Welt am Sonntag: Herr Oppermann, der Innenminister will aus Gründen der Sicherheit den Föderalismus reformieren, die Landesverfassungsschutzämter abschaffen. Was halten Sie davon?

Thomas Oppermann: Es ist eine deutsche Untugend, in schwierigen Situationen nicht die nahe liegenden pragmatischen Schritte zu gehen, sondern Grundsatzdebatten zu führen. Wenn die Sicherheitsbehörden jetzt erst einmal mit großen Umstrukturierungen, also vor allem mit sich selbst beschäftigt sind, erhöht das nicht die Sicherheit in unserem Land. 

Ist nicht dennoch etwas dran, wenn ein Bundesinnenminister diese Forderung erhebt? Otto Schily (SPD) klang einst ganz ähnlich...

Ein Landesamt für Verfassungsschutz mit ein paar Dutzend Mitarbeitern kann natürlich nur bedingt effizient arbeiten. Aber: Wir brauchen einen Staat, der Sicherheit schafft, keinen zentralen Sicherheitsstaat.

Otto Schily sprach einst von einem „Supergrundrecht auf Sicherheit“. Gibt es so etwas?

Das ist verfassungsjuristisch umstritten. Ganz sicher aber die Bürger einen Anspruch auf Schutz. Die Idee des Rechtsstaates ist: Es gilt nicht das Recht des Stärkeren, sondern der Staat setzt das Recht. Die Bürger verzichten, bis auf das Recht zur Notwehr, auf die gewaltsame Durchsetzung ihrer Interessen. Das Gewaltmonopol liegt beim Staat. Im Gegenzug haben die Bürger einen Anspruch darauf, dass der Staat sie vor Gewalt und Kriminalität schützt.

Die Angehörigen der Opfer vom Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt werden sagen: Der Staat hat diesen Schutz nicht gewährt.

Da haben sie Recht. Kein Staat auf der Welt kann perfekte Sicherheit garantieren. Absolute Sicherheit gibt es nirgends. Aber die Bürger dürfen erwarten, dass der Staat alles ihm Mögliche unternimmt, um sie zu schützen. Das ist nicht ausreichend geschehen, so dass es am 19. Dezember 2016 diesen furchtbaren Anschlag gegeben hat.   

Der Umgang mit dem tunesischen Gefährder Anis Amri zeigt ein Versagen in der Terrorabwehr. Wie wollen Sie künftig mit Gefährdern umgehen?

Jemand wie Amri darf in Deutschland nicht frei herum laufen. Er war abgelehnter Asylbewerber, es gab Hinweise auf Aktivitäten in der Drogenszene, er hat sich unter mehreren Identitäten Sozialleistungen erschlichen. Gegen solche Leute müssen wir eine härtere Gangart einschlagen. Amri vereinte in einer Person mehrere Gründe, um ihn auszuweisen. Abgelehnte ausreisepflichtige Asylbewerber, die als Gefährder gelten, gehören in Gewahrsam. Wenn ihre Abschiebung an fehlenden Papieren scheitert, müssen diese schnell beschafft werden.

Und so lange bleiben die Betroffenen in Haft?

Ausreisepflichtige, straffällige Gefährder können wir schon jetzt festsetzen – sogar bis zu 18 Monate lang. Auch ein Gesetzentwurf zur Fußfessel für verurteilte Extremisten ist auf den Weg gebracht. Diese müssen wir besonders im Blick haben, sie haben null Toleranz verdient.

Sollten syrische Geflüchtete, die einen Obdachlosen anzünden, in ihre Heimat abgeschoben werden?

Ich frage mich, was in den Köpfen dieser jungen Syrer vorgeht. Auf jeden Fall muss die Allgemeinheit vor ihnen geschützt werden. Wir können keine Syrer nach Aleppo abschieben. Aber diese Täter werden in Deutschland eine Strafhaft absitzen. Wenn sie die verbüßt haben und die Lage in Syrien besser ist, sollten wir sie abschieben.

Wer Flüchtlingen großzügig Schutz gewährt, muss diejenigen, die zu Unrecht hier untergekommen sind, notfalls zwangsabschieben. Warum gibt es so große Vorbehalte dagegen?

Das Grundrecht auf Asyl wird von den Deutschen mehrheitlich unterstützt. Es funktioniert aber nur, wenn jeder, der kein Bleiberecht hat, konsequent abgeschoben wird. Wir müssen das Recht der Abschiebungen überprüfen, eventuell verschärfen. Nur so können wir den wirklich Schutzbedürftigen helfen.

Rückführungen aber funktionieren kaum, aus innen- wie außenpolitischen Gründen. Der Fall Amri zeigt das.

Die Rückführungen müssen praktikabler gemacht werden. Bundesinnenminister de Maizière hat vor einem Jahr mit vielen Vorschusslorbeeren das Zentrum für Rückführungen in Potsdam eröffnet. Es ist aber bis heute personell hoffnungslos unterbesetzt und überfordert. Hier hat der Innenminister noch viel zu tun. Außerdem muss er endlich die Rückführungsabkommen mit den nordafrikanischen Ländern verbessern. In Deutschlandleben mehr als 20.000 ausreisepflichtige Nordafrikaner, bei denen die Abschiebung nicht funktioniert.

Ist da nicht die Landesregierung gefragt?

Nein. Es ist die Aufgabe von de Maizière und Entwicklungshilfeminister Müller, hier tätig werden. Rückkehrprämien sollten wir nicht zahlen. Aber wir können abgeschobenen Nordafrikanern Perspektiven – etwa eine berufliche Ausbildung – in ihrer Heimat eröffnen. Also zugespitzt: Lehre in Tunis statt Hartz IV in Bielefeld.

Was haben Sie gegen Transitzentren, wenn dort binnen acht Wochen das jeweilige Asylverfahren abgeschlossen werden kann? Ist dieses Verfahren nicht menschlicher, als Flüchtlinge zu verteilen, einem Verfahren auszusetzen, das bis zu sechs Jahre währt, bis es zur Ablehnung führt?

Die Bundesregierung will Asylverfahren in drei Monaten abschließen. Davon sind wir immer noch weit entfernt. Warum diese Verfahren in Transitzentren schneller funktionieren sollen als in den dezentralen Einrichtungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge, kann ich nicht erkennen. Klar ist: Die Identität von Asylbewerbern muss schneller geklärt werden, zur Not müssen wir sie auch festsetzen.

Sollte es zum Fall Amri einen Untersuchungsausschuss des Bundestages geben?

Der Fall Amri muss gründlich aufgeklärt werden. Und wir müssen schnell sinnvolle Maßnahmen ergreifen, um Fehler nicht zu wiederholen. Mich ärgert, dass nicht alles, was im Gesetz steht, genutzt werden konnte. Das hat Nordrhein-Westfallens Innenminister in dieser Woche anschaulich dargelegt. Auch Thomas de Maizière kann Gefährder bei Terrorismusverdacht  mit einer Abschiebungsanordnung  sofort abschieben. Er hat es aber noch nie getan. Bevor Herr de Maizière neue Vorschriften fordert, sollte er dafür sorgen, dass bestehende Vorschriften angewendet werden.   

Seit 2005 stellt die Union den Innenminister. Fehlt der SPD heutzutage ein Otto Schily?

Otto Schily ist ein Unikat. Er war der legendäre Innenminister der rot-grünen Bundesregierung. Mit seiner Unzweideutigkeit in schwierigen Situationen hat er dafür gesorgt, dass sich die Bürger von diesem Staat beschützt fühlten. Klartext in Fragen der Inneren Sicherheit spricht die SPD aber heute ebenso. Wir sind auch in der Inneren Sicherheit die treibende Kraft. Tausende Stellen für Bundespolizei und andere Sicherheitsbehörden haben wir durchgesetzt, nicht die Union.  

Zu Ihrer Partei: Würden Sie in neun Monaten jemanden zum Kanzler wählen, der heute noch nicht weiß, ob er das Amt anstreben will?

Die SPD will den Kanzler stellen und der Kandidat will das auch.

Fast jeder rechnet mit einer Kanzlerkandidatur Sigmar Gabriels. Wie lange wird er noch zaudern und zögern?

Wir haben einen Fahrplan beschlossen, der sich als klug erwiesen hat. Ende Januar werden wir unseren Kanzlerkandidaten und seine inhaltlichen Botschaften präsentieren. Ich verspreche Ihnen: Es wird keine Verlegenheitslösung sein.

Kann Gabriel überhaupt noch auf eine Kandidatur verzichten?

Der SPD-Vorsitzende ist immer auch der natürliche Kanzlerkandidat. Insofern liegt die Entscheidung zuerst bei ihm. Er hat den ersten Zugriff, er wird einen Vorschlag machen.

Was muss der Kandidat für Fähigkeiten haben, um der SPD eine Mehrheit zu verschaffen?

Er muss ein erstklassiger Kämpfer für unsere Inhalte sein. Es ist Zeit für mehr Gerechtigkeit in diesem Land. Großkonzerne zahlen keine Steuern, während die kleinen Selbständigen das tun müssen. Vorstände kassieren exorbitante Managergehälter und Boni, während einfache Jobs verloren gehen. Trotz langjähriger Beschäftigung haben viele Menschen in Deutschland Angst vor Altersarmut. Deswegen werden wir Antworten geben, wie wir bessere Bildung, gute Gesundheit und stabile Renten sichern können.

Sie wollen also einen Wahlkampf gegen die Reichen machen.

Wir werden weder eine Neiddebatte noch einen ideologischen Klassenkampf führen, sondern einen Wahlkampf für sozialen Zusammenhalt und soziale Gerechtigkeit. Alle, die außergewöhnliches leisten, sollen außergewöhnliche Gehälter bekommen. Wenn aber heute ein Manager das Hundertfache eines Facharbeiters verdient, während gleichzeitig Stellen gestrichen werden, ist das unanständig und passt nicht in die soziale Marktwirtschaft. Maß und Mitte sind verloren gegangen.

Es gibt aber eine Lohnautonomie.

Natürlich wird der Staat keine Lohn- und Gehaltsfindung betreiben. Aber wir finden es nicht gerecht, dass die normalen Steuerzahler diese exzessiven Gehälter auch noch mitbezahlen. Deswegen werden wir sie nicht weiter subventionieren, wie das heute der Fall ist. Wir schlagen vor, dass Unternehmen Gehaltsprämien und Boni oberhalb von 500.000 Euro im Jahr nicht mehr von der Steuer absetzen können.

Mit welchem Koalitionspartner wollen Sie das durchsetzen – mit Frau Merkel oder Frau Wagenknecht?

Vorrangig ist, dass wir es durchsetzen. Wir werden nicht mit einer Koalitionsaussage in den Wahlkampf ziehen. Natürlich sind wir bereit, mit allen – außer der AfD – nach der Wahl zu sprechen. Wir suchen den Partner, mit dem wir am meisten umsetzen können.

Die SPD ist Staatspartei. Müsste sie nicht klarstellen, dass die Linke, die die Nato-Mitgliedschaft ablehnt und bei denen Teile die EU-Mitgliedschaft infrage stellt, kein Koalitionspartner sein kann?

Wir werden niemals in eine Koalition gehen, die darauf angelegt ist, die EU oder die Nato zu schwächen. Das gilt erst recht in einer Zeit, in der Donald Trump als neuer US-Präsident ein schwer kalkulierbarer Partner sein wird.

In den Umfragen stehen Sie bei 20 bis 22 Prozent. Damit kann man keinen Kanzler stellen, oder?

Nein, und wir sind damit auch nicht zufrieden. Die SPD kämpft bei der Bundestagswahl um 30 Prozent plus x. Wir werden uns personell gut aufstellen und in der Sache hart streiten. Wir sind die Partei der Gerechtigkeit - ich bin überzeugt, wir haben die Chance.

Wünschen Sie sich die FDP zurück in dem Bundestag?

Wenn es die FDP in den Bundestag schafft, wird sie für uns ein Gesprächspartner sein. Christian Lindner ist dabei, diese Partei zu modernisieren.

CDU und CSU sind zerstritten wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Können Sie sich eine Koalition nur mit der CDU und ohne die CSU vorstellen?

Niemand wünscht sich – ob mit oder ohne CSU – eine Fortsetzung der großen Koalition. Ihr Szenario aber ist nicht ausgeschlossen. Denn Horst Seehofer stellt ultimative Forderungen auf, die ihm den Weg in eine Regierung verbauen könnten. CDU und CSU verfolgen in zentralen Politikfeldern grundverschiedene Ziele. Ich sehe daher heute keine Grundlage dafür, dass sich CDU und CSU im September 2017 zu einer gemeinsamen Fraktion im Bundestag zusammenschließen werden.

Im nächsten Bundestag können bis zu sieben Parteien sitzen. Wie empfinden Sie dieses Vielparteiensystem? Als wohltuender Ausdruck des Wählerwillens oder als desaströse Zersplitterung?

Es wäre Ausdruck des Wählerwillens. Doch natürlich erschwert eine solche Vielfalt die Regierungsbildung. Unterhalb einer Dreierkoalition, die wir mit SPD, CDU und CSU ja jetzt schon haben, wird es möglicherweise nicht gehen. Eine stärkere Opposition als bisher fände ich gut. Grüne und Linke waren seit 2013 extrem schwach und nicht in der Lage, einen starken Kontrapunkt zu setzen.

In fünf Wochen wird Frank Walter Steinmeier gewählt. Wann wird die SPD Martin Schulz zum Nachfolger nominieren?

Martin Schulz wäre mit seiner internationalen Expertise hervorragend qualifiziert, das Auswärtige Amt zu leiten. Er kann Außenminister. Eine Entscheidung über die Nachfolge Steinmeiers wird noch in diesem Monat fallen.

Sie lockt es nicht, Außenminister zu werden?

Ich bin seit drei Jahren gern Fraktionsvorsitzender. Mir macht diese Arbeit Freude und ich will sie fortsetzen.