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Votrag Rolf Mützenich Willy-Brandt-Lecture

 

Die Rede können Sie hier als PDF-Datei herunterladen.

 

Lieber Wolfgang Thierse, lieber Uli Schöler,
sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, sehr geehrte Frau Dr. Kempin,
liebe Genossinnen und Genossen, sehr geehrte Damen und Herren,

ich danke Ihnen herzlich für die Einladung und Dir, lieber Wolfgang, für die freundlichen und klugen einleitenden Worte. Es ist mir eine große Freude und Ehre, heute Abend hier im Otto-Wels-Saal die diesjährige Willy-Brandt-Lecture halten zu dürfen.

Die letzten Wochen und Tage standen – verständlicherweise – stark im Zeichen innenpolitischer Entwicklungen. Nach dem Ende der Regierungskoalition richtete sich unser Blick vor allem auf diese Vorgänge. Doch die Herausforderungen, vor denen wir stehen, bleiben und gehen weit über unsere Landesgrenzen hinaus.

Europa und die Welt sind im Umbruch. Wir leben in einer Zeit fundamentaler geopolitischer und geoökonomischer Veränderungen. Die Welt bewegt sich in einem rasanten Tempo fort: politisch, wirtschaftlich, technologisch und auch gesellschaftlich. Die globalen Machtverhältnisse verschieben sich, die Konflikte nehmen Überhand und die internationale, an Verträge und Werten gebundene Ordnung, die über 75 Jahre zumindest in unserer Region Sicherheit und Stabilität gewährte, gerät zunehmend ins Wanken. Bereits seit geraumer Zeit scheint es, als würden sich tiefe Risse auftun. Die Sorgen, wenn nicht gar die Ängste der Menschen vor der Zukunft wachsen.

Gerade vor diesem Hintergrund müssen wir uns auch die Frage stellen: Wie kann eine sozialdemokratische Außenpolitik für das 21. Jahrhundert aussehen?

Die Suche nach Antworten auf diese Frage führt uns unweigerlich zu Willy Brandt. Niemand hat das außenpolitische Denken der Sozialdemokratie so nachhaltig geprägt wie Willy Brandt mit seiner Politik. Die Willy-Brandt-Vorlesung bietet daher den idealen Rahmen, um über die Zukunft sozialdemokratischer Außenpolitik zu diskutieren.

Meine Ausführungen erheben nicht den Anspruch eines abgeschlossenen Gedankengebäudes. Das steht mir nicht zu. Ich bin für jede Anregung, auch aus der Sicherheits- und Friedensforschung dankbar. Ich würde mich gleichwohl sehr freuen, wenn diese wieder stärker zu ihren Ursprüngen zurückkehren würde. Das Fach darf nicht zu einer reinen Politikberatungs- und Talkshow-Maschinerie verkommen.

Ich erinnere mich noch gut an die intensiven Debatten in der Friedensforschung in den 1970er- und 1980er- Jahren. Damals zeichnete sich die Disziplin der Friedensforschung noch durch eine aktive und kritische Auseinandersetzung aus, die weit über das aktuelle Tagesgeschehen hinausblickte. Sie widmete sich auch mittel- und langfristigen Perspektiven und forschte zu den strukturellen Bedingungen von Sicherheit und Frieden.

Vielleicht verkläre ich die damalige Debatte, aber ich kann mich noch gut daran erinnern, dass ich in einem Rowohlt-Bändchen von Johan Galtung ein Foto als Lesezeichen benutzte, das den Forscher mit Willy Brandt zeigte. Und ich weiß, dass die Beiträge meines Doktorvaters Dieter Senghaas zur Lektüre Willy Brandts zählten. Dass Johannes Rau die Stiftung Entwicklung und Frieden aus Landesmitteln in Nordrhein-Westfalen angesiedelt hat, war ein schöner Beweis für den fruchtbaren Austausch zwischen einer breiten Friedens- und Entwicklungsforschung und der politischen Praxis.

Doch lassen Sie mich nun wieder zu Willy Brandt und unserem heutigen Thema zurückkommen. Ich bin überzeugt, dass die Entspannungspolitik von Willy Brandt etwas ist, auf das die SPD mit Stolz zurückblicken kann und von der wir noch viel lernen können – nicht nur in Europa, sondern weltweit.

I. Welt im Umbruch

Zugleich gilt aber auch heute noch der berühmte Satz von Willy Brandt, dass „jede Zeit eigene Antworten will und man auf ihrer Höhe zu sein hat, wenn Gutes bewirkt werden soll“. Das internationale Umfeld, in dem wir heute agieren, unterscheidet sich grundlegend von den Zeiten Willy Brandts. Die globalen Krisen und Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, sind komplexer und vielschichtiger als je zuvor in der internationalen Geschichte.

Die internationale Politik ist heute gekennzeichnet von tiefgreifenden Veränderungen. Wir befinden uns längst auf dem Weg hin zu einer multipolaren Ordnung, in der neue regionale und globale Gestaltungsmächte wie China oder Indien mit dem Westen um Macht und Einfluss konkurrieren. Zwar bleiben die USA nach wie vor mit Abstand die größte wirtschaftliche und militärische Macht – doch der globale Einfluss der westlichen Welt ist in den letzten Jahren spürbar zurückgegangen. Einen Multilateralismus im Sinne der „Einen Welt“ zu schaffen, wird noch schwerer.

Ein Ausdruck dieses Wandels ist die Verschiebung des Gravitationszentrums der internationalen Politik vom atlantischen zum indopazifischen Raum. Bereits heute werden über 60% des globalen Bruttoinlandsprodukts und zwei Drittel des Weltwirtschaftswachstums in der Indo-Pazifik-Region erwirtschaftet. Besonders China hat seinen Einfluss in den vergangenen Jahrzehnten ausgedehnt – nicht nur im Indopazifik, sondern auch in Afrika, Asien, Lateinamerika und ja, zunehmend auch in Europa.

Gleichzeitig erleben wir überall, auch bei uns, die Rückkehr eines aggressiven Nationalismus und das Denken in Einflusssphären. Statt ökonomischer und sicherheitspolitischer Verflechtungen, die diese Verwerfungen dämpfen könnten, drohen zunehmend neue Handelskriege und Rüstungswettläufe.

Erschwerend kommt hinzu, dass die Funktionsfähigkeit und Akzeptanz internationaler Institutionen wie den Vereinten Nationen, der OSZE, Weltklimakonferenzen oder der Welthandelsorganisation zunehmend in Frage gestellt werden. Die weitgehend vom Westen errichtete multilaterale und regelbasierte Ordnung zeigt inzwischen deutliche Risse – ja, sogar deren Ende ist in den Bereich des Denkbaren gerückt. Und Länder des sogenannten Westens legen selbst die Axt mit an.

II. Der Krieg in der Ukraine

Es bleibt dabei: der russische Überfall auf die Ukraine mit dem Ziel, den ukrainischen Staat zu zerstören und Land zu rauben, markiert einen tiefen Einschnitt in die europäische und internationale Ordnung. Seit über 1000 Tagen bombardiert und terrorisiert der russische Präsident die Ukraine und ihre Bevölkerung. Die Bilder, die uns seit fast drei Jahren erreichen, sind erschütternd und entsetzen uns alle. Es sind Bilder von Tod, Elend und Zerstörung. Es sind Bilder, die wir in Europa nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der jugoslawischen Erbfolgekriege für unmöglich hielten.

Der russische Überfall auf die Ukraine ist nicht nur eine politische, sondern auch eine persönliche Erschütterung. Besonders für diejenigen unter uns, die sich stets für eine gemeinsame europäische Sicherheitsordnung unter Einschluss Russlands eingesetzt haben. Dieser Krieg wirft diese Bemühungen um Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnte, zurück.

Gleichzeitig ist es wichtig, sich bei einer Diskussion über die Zukunft sozialdemokratischer Außenpolitik auch selbstkritisch zu fragen, was wir hätten besser machen können. Als Sozialdemokraten müssen wir anerkennen, dass wir die imperialistischen Ambitionen Putins und die Gefahr durch die Energieabhängigkeit von Russland unterschätzt haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass es diese politischen Fehleinschätzungen auch in anderen politischen Lagern und Ländern gab – auch wenn diese sich heute daran nicht mehr erinnern können oder wollen.

Zu einer ehrlichen Aufarbeitung unserer Russlandpolitik gehört dann allerdings auch, dass wir fragen, welche Fehler der Westen insgesamt im Umgang mit Russland gemacht hat. Ich gehöre jedenfalls nicht zu denen, die sagen, dass die diplomatischen Bemühungen und Initiativen gegenüber Russland – von denen es ja auch zahlreiche gab – per se umsonst gewesen wären.

Dennoch darf kein Zweifel bestehen: Der russische Überfall auf die Ukraine ist durch absolut nichts zu rechtfertigen oder zu relativieren. Die Verantwortung für diesen Krieg trägt allein Russland. Mit der Invasion auf die Ukraine hat Russland das Völkerrecht und zahlreiche internationale Verträge und Vereinbarungen gebrochen. Russlands Aggression ist nicht nur ein Angriff auf die Ukraine, sondern auch auf die internationale und regelbasierte Ordnung als Ganzes.

Deshalb war es richtig, dass Bundeskanzler Olaf Scholz am 27. Februar 2022 den Krieg als eine „Zeitenwende“ bezeichnet hat. Seit Kriegsbeginn hat die Bundesregierung entschlossen und umsichtig gehandelt, um unsere eigene Sicherheit und das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine zu stärken. Deutschland ist heute mit über 37 Milliarden Euro der bei weitem größte Unterstützer der Ukraine in Europa und weltweit der zweitgrößte nach den USA.

Gleichzeitig haben wir das Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Milliarden Euro beschlossen und im Grundgesetz verankert, eine dauerhafte Brigade in Litauen stationiert und die Verteidigungsfähigkeit der NATO gestärkt. Vieles davon wäre vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen und zeigt, dass Deutschland seiner Verantwortung als verlässlicher Bündnispartner in der EU und NATO gerecht wird. Das verdeutlicht auch nochmal der Besuch des Bundeskanzlers in Kiew am Montag dieser Woche.

Der Besuch von Olaf Scholz war nicht nur ein wichtiges Zeichen der Solidarität nach der Wahl von Donald Trump, sondern zeigt auch nochmal unmissverständlich: Wir stehen fest und entschlossen an der Seite der Ukraine. Zugleich widerlegt die neue Unterstützung für die Ukraine die haltlosen und absurden Vorwürfe, wir würden das Thema Ukraine für den Wahlkampf instrumentalisieren. Ich sage es ganz klar: die Angelegenheiten von Krieg und Frieden sind zu ernst, um sie für parteipolitische Zwecke zu missbrauchen.

Nach drei Jahren des Krieges müssen wir anerkennen, dass der Krieg vermutlich nicht allein auf dem Schlachtfeld entschieden wird. In den vergangenen Monaten konnten weder Russland noch die Ukraine bedeutende territoriale Fortschritte erzielen.

Gleichzeitig zeigen die Berichte über den Einsatz nordkoreanischer Soldaten und jemenitischer Söldner, dass der Krieg sich immer weiter auszuweiten droht.

Die Folgen einer solchen Eskalation wären verheerend – nicht nur für die Ukraine und Europa, sondern die gesamte Welt. Deshalb müssen wir weiter unsere diplomatischen Bemühungen intensivieren, um eine weitere Eskalation des Krieges zu verhindern – und zwar unabhängig davon, wie „realistisch“ diese derzeit scheinen mögen. Hätten Willy Brandt und Egon Bahr nach dem sowjetischen Einmarsch in die Tschechoslowakei 1968 beschlossen, dass Verhandlungen nun zwecklos seien, hätten wir weder die Entspannungspolitik, noch die deutsche und europäische Einigung bekommen.

Deshalb lassen Sie mich an dieser Stelle nochmal betonen: Das ist keine Frage eines kompromisslosen „Entweder-Oder“. Wir müssen beides tun: Die Ukraine weiterhin unterstützen und gleichzeitig immer wieder nach Wegen suchen, um diesen Krieg zu beenden. Dass solche diplomatischen Bemühungen nicht vergebens sind, zeigen die zahlreichen Gefangenaustausche, die Anstrengungen des UN-Generalsekretärs Guterres zur Sicherung des Atomkraftwerks Saporischschja wie auch die Reise von Bundeskanzler Olaf Scholz nach Peking im November 2022. Dort gelang es, gemeinsam mit China das nukleare Tabu zu stärken.

Darüber hinaus ist es besonders wichtig, jene Länder zu bestärken, die auf Russland einwirken können. Länder wie Indien, Brasilien und die Türkei können eine Schlüsselrolle spielen, um Druck auf Moskau auszuüben und mögliche Verhandlungskanäle zu eröffnen. Auch die Friedenskonferenzen in Dänemark, Saudi- Arabien, Malta und in der Schweiz waren ein wichtiger Schritt in Richtung eines gerechten und nachhaltigen Friedens.

Ich bin deshalb auch Bundeskanzler Olaf Scholz dankbar, dass er am 15. November nochmal mit dem russischen Präsidenten Putin telefoniert hat. Dabei geht es keineswegs um Scheinverhandlungen oder Reden um des Redens willen. Solche Gespräche sind entscheidend, um die Positionen auszutauschen und wenigstens ein Stück strategische Stabilität in diesen gefährlichen Zeiten zu wahren.

Wir machen uns dabei auch keine Illusionen. Es ist offensichtlich, dass Putin derzeit nicht zu ernsthaften Verhandlungen bereit ist. Dennoch ist und bleibt es wichtig, diese Gespräche zu führen, um das entsetzliche Sterben und Morden zu beenden.

Gerade in einem Rahmen wie diesem lohnt es sich daran zu erinnern, dass auch die Entspannungspolitik von Willy Brandt nicht unumstritten war und hart erkämpft werden musste. Willy Brandt musste sich von konservativen Kritikern böswillige Angriffe und schwerwiegende Unterstellungen anhören – bis hin zum Landesverrat. Und auch heute bin ich immer wieder erstaunt, für was die Entspannungspolitik und die Neue Ostpolitik Willy Brandts alles herhalten muss. Dabei war Willy Brandts Entspannungspolitik alles andere als ein „Einknicken“ vor Moskau.

Lieber Wolfgang, du hast es bereits erwähnt: Die Neue Ostpolitik erfolgte aus einer Position der Stärke heraus. Der Westen verhandelte sehr wohl hartnäckig und gegen den erbitterten Widerstand Moskaus auch die Menschen- und Freiheitsrechte in die Schlussakte von Helsinki. Es war eine Politik, die letzten Endes von Erfolg gekrönt war und maßgeblich zur Überwindung der deutschen und europäischen Teilung beitragen hat. Ich bin überzeugt, dass auch heute wieder eine solche Strategie gebraucht wird. Neben der Stärkung unserer Verteidigungsfähigkeit gehören dazu auch immer Instrumente des Dialogs und der Diplomatie.

Und eines sollte nicht unerwähnt bleiben: die Entspannungspolitik steht auf zwei Säulen. Die eine ist die Politik der guten Nachbarschaft, die gerechte Weltordnung, der Kampf gegen Hunger, Klimaveränderung und Flucht. Die andere Politik fußt auf einer Politik im Innern, die die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer und deren Familien in den Blick nimmt, die eine offene und gerechte Gesellschaft erstrebt und Bildung und Freiheit in den Mittelpunkt stellt. Beide Säulen bedingen einander. Die Maxime von Willy Brandt „mehr Demokratie wagen“ beinhaltete Reformen im Inneren, um überhaupt eine erfolgreiche Ostpolitik zu skizzieren. Sie schuf die Voraussetzung, um sowohl mit Demokratien als auch mit Autokratien glaubwürdig aus einer Position der Stärke heraus verhandeln zu können. Ein in sich gespaltenes und ungerechtes Land kann nach Außen nicht überzeugen.

Umso wichtiger ist es, dass wir auch heute die Hilfe für die Ukraine nicht gegen die notwendigen Reformen und Modernisierungen unseres Landes ausspielen dürfen und gleichzeitig die wachsende Ungleichheit lindern müssen. Daran ist die alte Regierung gescheitert und auch die neue Regierung wird diese fundamentale Einsicht nicht ignorieren können.

Gleichzeitig ist klar, dass wir die Konzepte der Vergangenheit nicht ohne weiteres auf die heutige Situation anwenden können. Die heutige geopolitische Lage ist weitaus komplexer und unübersichtlicher als zu Zeiten des Kalten Krieges. Dennoch bin ich mir sicher, dass die Prinzipien von Willy Brandts Entspannungspolitik auch heute noch relevant sind – nicht nur in Europa, sondern auch im Hinblick auf die wachsenden Spannungen im Indopazifik und in anderen Regionen der Welt. Und dieser Hinweis sei mir erlaubt. Wir dürfen über den furchtbaren Krieg in der Ukraine auch die anderen schrecklichen Kriege in dieser Welt nicht aus den Augen verlieren: im Gazastreifen, im Libanon aber auch im Sudan, in Myanmar, in Äthiopien und in Syrien.

Trotzdem ist es mir an dieser Stelle nochmal wichtig zu betonen: Diplomatie bedeutet nicht, dass wir einen Diktatfrieden akzeptieren – weder von Putin noch von Trump.

III. Die Wiederwahl Donald Trumps

Der ehemalige und künftige US-Präsident Donald Trump hat bereits mehrfach öffentlich angekündigt, den Krieg in der Ukraine innerhalb von 24 Stunden beenden zu wollen. Ob ihm das gelingen wird, bleibt abzuwarten, darf jedoch bezweifelt werden. Es ist genauso denkbar, dass die „Männerfreundschaft“ zwischen Putin und Trump an den gegenseitigen Interessen und ausgeprägten Egos beider Männer scheitern wird und Trump in wenigen Wochen eine gegenteilige Politik propagieren und verfolgen wird. Bereits in seiner ersten Amtszeit hat Trump schließlich einige atemberaubende Kehrtwenden hingelegt. Es kann allerdings auch sein, dass Trump noch Ende des Jahres die Einstellung aller finanziellen Mittel für die Ukraine ankündigen wird. Das wird uns im Januar dann dazu zwingen, weitere finanzielle Anstrengungen zu unternehmen. Für mich steht außer Zweifel, dass dann ein Überschreitungsbeschluss noch vor der Bundestagswahl herbeigeführt werden muss.

Eines ist jedoch sicher: Die weltpolitische Lage ist seit dem 5. November nicht einfacher geworden. Wir alle können uns noch gut an die erste Präsidentschaft Trumps erinnern: Seine Attacken auf die Grundpfeiler der regelbasierten Ordnung, die Welthandelsordnung, den Atomwaffensperrvertrag, gegen die NATO und auch gegen die Europäische Union. In seiner letzten Amtsperiode haben sich die USA aus zahlreichen internationalen Abkommen und Verträgen zurückgezogen: Vom Atomabkommen mit dem Iran, dem INF-Vertrag, dem Pariser Klimaabkommen bis hin zur Weltgesundheitsorganisation.

Es gibt wenig Grund zur Annahme, dass seine zweite Amtszeit weniger verstörend verlaufen wird. Vielmehr deutet alles darauf hin, dass er noch entschlossener und rücksichtsloser vorgehen könnte. Das zeigen die Nominierungen für sein künftiges Kabinett mehr als deutlich. Für Trump und Putin ist Außenpolitik ein Nullsummenspiel, bei dem nationale militärische Stärke und Einflusszonen immer Vorrang vor vertragsgestützter kooperativer Sicherheit haben. Beide sehen einen strategischen Vorteil darin, den Unberechenbaren zu geben und einen Konflikt immer weiter zu eskalieren, um ihre Widersacher zum Einlenken zu bewegen. All dies bedeutet nichts Gutes für die Zukunft der internationalen Ordnung und wird die Lösung globaler Konflikte und Herausforderungen deutlich erschweren.

IV. Europa

Die Frage ist nun: Wie gehen wir mit diesen großen globalen Umbrüchen und Veränderungen um? Aus meiner Sicht kann die Antwort – um es mit Willy Brandt zu sagen – nur lauten: Wir müssen mehr Europa wagen!

Die vergangenen Jahre haben unmissverständlich gezeigt, dass an mehr europäischer Unabhängigkeit und Eigenständigkeit kein Weg vorbeiführt. Eines ist klar: Europa wird künftig weit mehr Verantwortung für seine eigene Sicherheit und Verteidigung übernehmen müssen. Dafür ist es notwendig, dass wir unsere militärischen Kräfte in Europa stärker bündeln und mehr Synergieeffekte und Zusammenarbeit innerhalb der EU und der NATO erreichen. Gerade Deutschland kommt dabei eine zentrale Rolle zu und es wird vermutlich noch stärker zur Unterstützung der Ukraine beitragen müssen. Und gestatten Sie mir an dieser Stelle nochmal den Hinweis, dass dies ohne eine Reform der Schuldenbremse kaum möglich sein wird. Spätestens im Jahr 2028, wenn das Sondervermögen aufgebraucht ist, stellt sich die drängende Frage, wie wir weiterhin ausreichend in unsere Verteidigung investieren können, ohne eine Finanz- und Verfassungskrise zu riskieren.

Gleichwohl bleibt die Stärkung unserer eigenen Wehrhaftigkeit ein zentrales Element einer künftigen europäischen Sicherheitsordnung. Darüber hinaus bedarf es jedoch weiterer, ebenso wichtiger Elemente. Dazu gehört, dass Europa gemeinsam zusammensteht und dass internationale Verträge und Abkommen respektiert werden.

Im Übrigen sollten wir – so unwahrscheinlich es derzeit auch klingen mag – als langfristiges Ziel die Perspektive einer friedlichen Ko-Existenz mit Russland mitdenken. Auch wenn das Konzept der friedlichen Ko-Existenz unter völlig anderen globalen Rahmenbedingungen während des Kalten Krieges entstanden ist, sollten wir prüfen, ob ein solcher Ansatz auch in einer multipolaren Welt von Nutzen sein und vielleicht sogar dazu beitragen könnte, Spannungen abzubauen und Raum für Dialog und Diplomatie zu schaffen.

Die Frage nach mehr europäischer Souveränität geht jedoch über die Frage der Verteidigungsfähigkeit weit hinaus. Europa steht im 21. Jahrhundert im Wettbewerb mit mehreren wirtschaftlichen Großmächten. Gemeinsam verfügt die Europäische Union über einen der größten Binnenmärkte der Welt. Wir haben also gute Chancen, auch in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts ein Machtfaktor zu bleiben.

Dafür müssen wir allerdings jetzt die richtigen Weichen stellen. Die ökologische und digitale Transformation der europäischen Wirtschaft wird erhebliche staatliche wie auch private Investitionen erfordern. Der Strukturwandel kann nur gelingen, wenn wir den Binnenmarkt vollenden und eine aktive europäische Wirtschafts- und Industriepolitik entwickeln. Hierzu gehört auch der Schutz des Binnenmarkts vor unfairem Wettbewerb und einseitigen Abhängigkeiten. Es ist daher höchste Zeit, dass Europa endlich eine gemeinsame Wirtschaftsaußenpolitik definiert. Unser Ziel muss es sein, die Souveränität Europas in allen wichtigen Bereichen zu stärken: Von der Außen- und Sicherheitspolitik bis hin zur Wirtschafts-, Handels-, Technologie-, Finanz- und Währungspolitik.

Strategische Souveränität darf aber nicht mit Autarkie oder gar Abschottung verwechselt werden. Im Gegenteil: Europa und insbesondere die Bundesrepublik Deutschland als eine international vernetzte Handels- und Exportmacht haben in den vergangenen Jahrzehnten massiv von der Globalisierung und einem auf Regeln basierenden internationalen System profitiert. Die EU sollte daher alles dafür tun, um den freien Welthandel zu erhalten und sicherzustellen, dass eine multipolare Ordnung keine regellose Ordnung wird.

Dafür ist es notwendig, dass vor allem die liberalen Demokratien der Welt sich zusammentun, um die internationale und regelbasierte Ordnung gegen ihre autoritären Herausforderer von außen und von innen zu verteidigen.

V. Globaler Süden und Reform der Weltordnung

Gleichzeitig müssen wir auch neue Partnerschaften jenseits der westlichen und demokratischen Welt knüpfen, um die internationale und regelbasierte Ordnung zu stärken und zu bewahren. Die künftige Weltordnung wird nicht nur von den traditionellen Großmächten bestimmt werden.

Besonders der sogenannte „Globale Süden“ hat in den vergangenen Jahren ein neues Selbstbewusstsein entwickelt. Der Krieg in der Ukraine hat dies besonders deutlich gemacht. Die Länder des „Globalen Südens“ sind heute nicht länger bereit, den Vorgaben des Westens zu folgen. Stattdessen weisen viele darauf hin, dass sie von den Folgen des Krieges stärker betroffen sind und dass „der Westen“ selbst das Völkerrecht in der Vergangenheit häufig selektiv angewandt hat.

In der Tat hat „der Westen“ in den letzten Jahrzehnten im „Globalen Süden“ an Vertrauen und Glaubwürdigkeit verloren. Dies zeigte sich nochmal deutlich beim jüngsten G-20 Gipfel in Brasilien: trotz der Bitte des US-amerikanischen Präsidenten und des Bundeskanzlers hat Präsident Lula seinen ukrainischen Amtskollegen nicht zum G-20 Gipfel eingeladen. In der Abschlusserklärung fand der Krieg keine Verurteilung. Die Episode vervollständigt mein Bild, das ich im Bundestag vor über zwei Jahren zeichnete: zwar hatten Zweidrittel der Staaten in der UN- Generalversammlung den Überfall russischer Truppen auf die Ukraine verurteilt, aber die Länder, die sich der Stimme enthielten oder nicht anwesend waren, repräsentieren mehr als die Hälfte der Weltbevölkerung.

Die Haltung vieler Länder des Globalen Südens spiegelt sich besonders deutlich in den Worten des indischen Außenministers wider, der beim GLOBSEC-Forum in Bratislava am 3. Juni 2022 sagte: „Europa muss aus der Denkweise herauswachsen, dass die Probleme Europas die Probleme der Welt, aber die Probleme der Welt nicht die Probleme Europas sind“. Dieses Zitat zeigt deutlich, dass wir einen klaren Blick auf den Bruch des Völkerrechts haben müssen, zugleich aber auch einen unverstellten Blick auf die machtpolitischen Realitäten der Welt.

Das bedeutet allerdings nicht, dass der „Globale Süden“ Russlands Überfall auf die Ukraine unterstützt. Der „Globale Süden“ hat kein Interesse an einer erneuten Blockbildung oder einem Kalten Krieg 2.0. Im Westen wird oft vergessen, dass der Kalte Krieg oft in Form von Stellvertreterkriegen auf dem Rücken der Länder des „Globalen Südens“ ausgetragen wurde.

Der „Globale Süden“ ist aber auch kein monolithischer Block. Die Länder sind nach wie vor sehr vielfältig und verfolgen unterschiedliche Interessen. Doch was sie eint, ist ihr Wunsch nach mehr Mitspracherecht und einer gerechteren und inklusiveren Weltordnung. Dies beinhaltet natürlich eine entsprechende und längst überfällige Reform des UN-Sicherheitsrates, der nach wie vor die Machtverhältnisse nach Ende des Zweiten Weltkriegs widerspiegelt.

Wir dürfen deshalb nicht nur in Schwarz-Weiß-Kategorien denken. Wir sollten die Bestrebungen des „Globalen Südens“ nach einer gerechteren und inklusiveren Weltordnung unterstützen und neue Partnerschaften und Bündnisse mit den Ländern des „Globalen Südens“ gründen – auf Augenhöhe und zum beiderseitigen Vorteil.

Auch hier hat Willy Brandt bereits Pionierarbeit geleistet. 1977 übernahm er den Vorsitz einer internationalen Kommission, die mit neuen Ideen den Stillstand in den Nord-Süd-Beziehungen überwinden sollte. Wie schon bei der neuen Ostpolitik hoffte er, durch konstruktiven Dialog beider Seiten den Konflikt zu entschärfen und das Gegeneinander in ein Miteinander überführen zu können. Brandt begriff Entwicklungspolitik als eine neue, globale Dimension der Friedens- und Entspannungspolitik.

Wir brauchen auch heute wieder das, was Willy Brandt in seiner Rede bei der Eröffnungssitzung der Brandt-Kommission im Jahr 1977 als „Südpolitik“ bezeichnete. Bundeskanzler Olaf Scholz hat die Wiederbelebung der Beziehungen zu den Schwellen- und Entwicklungsländern zu einem zentralen Punkt seiner außenpolitischen Agenda gemacht. Ein Paradebeispiel hierfür ist etwa der Zukunftspakt, den Namibia und Deutschland in den letzten zwei Jahren gemeinsam vorbereitet haben und der im September von der UN-Generalversammlung angenommen wurde.

Der „Globale Süden“ teilt mit Europa das Interesse an einer multilateralen und regelbasierten Ordnung, die auf der Stärke des Rechts und nicht auf dem Recht des Stärkeren basiert. Gleichzeitig fordern die Länder des „Globalen Südens“ jedoch mehr Mitspracherechte und eine stärkere Beteiligung in internationalen Organisationen. Diese Forderung ist völlig legitim.

Eine sozialdemokratische Außenpolitik im 21. Jahrhundert sollte diese Bestrebungen deshalb unterstützen und gemeinsam mit den Ländern des „Globalen Südens“ Reformen im UN-System, in der Welthandelsorganisation und in den multilateralen Entwicklungsbanken vorantreiben. Dies liegt auch in unserem Interesse. Andernfalls besteht nicht nur die Gefahr, dass die derzeitigen Institutionen zunehmend an Legitimität verlieren, sondern auch, dass wir den „Globalen Süden“ in die Arme von Peking und Moskau treiben.

VI. Rüstungskontrolle und Abrüstung

Lassen Sie mich zum Abschluss noch ein Themenfeld ansprechen, welches mir besonders am Herzen liegt: Abrüstung und Rüstungskontrolle. Im Februar 2026 endet voraussichtlich das letzte große Abkommen zwischen Russland und den USA über atomare Abrüstung – der NEW START-Vertrag. Damit steht die Rüstungsbegrenzung zwischen den beiden größten Nuklearmächten der Welt nach einem halben Jahrhundert mühsam errungener Abrüstungsfortschritte endgültig vor dem Aus.

Die bittere Wahrheit ist aber, dass Abrüstung und Rüstungskontrolle sich schon seit längerem in einer tiefen Krise befinden. Dabei müssen wir uns eingestehen, dass auch auf westlicher Seite Fehler gemacht wurden. Ein Beispiel ist die einseitige Aufkündigung des ABM-Vertrags durch die Bush-Administration, die damals schon viel Vertrauen zerstörte.

Ich mache mir keine Illusionen: Abrüstung und Rüstungskontrolle werden in den kommenden Jahren noch schwieriger werden. Die wachsende Konkurrenz zwischen den Großmächten und zunehmenden Interessenkonflikte werden es noch schwieriger machen, verbindliche Abkommen zu erzielen. Künftige Vereinbarungen müssen daher über die klassischen Akteure USA und Russland hinausgehen und auch neue Mächte wie China und Indien einbeziehen. Umso wichtiger sind regionale Abmachungen und vertrauensbildende Maßnahmen in den Regionen.

Darüber hinaus stellt die Entwicklung neuer Technologien – wie etwa künstlicher Intelligenz, autonome Waffensysteme oder Cyber- und Hyperschalltechnologien – die Rüstungskontrolle vor neue Risiken und Herausforderungen, die in künftigen Abrüstungsvereinbarungen dringend berücksichtigt werden müssen.

Erlauben Sie mir daher am Schluss eine Anmerkung zur geplanten Stationierung von US-Mittelstreckenraketen in Deutschland. Es steht außer Frage, dass wir angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine unsere Verteidigungsfähigkeit verbessern müssen. Aber wir dürfen dabei nicht die Risiken einer solchen Stationierung außer Acht lassen, zumal sie eine rein bilaterale ist. Die Flugkörper verfügen über eine sehr kurze Vorwarnzeit und eröffnen neue militärische Fähigkeiten zugunsten der offensiven Strategie der US-Streitkräfte. Die Stationierung der US- Mittelstreckenraketen erhöht die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation, die vor allem das Primat der Politik aushebeln könnte. Deshalb wünsche ich mir eine Diskussion darüber. Die Stationierung derartiger Waffen ist kein Verwaltungsakt.

VII. Schluss

Meine sehr geehrten Damen und Herren, die Welt befindet sich gegenwärtig an einem gefährlichen Wendepunkt. Wir müssen die heutigen Realitäten anerkennen, aber wir dürfen uns nicht damit abfinden. Ganz im Gegenteil: Wir Sozialdemokraten dürfen in unseren Bemühungen nicht nachlassen und müssen gerade auch dann, wenn es schwierig ist, Kurs halten. Ich bin überzeugt: Auch die heutigen Umbrüche lassen sich gestalten und beeinflussen.

Die Herausforderungen, vor denen wir heute stehen, zwingen uns aber über die internationale Ordnung und über Europas Rolle in der Welt neu nachzudenken. Es wird noch einige Zeit dauern, bis sich ein neues multipolares Gleichgewicht herausbildet, das hoffentlich multilaterales Handeln erlaubt. Ich bezweifle, dass eine multipolare Welt automatisch eine gerechtere und friedlichere Welt ist.

Gerade deshalb ist es umso dringlicher, dass wir an den über Jahrzehnten geschaffenen Regeln und Normen der internationalen Politik festhalten, sie stärken und weiterentwickeln. Wir brauchen eine internationale Ordnung, die auf gemeinsamen Interessen, auf Kooperation, Mitgestaltung, friedlichen Wandel und Ko- Existenz gründet. Der Kampf gegen Hunger und Ausbeutung muss diese Interessen ergänzen. Denn die globalen Zukunftsaufgaben – Krieg und Frieden, Klimawandel, Migration, globale Gerechtigkeit und soziale Ungleichheit – sind nicht durch nationalistische Alleingänge, sondern nur gemeinsam durch die internationale Gemeinschaft zu bewältigen.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.