durchhalten?
Steinmeier: Die SPD tritt nicht für ein naives Wohlfühl-Europa ein. Im Gegenteil - uns ist sehr bewusst: Dieses Europa ist die Antwort auf zwei Weltkriege, es ist über den Gräbern unserer Väter und Großväter entstanden. Es ist dieses Europa, das 60 Jahre Frieden und ein Maß an Wohlstand für Deutschland erbracht hat, das noch vor Jahrzehnten unvorstellbar schien. Auch die Deutsche Einheit wäre ohne Europa nicht möglich gewesen. Das ist die Geschichte. Aber wir müssen auch begründen, warum Europa unsere Zukunft ist. Ich sage: Europa ist unsere Hoffnung auf weitere Jahrzehnte Frieden und Wohlstand. Nur gemeinsam sind wir stark genug, im weltweiten Wettbewerb standzuhalten, unsere Freiheit zu verteidigen und Frieden zu bewahren.
Mit welchen Maßnahmen kommt Europa aus der Krise heraus?
Steinmeier: Wir müssen den Rettungsschirm für den Euro verabreden und die Neuverschuldung in Europa insgesamt, vor allem aber in den Mittelmeer-Ländern zurückführen. Es muss Europa zudem gelingen, zu wirtschaftlichem Wachstum zurückzukehren. Es liegt auf der Hand, dass die Einsparungen, zu denen wir Staaten wie Griechenland zwingen und die unumgänglich sind, noch nicht dazu führen, dass in diesem Land neue wirtschaftliche Aktivitäten und neues Wachstum entstehen. Wir benötigen einen gemeinschaftlichen Kraftakt der europäischen Wirtschaft und der europäischen Politik, den Griechen beizustehen. Das darf aber nicht auf Kosten des Steuerzahlers geschehen.
Woher soll das Geld kommen, wenn nicht vom Steuerzahler?
Steinmeier: Dafür sollten wir das Geld aus der ohnehin notwendigen Besteuerung der Finanzmärkte nutzen. Damit würden sich endlich diejenigen an Wirtschaftshilfen für Griechenland beteiligen, die in der Vergangenheit den größten Nutzen vom Wachsen der Finanzmärkte hatten.
Wird Griechenland ohne Umschuldung auf die Beine kommen?
Steinmeier: Wir brauchen drei Schritte. An erster Stelle müssen die Griechen sparen. Zweitens müssen wir in Griechenland Wachstumsimpulse setzen, beispielsweise durch Investitionen in erneuerbare Energien und in den Tourismus. Und drittens werden wir nur erfolgreich sein, wenn der Schuldenstand Griechenlands reduziert wird.
Wie sollen die Schulden Griechenlands reduziert werden?
Steinmeier: Es wird nicht ausreichen, nur immer neue Rettungsschirme aufzulegen. Wir müssen über neue Ansätze nachdenken. Ein Problem ist beispielsweise, dass die Griechen zwar Staatsvermögen haben, es aber momentan nur zu Ramschpreisen verkaufen könnten. Ich halte deshalb den Vorschlag für ein europäisches Treuhandmodell für durchaus nachdenkenswert, an das griechisches Staatsvermögen übertragen wird. Diese EU-Treuhand privatisiert dann innerhalb von zehn bis 15 Jahren. Mit dem Geld könnte Griechenland seine Verschuldung reduzieren und Investitionen in Wachstum finanzieren. Das könnte ein Baustein sein.
Sollte die EU einen nationalen Etat für nichtig erklären können, wenn er nicht den Maßstäben einer Stabilitätsunion entspricht?
Steinmeier: Wir brauchen eine gemeinsame Wirtschafts- und Finanzpolitik. Ohne die können wir die Währungsunion nicht erhalten. Dies wird dauerhaft nicht ohne eine Änderung der Verträge gehen. Wir haben Regelungen dafür geschaffen, dass Notlagen-Staaten, die Hilfen in Anspruch nehmen, verbindliche Auflagen, auch für die Haushaltspolitik erfüllen müssen. Wir müssen aber auch dazu kommen, dass Fehlentwicklungen schon früher erkannt und abgestellt werden.
Sind Sie felsenfest davon überzeugt, dass Griechenland den Euro behält?
Steinmeier: Die griechische Regierung kämpft mutig und entschlossen für ihr Land. Die Griechen wollen Teil der Währungsunion bleiben. Darauf richten sich alle politischen Anstrengungen. Dazu gehört auch der Konflikt mit der Opposition auf der Straße. Wenn Griechenland diesen Weg beibehält und auf einen Wachstumspfad zurückgebracht wird, dann wird es in der Währungsunion bleiben.
Die Streiks in Athen weiten sich aus. Fürchten Sie soziale Unruhen am Südzipfel Europas?
Steinmeier: Manche mögen schulterzuckend sagen, was geht mich das an. Aber machen wir uns nichts vor. Die sozialen Unruhen in London, die Proteste arbeitsloser junger Menschen in Madrid – das waren Warnsignale. Soziale Unruhen und _Not in mehr und mehr Mitgliedsstaaten stellen Europa als Ganzes in Frage. Und wenn wir die Probleme in diesen Ländern nicht in den Griff kriegen, werden sie schneller bei uns sein, als sich viele vorstellen können.
Herr Steinmeier, Sie haben vergangenes Jahr ihrer Frau eine Niere gespendet. Wie geht es Ihnen heute?
Steinmeier: Ich fühle mich gut.
Die Bürger sollen künftig erklären, ob sie bereit sind, im Todesfall ihre Organe zu spenden. Wird das die Zahl der Organspender erhöhen?
Steinmeier: Ein Gesetz allein verändert noch keine Haltung. Wir brauchen eine bessere Organisation in den Krankenhäusern und mehr Engagement bei der Aufklärung. Ohne gesetzliche Änderung wird es aber auch nicht gehen. Ich glaube es ist richtig, dass sich jeder Mensch zu Lebzeiten mit der Frage der Organspende befasst. Das müssen wir den Menschen zumuten. und wir sollten es auch, denn das ist doch besser, als es den Angehorigen in den Stunden der Trauer um den Tod eines lieben Menschen zu überlassen. Deshalb plädiere ich für die Entscheidungslösung.
Wer sollte nach dem Willen zur Organspende fragen: Die Bürgerämter oder die Krankenkassen?
Steinmeier: Wir haben alle Alternativen intensiv mit Fachleuten beraten. Und ich bin ganz eindeutig der Auffassung, dass diese Aufgabe die Krankenkassen übernehmen sollen.
Parteichef Gabriel hat neulich gesagt, dass sich ein Parteivorsitzender auch das Amt des Kanzlerkandidaten zutrauen muss. Gilt das auch für den Fraktionschef?
Steinmeier: Es ist doch schön, dass in der Öffentlichkeit mindestens drei mögliche Kanzlerkandidaten für die SPD gehandelt werden. Aber das werden wir entscheiden, wenn es soweit ist.
Die nächsten Bundestagswahlen sind 2013. Diskutieren Sie zu früh über den Kanzlerkandidaten?
Steinmeier: Wann auch immer gewählt wird. Es ist kein Unglück, dass sich die Öffentlichkeit nur noch Gedanken darüber macht, welcher Sozialdemokrat der nächste Kanzler wird.