Die Debatte über eine Reform des ökonomischen Berichtswesen und alternative Wohlstandsmaße hat merklich Fahrt aufgenommen. Sie ist aus dem Schatten eines überschaubaren akademischen Zirkels herausgetreten und füllt nun die Tagesordnungen von Regierungstreffen, Sitzungen Internationaler Organisationen und neuerdings auch einer Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags. Dieses Gremium aus Abgeordneten und Sachverständigen soll unter anderem prüfen „wie die Einflussfaktoren von Lebensqualität und gesellschaftlichem Fortschritt angemessen berücksichtigt und zu einem gemeinsamen Indikator zusammengeführt werden können“ und sich der „Entwicklung eines ganzheitlichen Wohlstands- bzw. Fortschrittsindikators“ widmen (Deutscher Bundestag 2010: 3).

Gleichzeitig erleben wir in Deutschland momentan wieder hohe Raten wirtschaftlichen Wachstums und einen kraftvollen Aufschwung nach der Rezession. Angesichts dieser erfreulichen Entwicklung könnte man beruhigt zur Tagesordnung übergehen, meinen einige. Doch die Kritik an der einseitigen Ausrichtung politischer Entscheidungen am Ziel der Steigerung des Bruttoinlandsprodukts (BIP), also der Gesamtheit der in einer Volkswirtschaft produzierten Waren und Dienstleistungen, geht weit tiefer.

Indikatoren werden nicht um ihrer selbst Willen erhoben, sondern aus wissenschaftlichen oder politischen Gründen. Welche Maßzahlen wirtschaftspolitisches Handeln bestimmten, sollte sich davon ableiten, welches gesellschaftliches Interesse mit dem gemessenen Sachverhalt verbunden ist. Auch die erstmalige Erhebung des Gross Domestic Product in den 1930er Jahren in den USA geht auf die fehlende Datenlage für konjunkturelle Steuerung zurück, die die dramatische Weltwirtschaftskrise am Anfang des 20. Jahrhunderts so leidvoll offenbarte. Dass das verstärkte Drängen auf eine neuerliche Reform der Wohlstandsmessung nun gerade wieder mit einer fürchterlichen Wirtschaftskrise im Zusammenhang steht, ist daher kein Zufall. Denn in den Augen vieler Menschen hat die globale Wirtschafts- und Finanzkrise die bisherigen Maßstäbe unseres Wirtschaftens in Frage gestellt.

Herausforderungen des Wachstumsparadigmas

Lange Zeit galt das Bruttoinlandsprodukt als der Wohlstandmaßstab par excellence. Es diente sowohl als Maß wirtschaftlicher Leistungsfähigkeit als auch als Indiz für den allgemeinen Entwicklungsstand einer Gesellschaft. Wachstum, so die Annahme, geht einher mit Beschäftigungszuwachs, Wohlstandsmehrung und gesellschaftlichem Fortschritt. Dass das BIP umfassenden Ansprüchen nicht genügt, erklärt sich auch dadurch, dass diese Formel nicht mehr in der gewohnten Weise trägt. Denn das Paradigma, wonach Wachstum gleich Wohlstand gleich Fortschritt ist, wurde durch die Entwicklungen der letzten Jahrzehnte ins Wanken gebracht.

Zwar hat es mittelfristig in Deutschland, aber auch europa- und weltweit, immer stetiges wirtschaftliches Wachstum gegeben, allen kurzfristigen Konjunktureinbrüchen zum Trotz. Allerdings sind die Wachstumsraten in den letzten sechs Jahrzehnten kontinuierlich gefallen und lagen in ersten Dekade des 21. Jahrhunderts (1999-2009) gerade noch bei nur 0,8%, verglichen mit stattlichen 8,2% in den 1950er Jahren und immer noch 2,6% in den 1980er Jahren (Statistisches Bundesamt 2011: 6-7).

Zudem wurden zunehmend Zweifel an der Beschäftigungswirksamkeit des Wirtschaftswachstums laut. Der angenommene Gleichklang von „Wachstum und Beschäftigung“ ist durch die Beobachtung eines „jobless growth“ in Frage gestellt. Auch wenn Wachstum als Voraussetzung für Beschäftigungszuwachs gilt, führt der Anstieg des BIP nicht zwangsläufig zu einer ähnlich gelagerten Erhöhung der Beschäftigungsquote. Vor allem führt Wachstum heute nicht unbedingt zu einer Zunahme von guter Arbeit, sondern oft nur zu einer Ausweitung prekärer Beschäftigung. Während etwa das BIP zwischen 1993 und 2009 preisbereinigt um etwa 21 % gestiegen ist, nahm die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Vollzeitbeschäftigten im selben Zeitraum um fast 13% ab (Statistisches Bundesamt 2010: 93, 635).

Dazu sind auch die positiven Wirkungen des Wachstums für den sozialen Ausgleich umstritten. Trotz BIP-Wachstums hat die Ungleichverteilung von Einkommen und Vermögen ebenso wie die Armutsrate gerade in Deutschland massiv zugenommen (OECD 2009). Der Anteil der Arbeitsnehmerentgelte am Volkseinkommen ist von 72,9 % im Jahr 1993 auf 67,4% im Jahr 2009 gesunken (Statistisches Bundesamt 2010: 93, 635). Wachstum schafft nicht automatisch „Wohlstand für alle“.

Nicht abgekoppelt vom Wachstum hat sich hingegen der Ressourcenverbrauch. Wenngleich eine technologisch und gesetzgeberisch begründete Erhöhung der Ressourcenproduktivität gerade in Deutschland gelungen ist, speist sich das Wirtschaftswachstum auch heute noch zu großen Teilen aus endlichen Ressourcen. Auch die Biodiversität ist angesichts der mit Wirtschaftswachstum verbundenen zunehmenden Naturaneignung irreversibel bedroht. Und über die Notwendigkeit, die Emission klimaschädlicher Treibhausgase zu begrenzen, herrscht mittlerweile weltweit Konsens. All diese Aspekte ökologischer Nachhaltigkeit hat das herkömmliche Wachstumsparadigma nicht berücksichtigt.

Gleichzeitig steigt die subjektiv empfundene Lebenszufriedenheit in praktisch allen entwickelten Ländern kaum noch oder gar nicht mehr mit dem Einkommen an. Ab einer gewissen Einkommenshöhe entkoppelt sich das individuelle Wohlfahrtsempfinden der Bevölkerung weitgehend von den statistischen Wohlstandsdaten. Diese als „Easterlin-Paradoxon“ (Easterlin 1974) bekannte Beobachtung stellt eine für die Politik kaum zu überschätzende Herausforderung dar. Auch wenn die methodischen Schwierigkeiten bei der statistischen Erhebung und Indexierung subjektiver Zufriedenheit höher sind als in anderen Bereichen, darf die Erkenntnis, dass viele Menschen selbst dann nicht das Gefühl haben, dass sich ihr Leben verbessert, wenn der Wohlstand objektiv steigt, bei der Frage nach der Notwendigkeit neuer Wohlstandsindikatoren nicht unbeachtet bleiben.

Kritik am Bruttoinlandsprodukt

Die Krisen des Wachtumsparadigmas zeigen, dass die Eignung des BIP als universeller Wohlstandsindikator heute zurecht immer mehr in Zweifel gezogen wird. Aber auch die Konzentration auf rein wirtschaftliche Maßstäbe als solche steht in der Kritik. Vielen Menschen gilt die alleinige Konzentration auf das BIP als wirtschaftspolitische Leitlinie als nicht mehr zeitgemäß. So würden es jüngeren Umfragen der Eurobarometer zufolge mehr als zwei Drittel der Europäer präferieren, den Fortschritt ihres Landes an ökonomischen, ökologischen und sozialen Aspekten statt an rein ökonomischen zu messen. In Deutschland liegt deren Anteil mit 77% sogar noch höher (EUROBAROMETER 2008: 40-41).

Wohlstand ist nicht ausschließlich als monetäre Größe zu erfassen. „Geld allein macht nicht glücklich“, heißt es. Natürlich brauchen wir eine entschiedene Bekämpfung von materieller Armut. Die Dimensionen dieser Armut und die Ansätze, sie nachhaltig zu bekämpfen, reichen aber weit in die Qualität der Bildungschancen oder auch der Gesundheitsversorgung hinein. Damit sind Fragen der öffentlichen Daseinsvorsorge und der sozialen Infrastruktur einer Gesellschaft aufgeworfen, nicht zuletzt die Frage, wer welche Zugänge zu dieser Infrastruktur hat. Wie Leistungsfähigkeit ist unsere Gesellschaft, wo es um gleiche Chancen für benachteiligte Bevölkerungsgruppen geht? Wie gut gelingt die Integration von Einwanderern? Wie weit sind wir bei der Gleichstellung von Männern und Frauen gekommen? Diese Fragen erscheinen manchen auf Wohlstandsmessung spezialisierten Ökonomen als sachfremde Probleme. Sie sind aber im Verständnis einer breiten Mehrheit unserer Gesellschaft geradezu Kern jeder Diskussion um die Lebensqualität.

Aber auch innerhalb des ökonometrischen Diskussionen stehen bestimmte Verzerrungen des BIP schon länger zur Debatte. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung hat in einer kürzlich veröffentlichten gemeinsamen Studie mit dem französischen Conseil d‘Analyse Économique einige hinlänglich bekannte aber auch neuere Schwächen des BIP hervorgehoben (SVR/CAE 2010: 39f.). So misst das BIP nicht-marktbestimmte und unentgeltliche Dienstleistungen, etwa Hausarbeit, Pflege oder Kindererziehung, nicht. Gleiches gilt für den Wert freiwilligen Engagements in Politik und Gesellschaft. Auch die Bemessung des Wertes öffentlicher Dienstleistungen ist nicht zufriedenstellend. Daneben bildet das BIP negative externe Effekte wie Umweltverschmutzung oder Gesundheitsschäden nicht ab. Im Gegenteil werden Kosten etwa für die Beseitigung von Katastrophen oder Kriegsschäden dem BIP zugerechnet, obwohl Erdbeben und Kriege der Lebensqualität sicher nicht zuträglich sind. Zudem hat die Orientierung am BIP die Risiken, die zur Wirtschafts- und Finanzkrise führten, offenbar verschleiert. Was lange als gesundes Wachstum galt, wurde später zur „Blase“ erklärt. Derartige Verzerrungen machen das BIP nicht zwangsläufig ungeeignet als Indikator für Wirtschaftsleistung, vermindern aber seine Aussagekraft hinsichtlich der generellen Lebensqualität und Zukunftsfähigkeit einer Gesellschaft.

Letztendlich steht daher außer Frage, dass wir einen neuen Fortschrittsindikator brauchen. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass ein solcher Indikator das BIP vollständig ersetzen soll. Tatsächlich sind gerade makroökonomisch unmittelbar relevante Entscheidungen etwa in der Konjunktur- oder Geldpolitik ohne eine gesicherte Datenbasis zur Wirtschaftsleistung nicht vorstellbar. Dennoch ist auch hier eine Reform des Wirtschaftsberichtswesens im engeren Sinne denkbar, das einige der erwähnten Kritikpunkte am BIP aufgreift. Vorschläge dazu haben zahlreiche Studien dargelegt, darunter die erwähnte Studie des SVR ebenso wie die hochrangig besetzte „Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress“ (Stiglitz et. al. 2009). Darüber hinaus bedarf es aber unzweifelhaft einer neuen anerkannten und in politischen Entscheidungsprozessen berücksichtigten Maßzahl, die nachhaltiges Wirtschaften und gesellschaftlicher Fortschritt misst.

Alternative Indikatoren: Chancen und Herausforderungen

An Vorschlägen für solche Indikatoren mangelt es in der nationalen und internationalen Debatte nicht. In Deutschland etwa steht der Indikatorenbericht zur Nachhaltigkeitsstrategie zur Verfügung, aber auch andere Indikatorenpanels aus öffentlichen oder privaten Forschungsinstitutionen, zum Beispiel der „Nationale Wohlfahrtsindex“ des Umweltbundesamtes, das „Wohlstandsquartett“ des Denkwerk Zukunft oder der „Fortschrittsindex“ des Zentrums für gesellschaftlichen Fortschritt.

Jenseits der Bundesrepublik Deutschlands existiert ebenfalls ein breites Portfolio an bemerkenswerten Projekten. Neben den größeren internationalen Initiativen unter Schirmherrschaft der OECD (Measuring the Progress of Societies) und der EU (Beyond GDP) finden weitere Entwicklungen in einzelnen Ländern statt. Unter anderem zu erwähnen sind der Canadian Index of Well-Being, das US-amerikanische Projekt „State of the USA“ oder der Prozess zur Messung des „national well-being“, den der britische Premier David Cameron bei der Nationalen Statistikbehörde in Auftrag gegeben hat.

Die Enquete-Kommission des Deutschen Bundestags wird diese und weitere Indikatoren sichten und prüfen. Schließlich soll am Ende des Prozesses ein Index oder Indikatorenpanel stehen, dass von einem breiten Konsens getragen wird und so unterschiedliche Aspekte wie den materiellen Lebensstandard, den Zugang zu und die Qualität von Arbeit, Fragen der Wohlstandsverteilung und Kohäsion, der Umweltqualität und Ressourcenschonung, der Bildung, Gesundheit, sozialen Sicherheit und politischen Teilhabe ebenso abbilden kann wie die subjektiv von den Menschen erfahrene Lebensqualität und -zufriedenheit.

Aber klar ist auch: Wer neue Wege geht, muss auf Hinweisschilder zunächst verzichten. Selbstverständlich beinhaltet die Hinwendung zu einem neuen Fortschrittsindikator einige Herausforderungen und Risiken. So ist neben methodischen Fragen auch die Verfügbarkeit statistischen Materials zu beachten. Soweit erforderlich, müssen die Mittel für die möglicherweise zusätzlich notwendige Erhebung neuer statistischer Daten in einem vernünftigen Verhältnis zum Nutzen stehen. Für manche Phänomene, deren Messung wünschenswert wäre, fehlen uns auch noch die Verfahren.

Zudem muss eine standardisierte Methodologie für die Erstellung intertemporärer und internationaler Vergleichsreihen entwickelt und möglichst EU- oder OECD-weit koordiniert werden. Hierbei wird zu beachten sein, wie das Spannungsverhältnis zwischen der national spezifischen, normativen Gewichtung bestimmter Faktoren einerseits und der internationalen Vergleichbarkeit andererseits aufgelöst werden kann. Die wohl wichtigste politische Herausforderung ist die Herstellung eines Konsenses über Auswahl und Gewichtung der Teilindikatoren für einen ganzheitlichen Wohlstands- und Fortschrittsindikator. Eine breite öffentliche Debatte darüber soll helfen, diesen neuen Kompass für die grundlegende wirtschaftspolitische Orientierung von Regierung und Parlament zu etablieren. Er soll künftig neben dem BIP stehen, wann immer wir darüber streiten, ob unsere Gesellschaft den richtigen Kurs eingeschlagen hat. Nicht nur die wissenschaftliche Prüfung, auch die öffentlich-politische Bewusstwerdung, welchen Wert dieser Kompass hat, gehört zu den Aufgaben unserer Enquete-Kommission. Angesichts der breiten internationalen Vorarbeiten und der hohen Bedeutung des Unterfangens bin ich zuversichtlich, dass es uns gelingt.

Zum ifo Schnelldienst 4/2011.

Literatur

Deutscher Bundestag (2010): Einsetzung einer Enquete-Kommission „Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft“. BT-Drucks. 17/3853. Berlin.
Easterlin, R. T. (1974): Does Economic Growth Improve the Human Lot? Some Empirical Evidence. In: David, P. A./Reder, M. W. (Hrsg.): Nations and Households in Economic Growth: Essays in Honor of Moses Abramowitz. New York. S. 89 – 125.
Evidence. In: David, P. A./Reder, M. W. (Hrsg.): Nations and Households in Economic Growth: Essays in Honor of Moses Abramowitz. New York. S. 89 – 125.
EUROBAROMETER (2008):. Einstellungen der europäischen Bürger zur Umwelt. Spezial Eurobarometer, 295. März 2008. Brüssel.
OECD (2009): Mehr Ungleichheit trotz Wachstum? - Einkommensverteilung und Armut in OECD-Ländern. Paris.
Statistisches Bundesamt (2010): Statistisches Jahrbuch 2010 für die Bundesrepublik Deutschland. Wiesbaden.
Statistisches Bundesamt (2011): Bruttoinlandsprodukt 2010 für Deutschland. Wiesbaden.
Stiglitz, J. E./Sen, A./Fitoussi, J. (2009): Report by the Commission on the Measurement of Economic Performance and Social Progress. Paris.
SVR/CAE (2010): Wirtschaftsleistung, Lebensqualität und Nachhaltigkeit: Ein umfassendes Indikatorensystem. Expertise im Auftrag des Deutsch-Französischen Ministerrates. Paris/Wiesbaden.