Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) hat an diesem Donnerstag eine Regierungserklärung zum bevorstehenden EU-Gipfel abgegeben. Darin versuchte sie, ihre Europapolitik zu erklären und sagte, Griechenland solle im Euro bleiben. SPD-Kanzlerkandidat Peer Steinbrück eröffnete die Aussprache und warf der Kanzlerin einseitige, zögernde Krisenpolitik vor. Von einer historischen Europa-Politik sei sie weit entfernt.
Sehr geehrter Herr Präsident!
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
eine sehr geehrten Damen und Herren!
Ebenso wie Sie, Frau Bundeskanzlerin, freuen wir Sozialdemokraten uns über die Verleihung des Friedensnobelpreises an die Europäische Union. In einer Zeit, in der viele Europäer in der Tat an Europa zweifeln, in einer Zeit, in der viele den Wert Europas nur noch an den Zinssätzen an den internationalen Finanzmärkten bemessen, erinnert uns das Nobelpreiskomitee in Oslo daran, dass Europa weit mehr ist als ein Wechselbalg der Ratingagenturen.
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Wir müssen dem Nobelpreiskomitee, wie ich glaube, dankbar sein, dass es uns und auch der Welt einen Fingerzeig darauf gegeben hat, warum Europa nach dem dreißigjährigen Krieg von 1914 bis 1945 Erbfeindschaften und einen mörderischen Nationalismus überwand, aber auch, wofür es in Zukunft immer gebraucht wird.
Im Rückblick auf über 60 Jahre Frieden und wirtschaftlichen Fortschritt haben wir Deutsche übrigens einen besonderen Grund zur Dankbarkeit und eine außerordentliche Mitverantwortung für das Wohlergehen Europas.
Denn es waren unsere westlichen Nachbarn und sehr weitsichtige Staatsmänner, die uns schon wenige Jahre nach dem Krieg trotz schrecklicher Erfahrungen, trotz unsäglicher Verbrechen einluden, an dieser europäischen Einigung teilzuhaben. Es waren übrigens auch unsere europäischen Nachbarn, die sich über die deutsche Wiedervereinigung freuten, obwohl sie mit einem starken Deutschland in der zentraleuropäischen Geografie über Jahrhunderte sehr schlechte Erfahrungen gemacht hatten. Sie hatten uns von den Montan-Verträgen zu Beginn der 50er-Jahre über die EWG, Römische Verträge 1957, die EG bis zur Europäischen Union inzwischen als gute, verlässliche und vor allen Dingen hilfsbereite Europäer kennengelernt. Und dabei sollte es bleiben.
Neben allem, worüber wir heute diskutieren und sicherlich auch streiten werden, dürfen wir nicht vergessen, worum es in Wahrheit bei diesem einmaligen Projekt Europa geht: um dauerhaften Frieden, um dauerhafte Freiheit, um dauerhafte Demokratie für alle Menschen auf unserem Kontinent. Gerade weil ‑ wie der französische Philosoph André Glucksmann sagt ‑ Demokratien dazu neigen, die tragische Dimension ihrer Geschichte gelegentlich zu ignorieren oder zu vergessen, und gerade weil sich die Bürger in der anhaltenden Krisendebatte mit all ihren Fachbegriffen, in all ihrer Komplexität zunehmend orientierungslos und überfordert fühlen, dürfen wir Politiker den Fehler nicht fortsetzen, dieses Europa nur auf eine Währungsunion, nur auf ein Zentralbanksystem, nur auf einen gemeinsamen Markt, nur auf eine intergouvernementale Veranstaltung von 25 Männern und zwei Frauen zu reduzieren.
Es geht in der Tat um die Behauptung des Zivilisationsprojektes „Europa“. Der Historiker Heinrich August Winkler redet über das normative Projekt des Westens unter Einschluss Nordamerikas in einer Welt dynamischer Veränderungen mit neu aufstrebenden Ländern und Kontinenten. Verliert Europa aber seine Wirkungsmacht durch Uneinigkeit und Renationalisierung ‑ und sei es auch noch so fahrlässig ‑, werden wir auch die Attraktivität dieses Zivilisationsprojektes nicht behaupten können.
Ja, Frau Bundeskanzlerin, was Europa zu bieten hat, ist einmalig in der Welt: Gewaltenteilung, Achtung der Menschenrechte, Minderheitenschutz, Sozialstaatlichkeit, unabhängige Gerichte, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Demonstrationsfreiheit, die Trennung von Staat und Kirche ‑ das Erbe der Aufklärung. Aber diese Rede und diese Beschreibung Europas, die hätten Sie schon vor zwei Jahren geben müssen.
Diese Beschreibung Europas und damit die Abwehr einer Verkürzung Europas auf das bloß Ökonomische wurden bereits vor zwei Jahren in einer Reihe von Beiträgen meiner Fraktion von diesem Pult aus formuliert. Kein Rettungsschirm und keine gemeinschaftliche Anstrengung sind deshalb zu groß, um dieses Europa für 500 Millionen Menschen, ihre Kinder und ihre Kindeskinder zu bewahren. Kleinmut würde dem nicht gerecht.
Deutschlands Zukunft ist Europa. In diese Zukunft werden wir investieren müssen, genauso wie wir in die deutsche Wiedervereinigung investiert haben. Das endlich den Bürgern unseres Landes zu sagen, Frau Bundeskanzlerin, und zu erklären, das ist Ihre Pflicht.
Deutschland wird mit Blick auf Griechenland im Konzert weiterer europäischer Länder weitere Verpflichtungen übernehmen müssen. Sagen Sie das endlich den Menschen!
In der Welt des 21. Jahrhunderts braucht Europa eine gemeinsame Stimme; denn es wird so sein, dass weder der chinesische noch der indische Staatspräsident und nicht einmal der US-amerikanische Präsident 27 europäische Staats- und Regierungschefs anrufen wird, um sich bei ihnen nach der europäischen Auffassung in zentralen Fragen wie Krieg und Frieden, Finanzarchitektur, Weltklima, Menschenrechte zu erkundigen. Will sagen: Entweder wir haben eine Stimme, oder wir haben keine Stimme.
Genau diese Gemeinsamkeit steht aber auf dem Spiel; denn es ist offensichtlich, dass Europa an einer Weggabelung steht. Für die Europäische Währungsunion drückt sich das in einem nach wie vor pendelnden Konflikt zwischen einer gemeinsamen Währung einerseits und nationalen souveränen Rechten und Parlamentarisierung auf der anderen Seite aus. Diesen Konflikt haben wir bisher nicht aufgelöst. Entweder wir gehen den Weg zurück in einen losen Staatenverbund mit einem gemeinsamen Markt, in dem jeder für sich selbst verantwortlich ist, gegebenenfalls auch abstürzt, oder wir gehen den Weg einer weiteren europäischen Einigung und der Parlamentarisierung. Das ist exakt die Grundsatzfrage, die wir zu erörtern haben.
So schwer es auch sein wird: Wir dürfen nicht zulassen, dass aus diesem in 60 Jahren gebauten europäischen Haus einzelne Steine wieder herausgebrochen werden. Dies gilt auch dann, wenn einzelne Staaten Fehler und Versäumnisse zu verantworten haben wie Griechenland und wenn sie mit die Ursache für eine Krise ihrer eigenen Volkswirtschaft sind. Ist erst einmal der erste Stein aus diesem Gebäude herausgebrochen, dann werden weitere folgen. Deshalb, Frau Bundeskanzlerin, war es ein so schwerer Fehler, dass Sie es zugelassen haben, dass im Sommer dieses Jahres Ihre Koalition monatelang ein Mobbing gegen die Mitgliedschaft von Griechenland in der Europäischen Währungsunion betrieben hat.
Sie haben nicht eingegriffen. Sie haben sich nicht bekannt. Sie haben laviert. Sie haben Herrn Dobrindt gewähren lassen, der gesagt hat: Ich sehe Griechenland 2013 außerhalb der Euro-Zone. Sie haben Herrn Söder gewähren lassen, der an Griechenland sogar ein Exempel statuieren wollte. Sie haben Herrn Rösler gewähren lassen, der darauf hinwies, dass für ihn ein Austritt Griechenlands längst seinen Schrecken verloren habe. Sie haben Herrn Brüderle gewähren lassen, der einer Zeitung wörtlich gesagt hat, dass der Bitte Griechenlands, noch einmal zwei Jahre Zeit zu erhalten, nachdem es seine Verträge nicht erfüllt hat, nicht stattgegeben werden sollte. Sie haben auch dem FDP-Generalsekretär Döring nicht widersprochen, der die Folgen einer möglichen griechischen Staatspleite für beherrschbar hielt.
Frau Bundeskanzlerin, Sie haben vor zwei Wochen den früheren CDU-Vorsitzenden und ehemaligen Bundeskanzler Helmut Kohl geehrt. Ehre, wem Ehre gebührt. Ich sage Ihnen: Weder Helmut Kohl noch einer Ihrer Vorgänger hätte zugelassen, einen europäischen Nachbarn derart für innenpolitische Händel zu missbrauchen.
Dieses Doppelspiel haben Sie uns und der deutschen Öffentlichkeit sehr lange vorgespielt. Sie wollen die Euro-Skeptiker in Ihrer eigenen Koalition und in Ihrem politischen Anhang nicht verprellen. Sie wollen einerseits auf einer Stimmungswoge surfen, die sich maßgeblich aus dem Ressentiment gegen eine deutsche Zahlmeisterrolle speist. Aber Sie wollen andererseits natürlich niemals in diese Woge eintauchen, weil Sie darüber Ihre Stimme und Ihre Reputation in Brüssel einbüßen würden.
Sie sind inzwischen eine Getriebene, die zu vielem so lange Nein sagt, bis der Druck im Kessel der Realitäten so stark wird, dass Sie schließlich Ja sagen müssen. Das galt für den Kauf von Staatsanleihen durch die EZB im Mai 2010. Das galt für den permanenten Rettungsschirm ESM, den es nach einer Wette von Herrn Schäuble eigentlich nie hätte geben sollen. Das galt für das Draghi-Konzept des notfalls ungebremsten Aufkaufes von Staatsanleihen. Das gilt für die Direktkapitalisierung von Banken durch den ESM unter der Voraussetzung einer Bankenunion, mit der Sie entgegen eines Beschlusses des deutschen Haushaltsausschusses einen massiven Systemwechsel vornehmen. Das gilt demnächst wahrscheinlich auch für eine Fristverlängerung zur Erfüllung der Sparauflagen für Griechenland, die Christine Lagarde, Managing Director des IMF, gefordert hat. Dies würde aber konsequenterweise zu einem dritten Hilfspaket für Griechenland oder einer Aufstockung des zweiten Hilfspaketes führen ‑ und damit zu einer Befassung des Deutschen Bundestages.
Aber nun auf einmal ‑ sehr genau registriert in der letzten Woche; o Wunder! ‑ gibt es eine 180-Grad-Wendung: Kein Wort mehr von dem Rauswurf Griechenlands aus der Euro-Zone. Stattdessen erklärt Bundesfinanzminister Schäuble in Singapur zur Frage eines möglichen Austritts aus der Euro-Zone: „There will be no Staatsbankrott“.
Selbst Herr Brüderle säuselt, dass er eine zeitliche Entkoppelung für Athen zur Erfüllung der Reformauflagen nicht mehr ausschließt. In einem luziden Anfall räumt er ein, dass ein Aufschub auch Geld kostet.
Alle Achtung! Ja, aber um Himmels Willen, Frau Bundeskanzlerin, warum haben Sie denn ein solches Bekenntnis zum Verbleib von Griechenland nicht im Sommer 2010 abgegeben? Wo war Ihr zweites Fukushima, das Sie zu einer solchen 180-Grad-Wende in Europa und unter den Baum der Erkenntnis von Herrn Schäuble gebracht hat?
Das Phänomen der Verspätung ist auch in ihrem heutigen Beitrag deutlich geworden. Sie reden hier plötzlich von einem zweiten Jacques-Delors-Plan ‑ so als ob das besonders originell ist. Sie sind nicht originell, Sie hinken hinter her. Meine Fraktion hat von einem solchen Plan schon vor zwei Jahren von diesem Pult aus gesprochen.
Das Porzellan, meine Damen und Herren, das inzwischen zerschlagen wurde, bleibt zerschlagen, und dieses zerbrochene Porzellan in Europa ist gestörtes Vertrauen. Sie haben übrigens auch zu häufig mit der ökonomischen Macht Deutschlands gedroht oder zumindest drohen lassen.
In Frankreich fallen deshalb Worte vom industriellen Imperialismus der Deutschen. Manche Stimme erhebt sich, die fragt, ob wir wieder einen neuen Sonderweg gehen. Selten war Deutschland in Europa so isoliert wie heute. Dann hören Sie sich genau um in den Hauptstädten Europas. Wir werden jedenfalls noch lange nach Ihrer Amtszeit spüren, Frau Bundeskanzlerin, welches Porzellan dort zerschlagen worden ist.
Vor allem, meine Damen und Herren, sind die Ergebnisse Ihrer Politik völlig anders, als von der Bundesregierung vorhergesagt. Sie sagen tagaus, tagein und landauf, landab, dass Sie Europa in eine Stabilitätsunion führen wollen. Schauen wir uns die Realität an: Die Jugendarbeitslosigkeit in sieben europäischen Ländern ist größer als 25 Prozent; in vier Ländern ist sie größer als 30 Prozent; in zwei Ländern ist sie sogar größer als 50 Prozent. Was halten diese jungen Menschen von Europa und Demokratie, wenn sie sich so von der weiteren Entwicklung ausgeschlossen fühlen?
Die Krise in den Südländern der Europäischen Union bewegt zunehmend Menschen, ihr Land zu verlassen. Die ökonomischen Perspektiven für die Euro-Zone sind für das nächste Jahr alles andere als gut. Viele Länder werden in einer Rezession landen, und auch in Deutschland hat die goldene Zeit von 2010/2011/2012 erkennbar und absehbar ein Ende. Es wird die Frage auftauchen, ob Sie nicht gegebenenfalls auch die Kurzarbeitergeld-Regelung wieder reaktivieren müssen, wie das die Gewerkschaften längst fordern, mit Blick darauf, dass insbesondere Maschinenbau und Automobilbau wieder eine Situation erleben, die dies erfordert. Es bleibt die Erkenntnis, Frau Bundeskanzlerin, dass ohne Wachstum kein dauerhafter Schuldenabbau möglich ist.
Nur an Ihnen ist diese Erkenntnis lange vorbeigegangen. Ich sehe eine erste Revision, auch nachdem ich Ihre Rede beim Deutschen Arbeitgebertag vor zwei Tagen gelesen habe. Aber wir sind inzwischen weiter. Selbst der IMF, der nicht im Verdacht orthodoxer sozialdemokratischer Wirtschaftspolitik steht, hat in seinem Wirtschaftsausblick festgestellt, dass die Sparprogramme inzwischen negative Auswirkungen auf die Wirtschaftsleistungen der Länder haben.
Das Ergebnis dieser Politik ist, dass die Krise über die Währungsfrage hinaus in den letzten Jahren keineswegs kleiner geworden ist; sie ist größer geworden. Ihre Stabilitätsunion ist letztendlich nichts anderes als eine Fata Morgana, die Luftspiegelung einer Scheinstabilität.
Allein Deutschland haftet inzwischen summa summarum für 100 Milliarden Euro über die Rettungsschirme. Wenn ich die möglichen Belastungen der Deutschen Bundesbank hinzuzähle, ist das noch sehr viel mehr.
Ihrer Politik lag zumindest für eine lange Zeit ‑ ich bin mir nicht sicher, ob Sie nicht zu Korrekturen bereit sind ‑ eine große Fehleinschätzung zugrunde. Diese Fehleinschätzung lautete, die Krise einseitig für etwas zu halten, das sie tatsächlich allenfalls nur in Teilen war, nämlich eine Verschuldungskrise.
Der ursächliche Einfluss der Finanz- und Bankenkrise ‑ übrigens mit der Folge von Verschuldungen von Staaten, weil sie zur Stabilisierung der Banken und für Konjunkturprogramme Geld aufnehmen mussten ‑ und vor allen Dingen auch die wirtschaftlichen Ungleichgewichte, die strukturellen Disparitäten innerhalb der Europäischen Währungsunion und Europäischen Union kamen in Ihrer Analyse nicht vor. Sie wurden ausgeblendet.
Aus einer einseitigen Krisenanalyse folgt dann auch logischerweise eine einseitige Therapie: Sparen, Sparen, Sparen.
Um zu ermessen, wie groß die ökonomische Torheit ist, die in der simplen Gleichung „Stabilität durch Sparen“ liegt, sollten wir gemeinsam einen Ausflug in die deutsche Geschichte machen. Denn die Brüning‘sche Sparpolitik Anfang der 1930er-Jahre, die genau dieser Logik folgte, hat eines garantiert nicht gebracht, nämlich Stabilität und Prosperität.
Not zerstört Demokratie. Hunger frisst gesellschaftliche Stabilität, meine Damen und Herren. Das gilt auch heute in den Ländern, die davon betroffen sind.
In einem solchen Europa herrscht aber auch kein Frieden. Denn der Frieden in Europa ist unabweisbar abhängig von Friedlichkeit in den Mitgliedsländern, abhängig von der sozialen Balance und der gesellschaftlichen Stabilität in diesen Ländern, und diese ist in einigen Ländern inzwischen längst in einer Unwucht.
Die Geschichte unserer Eltern und Großeltern, meine Damen und Herren, ist aber nicht die Geschichte einer gesellschaftlichen Spaltung. Sie wussten, dass das Land und sie selber nur eine Chance haben, wenn man sich dem Wohl des Gemeinwesens und dem „Wohlstand für Alle“ verpflichtet fühlt. Lautete so nicht ein Bestseller Ihres Ahnherrns und wichtigen Impulsgebers für das System der sozialen Marktwirtschaft? Wir wollen darüber reden, wie wir das wiederherstellen können. Wir haben das in Deutschland schon einmal geschafft, und darum geht es auch jetzt.
Es gilt für Deutschland wie für Europa: Wir müssen in unserem Land und auf unserem Kontinent wieder eine neue soziale Balance schaffen. Solange wir in Europa nicht in der Lage sind, den Menschen wieder Hoffnung zu geben, dass Anstrengungen und Fleiß sich lohnen, dass es gerecht zugeht, dass niemand aus der Verantwortung für das Gemeinwohl entlassen wird, dass all denjenigen geholfen wird, die unverschuldet in Not kommen, und ihnen die Würde des Lebens durch Solidarleistungen gewährleistet wird, so lange kommt Europa nicht wieder auf die Beine.
Im Kern geht es darum, die bewährten Mechanismen und den bewährten Ausgleich der sozialen Marktwirtschaft, die Deutschland stark gemacht hat, auf Europa zu übertragen. Als Sozialdemokraten sagen wir ganz klar: Ja, wir wollen stabile Verhältnisse in Europa. Und ja, dazu sind auch Sparanstrengungen, Konsolidierung und Strukturreformen notwendig. Wir wissen aber auch, dass dies nur gelingen kann, wenn es in Europa auch Impulse für Wachstum und Beschäftigung gibt und wenn es in Europa gerecht zugeht.
Vordringlich ist zweierlei: eine wirksame Banken- und Finanzmarktregulierung und, ja, in der Tat auch eine Bankenunion, zu der dann allerdings auch ein Bankenfonds zur Rekapitalisierung von Banken gehört, der nicht von den Steuerzahlern finanziert wird, sondern von den Banken.
Zweitens gehört dazu ein echter Wachstums- und Beschäftigungspakt für Europa. Hier darf man daran erinnern, dass es zwei Jahre und 25 Gipfel gebraucht hat, um Sie, Frau Bundeskanzlerin, und konservativ-liberale Kräfte in Europa davon zu überzeugen, dass ein solcher Wachstums- und Beschäftigungspakt benötigt wird.
Der Punkt ist, dass nach dem Beschluss vom Juni 2012 wenig getan worden ist. Das denke ich mir nicht aus, sondern, wie der Brief des Ratspräsidenten Van Rompuy vom 8. Oktober über die konkrete Einlösung der Ankündigungen dieses Beschäftigungs- und Wachstumspaktes ausweist, ist bisher sehr wenig ‑ um nicht zu sagen: gar nichts ‑ geschehen. Wir erwarten, dass der Europäische Rat dies jetzt korrigiert und die Dinge auch mit Blick auf die Tätigkeit der Europäischen Investitionsbank ans Laufen bringt.
Besonders gern schaut die Bundesregierung weg, wenn es um die eigenen Hausarbeiten der Bundesrepublik Deutschland geht. Vorsichtig formuliert: Es gibt von dieser Bundesregierung keine Vorreiterrolle beim Schuldenabbau in Europa.
Bei null Zinsen für deutsche Staatsanleihen, bei sprudelnden Steuerquellen, bei entlastenden Effekten auf dem Arbeitsmarkt müsste es doch möglich sein, die Schuldenbremse des Grundgesetzes deutlich vor 2016 einzuhalten und diese Vorreiterrolle in Europa zu dokumentieren.
Im Übrigen: Wenn wir davon reden, dass die länderspezifischen Empfehlungen, die von der Kommission gegeben werden, umgesetzt werden sollen, dann sehen wir: Es ist Deutschland auch hier nicht der Vorreiter und das Vorbild; denn in diesen länderspezifischen Empfehlungen steht zum Beispiel drin: kein Betreuungsgeld.
Da steht explizit drin: Verzicht auf das unsägliche Betreuungsgeld. Es steht explizit drin: keine Steuersenkungen. Und es steht explizit drin: die Einführung eines Mindestlohnes in Deutschland.
Die Frage ist: Wie wollen Sie denn andere Länder zur Befolgung der länderspezifischen Empfehlungen veranlassen, wenn Sie selber die auf uns bezogenen länderspezifischen Empfehlungen gar nicht umsetzen und ignorieren? Das stärkt ja nicht gerade die Glaubwürdigkeit, und das stärkt auch nicht Ihre Reputation und die Stimme, die Sie in diesem europäischen Konzert haben.
Für mich ist der Maßstab, wie wir als Sozialdemokraten jetzt und im Weiteren die Vorschläge der Van-Rompuy-Gruppe diskutieren, ziemlich einfach. Es geht um vier Fragen:
Erstens: Wer zahlt für das vorgeschlagene Euro-Zonen-Budget, wer haftet dafür? Sind es zusätzliche Mittel, oder sind es Mittel, die ohnehin in der mittelfristigen Finanzplanung vorgesehen werden? Gibt es, bezogen auf die Verwendung dieser Mittel, eine demokratische Kontrolle?
Zweitens: Führen die Vorschläge nicht einfach nur zu mehr Europa, sondern auch zu einem besseren Europa, weil es eine bessere Bankenaufsicht und eine bessere Bankenabsicherung gibt, weil es eine besser verzahnte Wirtschafts- und Finanzpolitik gibt, weil es eben auch neue Möglichkeiten für ein antizyklisches Verhalten gibt? Oder verlieren sich die Vorschläge in der langen Reihe von diversen Initiativen wie der Europa-2020-Strategie, dem Euro-Plus-Pakt, dem Europäischen Semester, dem Two-Pack, dem Six-Pack, dem Pakt für Wachstum und Beschäftigung, dem Fiskalpakt? Ich meine: Wer blickt da noch durch, und wer betreibt eigentlich eine Wirkungsanalyse all dieser Initiativen?
Drittens: Führen diese Vorschläge zu einem Mehr an Demokratie, weil sie das Europäische Parlament einbinden und stärken, oder schreiben sie den Trend zu einer „Vergipfelung“ der europäischen Politik fort?
Viertens. Wird Europa zwischen den 17 Mitgliedstaaten der Europäischen Währungsunion und den zehn weiteren Mitgliedstaaten in der Europäischen Union auseinandergetrieben, oder schaffen wir eine positive Dynamik für ein handlungsfähiges Europa, das trotz gewisser Binnendifferenzierung weiterhin zusammensteht und zusammenhält?
Auf alle diese Fragen habe ich heute von Ihnen noch keine Antworten bekommen, aber zu diesen Fragen werden wir nachhaken und nacharbeiten müssen, Frau Bundeskanzlerin, wenn Sie die Zustimmung meiner Fraktion zu wahrscheinlich notwendigen weiteren Rettungspaketen bekommen wollen.
War Europa nach dem verheerenden Zweiten Weltkrieg zuallererst eine Friedensgemeinschaft und zugleich in den Zeiten des Kalten Krieges vor allen Dingen ein Raum für Frieden, Freiheit, Sicherheit und Wohlstand, so sind seit 1989 die Aufgaben noch einmal gewachsen. Die Erweiterung der Europäischen Union war die erste Herausforderung, die von Europa als neues, als ungeteiltes Ganzes nach dem Wunder von 1989/90 gemeistert wurde.
Die aktuelle Herausforderung ist die anhaltende Krise, die eben nicht nur eine Krise unserer Währung ist. Wir merken, dass diese Krise mehr als Geld kosten könnte, nämlich Legitimation durch die Bürgerinnen und Bürger. Wer die Einigung unseres Kontinentes in die Zukunft fortentwickeln will, der braucht eine neue Begründung, und diese Begründung kann, wie Sie richtig sagen - ich stimme dem zu -, nicht mehr allein die Bezugnahme auf den Krieg zwischen 1914 und 1945 sein. Das versteht vielleicht noch meine Generation, die in Trümmergrundstücken großgeworden ist; aber schon unsere Kinder verstehen es nicht mehr. Europa muss sich neu konstituieren und neu erklären.
Ob Klimawandel, Migration, Bevölkerungswachstum, Rohstoffversorgung, Nahrungsmittelversorgung, demografischer Wandel oder auch soziale Spaltungstendenzen - auf all diese globalen Herausforderungen mit ihren teilweise dramatischen Konsequenzen für jede und für jeden von uns, genau dafür kann Europa Antworten liefern.
Dieses Europa, meine Damen und Herren, muss aber ein Europa mit einem inneren Gleichgewicht und damit ein sozial gerechtes Europa der Chancen für alle sein. Nur ein solches Europa ist stark und attraktiv genug, alle Mitgliedstaaten und den dort lebenden und arbeitenden Menschen Freiheit, Frieden, Schutz, soziale Ordnung, Sicherheit und Selbstbestimmung zu gewährleisten. Nur wenn uns das gelingt, ein solches Europa in den Blick zu nehmen, wird die Erfahrung der Regierenden wieder in Übereinstimmung mit den Erfahrungen den Regierten zu bringen sein.
Es ist also an Ihnen zuerst, Frau Bundeskanzlerin, und an Ihrer Regierung, aber auch an uns allen hier im Hause, dass wir diesen Weg konsequent und konzentriert fortsetzen. Ihre Politik der letzten zwei Jahre und auch Ihre heutige Rede sind dem nicht gerecht geworden.
Vielen Dank.