Handelsblatt: Herr Steinmeier, fällt es Ihnen mit langer Regierungserfahrung schwer, in der Krise nur von der Seitenlinie aus das Handeln der Kanzlerin zu beobachten?

Frank-Walter Steinmeier: Wir würden es besser machen – davon bin ich überzeugt. In der Regierung von Union und FDP steht seit anderthalb Jahren allein im Vordergrund, was den Laden noch zusammenhält, und nicht das, was für unser Land und das gemeinsame Ganze das Beste wäre. Frau Merkels Politik der kleinen Schritte ist nichts anderes als eine Politik der täglichen Dementis. Und das ist gefährlich.

Handelsblatt: Wieso?

Steinmeier: Weil es die Glaubwürdigkeit von Politik ruiniert. Und weil keine Entscheidung der Regierung länger gehalten hat als drei Monate. Gefährlich ist, dass vor zwei Wochen, vor der Verabschiedung des vorläufigen Rettungsschirms EFSF, noch verbreitet wurde, dass dieser Rettungsschirm das Haftungsrisiko für Deutschland begrenzt. Wir haben immer gesagt, dieser Rettungsschirm ist zu knapp bemessen, um das beruhigende Signal an die Finanzmärkte zu senden.

Handelsblatt: Wie groß muss er denn sein?

Steinmeier: Das kommt darauf an, welche Aufgaben der EFSF noch alles erfüllen soll. Klar ist nur, die jetzige Konstruktion reicht nicht aus.

Handelsblatt: Was muss der Gipfel am Wochenende beschließen?

Steinmeier: Wir haben kaum noch einen Schuss frei. Das, was der Europäische Rat jetzt entscheidet, muss sitzen. Völlig klar ist: Die starken Länder in Europa können nicht für alle Schulden aufkommen. Aber wir müssen den Menschen erklären, dass die Stabilisierung des südeuropäischen Raums kein reiner Akt der Nächstenliebe ist, sondern dass wir damit auch für unsere eigenen Interessen kämpfen. Nie voraussetzungslos, aber in der Gewissheit, dass unser Wachstum von diesen wichtigen Exportmärkte abhängen. Im Klartext heißt das: Es geht um Jobs hier in Deutschland.

Handelsblatt: Also auch ein Ja zu Hebelungsinstrumenten?

Steinmeier: Die SPD wird alles tun, was sinnvoll und nötig ist, um Wachstum und Arbeitsplätze zu sichern. Aber ich sage auch ganz klar: Sie werden von mir jetzt keine Zustimmung zu einem europäischen Beschluss hören, der mir noch nicht vorliegt. Wir werden uns die Risiken sehr genau anschauen. Da ich mir keinen Beschluss vorstellen kann, der ohne Erhöhung des Haftungsrisikos auskommt, kann ich mir auch keine Lösung vorstellen, die ohne erneut Befassung des Bundestages auskommen wird.

Handelsblatt: Und eine Schuldenerleichterung für Griechenland?

Steinmeier: Peer Steinbrück und ich haben schon vor einem Jahr in einem Aufsatz darauf hingewiesen, dass Griechenland selbst bei strengster Haushaltsdisziplin nicht in der Lage sein wird, seinen hohen Schuldenstand zu verringern, und dass eine Schuldenreduzierung unumgänglich ist. Die höhere Gläubigerbeteiligung muss jetzt erfolgen, und sie muss eher bei 50 als bei 21 Prozent liegen.

Handelsblatt: Wie nehmen Sie die Haltung der Banken derzeit wahr?

Steinmeier: Ich habe Banken nie dafür kritisiert, dass sie in Staatsanleihen angelegt haben. Diese waren das solide Fundament eines funktionierenden Kreditwesens und müssen es wieder werden. Aber die Vertreter der Banken sollten nicht verkennen, dass viele Institute 2008 nur mit massivem Einsatz von Steuergeldern durch die Krise gekommen sind. Auch das hat zur Verschuldung der Staaten beigetragen. Wenn sie jetzt so reden, als hätten sie mit der Krise nichts zu tun, finde ich, dass sie Vertrauen nicht wegen der Politik, sondern durch eigenes Verhalten verloren haben.

Handelsblatt: Zeigen das die Proteste wie Occupy Wall Street?

Steinmeier: Ja, sie dokumentieren, dass nicht nur das Vertrauen in die Banken, sondern auch in die Ordnungskraft des Marktes radikal vernichtet worden ist. Dass der Markt wieder dem Recht folgt und nicht das Recht dem Markt, das ist die Aufgabe von Politik.

Handelsblatt: Die Protestler kritisieren auch die Politik.

Steinmeier:  Meine große Sorge ist, dass das schwindende Vertrauen am Ende auch unsere Demokratie in Mitleidenschaft zieht. Deshalb müssen wir dafür kämpfen, dass wir dem Wildwuchs der Finanzmärkte wieder Verkehrsschilder entgegenstellen mit klaren Regeln.

Handelsblatt: SPD-Chef Gabriel fordert die Zerlegung der Universalbank in Investment- und Geschäftsbank.

Steinmeier: Sigmar Gabriel hat eine wichtige Debatte angestoßen. Selbst Briten und Amerikaner ziehen ihre Schlüsse aus manch unverantwortlichem Verhalten im Investmentgeschäft. Es muss ein klares Signal geben, dass die Interessen von Anlegern und jenen, die im Alltag auf günstige Kredite für ihre Betriebe angewiesen sind, nicht den Unverantwortlichkeiten im Investmentgeschäft geopfert werden.

Handelsblatt: Lehman war eine reine Investmentbank – und das hat eine Krise auch nicht verhindert.

Steinmeier: Niemand sagt, dass die Trennung von klassischem Bankgeschäft und Investment einfach ist. Niemand behauptet, dass wir damit die Gesamtlösung für in Zukunft problemfreie Finanzmärkte haben. Aber das real erfahrene Problem des „too big to fail“ müssen wir angehen. Die Politik darf nicht wieder in eine Erpressungssituation geraten und dem Steuerzahler Lasten aufbürden.

Handelsblatt: Muss jetzt eine Große Koalition Europa retten?

Steinmeier: Wir sind nicht Ersatzspieler dieser Regierung. Eine andere und bessere Regierung wird es nur durch Wahlen geben.

Handelsblatt: Mit einem Kanzlerkandidaten Steinmeier?

Steinmeier: Mit einem für die Wähler attraktiven  Kandidaten und einer Partei, die aufgestellt ist, um Regierungsverantwortung zu tragen.