Die alten Wandtafeln haben wir jetzt verkauft«, sagt Hans-Peter Richter, Schulleiter des »Schulcampus Röbel«, eine Gesamtschule an der Mecklenburgischen Seenplatte. Der 66-jährige läuft vom Hauptgebäude aus der DDR-Zeit ins neu gebaute »Nawi-Haus« hinüber. Hier, in dem schlichten Betonbau mit leuchtend weißer Fassade, will er zeigen, wie in seiner Schule digital unterrichtet wird. Physik, dritte Stunde, 11. Klasse.
An der Wand hängt ein riesiger weißer Bildschirm, eine sogenannte digitale Tafel, ein Meter hoch, fast zwei Meter breit. Dort ist gerade die Wikipedia-Seite zur Energiebilanz der Wärmepumpe zu sehen. Die Schüler sollen Energiearten und ihre Berechnungen recherchieren. Jeder hat ein Tablet vor sich, das mit der Computer-Tafel verbunden ist. Wer etwas Interessantes gefunden hat, meldet sich, dann wird diese Tablet-Seite vorne angezeigt.
Hans-Peter Richter läuft zwischen den Schülern umher, klopft ihnen aufmunternd auf die Schulter, schaut auf ihre Tablets, und flüstert, während der Lehrer weitermacht: »Wenn wir bei der Digitalisierung nicht mitgehen, hängen wir hinterher in der Welt. Je eher die Kinder diese Möglichkeiten bekommen, desto besser«.
Richter ist die Digitalisierung sehr wichtig. Seine Gesamtschule in Röbel an der Müritz, 5000 Einwohner, knapp 150 Kilometer nordwestlich von Berlin, war die erste Schule in Mecklenburg-Vorpommern, die Mittel aus dem Digitalpakt bekam. Damit konnte Richter die ganze Schule mit digitalen Tafeln ausstatten.
Mehr als sechs Milliarden Euro für die Digitalisierung
Der Digitalpakt ist das bildungspolitische Großprojekt der rot-schwarzen Regierungskoalition. Im Sommer 2019 stellte der Bund fünf Milliarden Euro für die Digitalisierung der Schulen bereit, die Länder schossen insgesamt 500 Millionen Euro dazu, damit Schulen sich digitale Tafeln, Laptops und WLAN anschaffen können. Das Geld fließt über fünf Jahre bis 2024.
Da das digitale Lernen vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie noch viel wichtiger geworden ist, wurden Ergänzungen vereinbart: Im Frühling kam ein 500-Millionen-Euro-Hilfspaket dazu, um sozial benachteiligte Schüler mit Laptops zu versorgen. »Ob Schülerinnen und Schüler beim Unterricht per Video, Chat und App mithalten können, darf nicht vom Geldbeutel der Eltern abhängen. Das ist eine ganz entscheidende soziale Frage«, sagt der bildungspolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion, Oliver Kaczmarek.
Im Rahmen des Konjunktur- und Zukunftspakets im Frühsommer wurden weitere 500 Millionen vereinbart, damit die Schulen IT-Fachkräfte einstellen können, die die Software installieren und die Geräte warten. Und auf dem Schulgipfel Ende September wurden 500 Millionen Euro für Lehrer-Laptops beschlossen.
Als Hans-Peter Richter im Sommer 2019 vom Digitalpakt erfuhr, dachte er sich: »Diese Fördermittel muss ich in ein paar Wochen haben«. Ganz so schnell ging es dann doch nicht, aber bereits im Dezember bekam der Schulcampus Röbel den Zuschlag für 282.000 Euro. Am 9. Juli dieses Jahres lieferte ein Lkw 36 Smart Boards an die Schule, die 700 Schüler zur Mittleren Reife und zum Abitur führt. Zudem ließ Richter mit den Mitteln die Computerräume mit neuen PC‘s ausstatten und das WLAN-Netz erneuern.
Bürokratische Hürden
Damit gehört der Schulcampus Röbel bundesweit allerdings noch zu einer Minderheit: Von den fünf Milliarden Euro aus dem Digitalpakt sind bis Ende Juni erst etwas über fünf Prozent bewilligt worden, aktuellere Zahlen sollen Ende des Jahres veröffentlicht werden. In Mecklenburg-Vorpommern sind aktuell immerhin knapp neun Prozent der verfügbaren Mittel von fast 100 Millionen Euro bewilligt worden.
Bildungsministerin Bettina Martin (SPD) zufolge liegt das Land damit »im Zeitplan«. Das Programm laufe über fünf Jahre, und in einem »Roll Out«-Plan sei festgelegt, welche Schulen den Förderantrag in welchem Jahr stellen dürfen. Der Schulcampus Röbel war eigentlich erst für 2021 vorgesehen.
Die bürokratischen Hürden für die Beantragung waren am Anfang hoch. Dazu mussten die Schulen ein aufwändiges »Medienbildungskonzept« erarbeiten. Inzwischen kann dieses Konzept aber auch nachgereicht werden, wurde im Sommer beschlossen. Das begrüßt auch Bildungsministerin Martin: Denn das Verfassen eines solchen Konzeptes sei – gerade im Zuge der Corona- Krise – von den Lehrern als große zusätzliche Belastung empfunden worden.
Auch in Röbel war das so. Aber Richter wollte nicht bis 2021 warten, sondern »unbedingt unter die ersten Schulen kommen«. »Es war eine Fleißarbeit«, sagt er. Man müsse als Schulleiter den digitalen Weg gehen wollen, dabei seine Lehrerinnen und Lehrer mitnehmen. Ihm scheint das gut gelungen zu sein. Einer der Lehrkräfte beschreibt es so: »Wir haben das in einem riesengroßen Mammutprojekt durchgedrückt«.
Als Präsident der Stadtvertretung hat Richter gute Kontakte in die Kommunalpolitik und konnte auch dort auf Unterstützung zählen. Der pädagogische »Medienentwicklungsplan«, den die Verwaltung als Schulträger vorlegen musste, wurde schnell geschrieben.
Hans-Peter Richter erinnert an einen wohlwollenden Patriarchen, wenn er durch die Flure läuft, die Schüler beim Namen nennt, und ihnen sowie ihren Lehrern Anweisungen gibt, die anstandslos befolgt werden. Er erlaubt sich, unangemeldet in den Unterricht zu platzen, alle Schülerinnen und Schüler mit raus zu nehmen, (»Auf! Und mir nach!«), damit die Lehrerin ungestört über den digitalen Unterricht sprechen kann.
Richter ist fest davon überzeugt, dass die Digitalisierung in der Schule wichtig ist, schließlich war er selber Informatiklehrer. Er habe schon vor 20 Jahren gepredigt, erzählt er, dass die Schüler den Umgang mit dem PC lernen müssen, den flexiblen Umgang mit Datenübertragung und Technik. »Wer eine Ausbildung in der Tischlerei macht, der muss heute an digital gesteuerten Maschinen lernen, die Anforderungen sind dort hochrangig und spezialisiert. Wir versuchen, ein Grundgerüst dafür zu legen. Das erleichtert dann vieles«. Der Meinung ist auch Bildungsministerin Martin. »Wir brauchen gute Fachkräfte im Land für eine wettbewerbsfähige Wirtschaft«, sagt sie.
Schon heute gebe es kaum einen Beruf, in dem keine digitalen Kompetenzen erforderlich seien. Schon vor zwölf Jahren ließ Richter die Schule mit einem ersten WLAN-Netz ausstatten. Als die Pandemie ausbrach, hingen in 40 Klassenräumen Beamer, es gab sieben digitale Tafeln, 20 Notebooks zur Nutzung für die Lehrer und zwei Dutzend Tablets für die Schüler.
Eiskalt von Corona erwischt
Von Corona wurde die Schule dennoch »eiskalt« erwischt, erzählt Christian Leonhardt, Lehrer für Sport und Geographie. Was gut funktionierte, war das Erstellen eines Aufgabenpools über den Schulserver und die Kommunikation über Email und Telefon mit den Schülern. Eine Plattform wie Microsoft Teams, die den Online- Unterricht problemlos möglich macht, war aber nur für die Schüler der Oberstufe eingerichtet. Nur zwei Lehrer gaben auf diesem Wege Online-Unterricht. Andere hatten Scheu davor. »Meine Lehrer haben sich nicht so gerne auf Teams eingelassen und generell auf Online- Unterricht«, erzählt die 14-jährige Rebecca.
Der Lockdown war für manche Lehrer eine regelrechte Grenzerfahrung. Wie für Byrthe Dittrich, die seit 1987 Mathematik und Physik unterrichtet. »Das Schwierigste war für mich, die Fülle von Aufgaben zu meistern«, sagt sie. »Ich musste intensiv nach Filmen und interaktivem Übungsmaterial suchen, die Lösungen auf die Plattform stellen, den Weg zur Lösung schriftlich erläutern.« Viele hätten gedacht, die Lehrer könnten jetzt ausspannen. »Das hat mich sehr gekränkt«, erzählt sie mit brüchiger Stimme.
Jetzt, wo die alten Kreidetafeln und Beamer aussortiert und die neuen Smart Boards angekommen sind, hat auf dem Schulcampus Röbel eine weitere Epoche der Digitalisierung begonnen. Schüler und Lehrer halfen in den Sommerferien freiwillig, die 90 Kilogramm schweren digitalen Tafeln an die Wände zu montieren. Eine Woche vor Schulbeginn wurden die Lehrer im Umgang mit den Tafeln geschult. Jüngere Lehrer wie Christian Leonhardt erklärten den Älteren, wie es geht.
Leonhardt zufolge hat sich die Anstrengung gelohnt. Die Beamer hätten nur ein kleines, qualitativ schlechtes Bild an die Wand geworfen, der Ton sei zu leise und die Verbindung zwischen Laptop und Beamer störanfällig gewesen. »Jetzt kommt man rein, drückt auf den Knopf und es geht sofort los«. Eine große Erleichterung, findet er. Die Schülerinnen und Schüler könnten jetzt viel besser den Umgang mit digitalen Informationsquellen lernen, sagt Physiklehrer Matthias Strauch: »Wie unterscheidet man bei der Recherche im Internet Quellen, denen man vertrauen kann, von unseriösen Quellen?«
Die Schüler "reinigen" die digitalen Tafeln
Den Schülern gefällt der multimediale Unterricht. »Die Lehrer arbeiten jetzt viel mehr mit Bild-, Audio- und Video-Material«, sagt Rebecca aus der 9. Klasse. »Dadurch kann ich dem Unterricht besser folgen. Wir können im Internet recherchieren und müssen dafür nicht extra in den Computerraum gehen.« Auch die Kleineren finden es »cool«, im Englisch-Unterricht zum Beispiel Big Ben zu sehen und läuten zu hören.
Die Schüler helfen mit, die digitalen Tafeln funktionsfähig zu halten: Einige schwärmen wöchentlich aus, um die Smart Boards zu »reinigen«; sie löschen die geöffneten Dateien und Anwendungen, die auf dem Desktop verbleiben.
Sollte es aufgrund der Corona-Pandemie erneut zur Schließung der Schule kommen, ist der Schulcampus Röbel besser gerüstet als im Frühling. Im Sommer hat Richter 100 Tablets bestellt, die aus den Mitteln einer Zusatzvereinbarung zum Digitalpakt finanziert werden. Diese können an Schüler verliehen werden, denen zu Hause kein Endgerät zur Verfügung steht. Durch die Smart Boards haben die Lehrer schon begonnen, ihren Unterricht digital zu gestalten. Und Office 365 und Teams ist nun flächendeckend eingerichtet. Zudem wurden neue Kameras bestellt, mit denen der Unterricht vor der digitalen Tafel großflächig gefilmt werden kann.
Probleme mit dem Breitbandanschluss
Doch ein großes Problem kann auch der Digitalpakt nicht lösen. Im Landkreis Röbel gibt es noch sogenannte »weiße Flecken«: Orte ohne Breitband-Anschluss. In manchen Dörfern haben die Haushalte nicht einmal Zugang zum Internet. Während des ersten Lockdowns ist der Online-Unterricht schon daran in einigen Jugendzimmern gescheitert.
Der Bund investiert zwar Milliarden in den Aufbau von flächendeckenden und sicheren Gigabitnetzen und in die Versorgung von Schulen mit schnellem Netz. Die gesetzlichen Grundlagen dafür hat er mit dem »Digitalfonds« (Sondervermögen Digitale Infrastruktur) geschaffen. In dem Rahmen ist die Förderung des Breitbandausbaus im Landkreis Röbel auch bereits bewilligt. Doch die Inbetriebnahme ist erst Ende 2024 geplant. Die Projektplanung, die Abwicklung mit Ausschreibung und dem tatsächlichen Ausbau dauert, und die Baukapazitäten sind knapp.
Hans-Peter Richter lässt sich jedoch auch davon nicht bremsen. Er will jetzt die Mittel zur Finanzierung für die Ausbildung und Einstellung von IT-Mitarbeitern für seine Schule beantragen. Richter zufolge sind eigene IT-Fachkräfte eine der zentralen Voraussetzungen für die erfolgreiche Digitalisierung des Unterrichts. »Wir können die Systeme längerfristig nicht komplett selber warten«, sagt er. Derzeit hilft eine IT-Fachkraft aus der Stadtverwaltung.
Bei allem Enthusiasmus für die Digitalisierung sei er manchmal aber auch ein bisschen nostalgisch, sagt der Schulleiter. Eine Kreidetafel wird er behalten. Die sei schon über hundert Jahre alt. »Am Tag der offenen Tür werden wir die rausholen«, sagt er. »Um den Kindern zu zeigen, dass solche Hilfsmittel in früheren Zeiten auch wichtig waren.«