Lars Klingbeil, MdB redet im Deutschen Bundestag zur Abschaffung der Wehrpflicht
Sehr geehrte Frau Präsidentin! Sehr geehrte Damen und Herren!
Lieber Kollege Lamers, wenn man den „tobenden“ Beifall bei Ihrem Koalitionspartner sieht,
(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
dann wird deutlich, dass diese Regierung kein Konzept für die Wehrpflicht hat. Es werden spannende Wochen, bis Sie die Wehrpflichtfrage geklärt haben. Ich will mich hier ausdrücklich bei den Grünen dafür bedanken, dass sie diesen Antrag vorgelegt haben. Auch ich persönlich bin der Überzeugung, dass wir in Deutschland keine Zwangsdienste mehr brauchen und dass die Wehrpflicht nicht mehr zeitgemäß ist.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Zuruf von der FDP: Wo wart
ihr denn in den letzten elf Jahren?)
– Ich kann die Aufregung der FDP in dieser Frage verstehen. Ich komme dazu gleich in meiner Rede.
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Liebe Kolleginnen und Kollegen, es ist richtig, dass wir als Parlamentarier die Diskussion beginnen. Auch wenn man nicht allen Punkten im Antrag der Grünen zustimmen kann, so muss man doch festhalten: Im Gegensatz zur Regierung haben die Grünen hier wenigstens ein Konzept vorgelegt, und das ist ein vernünftiger Schritt.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN – Dr. Reinhard Brandl [CDU/
CSU]: Wo?)
Die Wehrpflicht ist ein Thema, das wir gesellschaftlich und politisch kontrovers diskutieren. Auch ich bin mir bewusst, dass in der letzten Legislaturperiode auch Kollegen meiner Partei hier vorne gestanden und für die Wehrpflicht geredet haben. Wir haben das auch innerhalb der SPD sehr kontrovers diskutiert. Wir Sozialdemokraten sind uns aber einig, dass nicht mehr der Zwang, sondern die Freiwilligkeit im Vordergrund stehen muss. Vor allem sagen wir Sozialdemokraten: Wir brauchen eine Entscheidung, die langfristig trägt. Die Bundeswehr braucht eine grundlegende Entscheidung, die langfristig trägt. Deswegen brauchen wir einen politischen Konsens, der vom Militär nicht nur akzeptiert wird, sondern der vom Militär auch unterstützt wird. Wir brauchen vor allem einen politischen Konsens, der sich auf mehr als auf die Regierungsmehrheit beruft.
Ich bin überzeugt: Wir brauchen den besten Nachwuchs für unsere Armee, für eine Armee, die sich immer größeren Herausforderungen stellen muss. Die Anforderungen an unsere Soldaten werden immer größer. Viele wollen auch freiwillig den Dienst in der Bundeswehr leisten. Durch eine Erhöhung der Attraktivität, durch verbesserte Ausbildungsmöglichkeiten und durch eine gesellschaftliche Anerkennung, die endlich dem Soldatenberuf gerecht wird, werden wir es schaffen, dass auch diejenigen freiwillig zur Bundeswehr gehen, die wir für die Armee brauchen.
(Beifall bei der SPD)
Um das zu schaffen, brauchen wir als Parlament aber endlich den Mut, einen großen Schritt zu machen, eine wirkliche Reform zu verabschieden. Wir brauchen als Parlament den Mut, endlich den Wandel der Bundeswehr hin zu einer Freiwilligenarmee in die Wege zu leiten.
(Beifall der Abg. Agnes Malczak [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Herr Lamers, Sie haben die Wehrgerechtigkeit angesprochen.
(Dr. Karl A. Lamers [Heidelberg] [CDU/CSU]: Ja!)
Ich sehe ein Problem bei der Wehrpflicht mit der Wehrgerechtigkeit und möchte etwas zitieren:
Derzeit müssen von durchschnittlich 420 000 jährlich zur Verfügung stehenden Männern lediglich 70 000 der Wehrpflicht nachkommen … Insgesamt leisten jährlich nur rund 175 000 Männer einen Pflichtdienst (Wehrdienst, Zivildienst oder andere Ersatzdienste), während 245 000 … ihre zivile Lebensplanung nicht für neun Monate unterbrechen müssen.
Ich kann für diese Zahlen keine Garantie übernehmen; sie sind aus dem Jahr 2006 und per Copy und Paste in meinen Redetext von einem Antrag der FDP-Bundestagsfraktion vom 18. Januar 2006 gekommen.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, glauben Sie wirklich, dass Sie mit dem W6-Kompromiss die von Ihnen angeprangerte Wehrungerechtigkeit beseitigen?
Nach all dem, was man bisher gelesen hat, ist W6 ein bisschen Herumdoktern am Problem der Wehrgerechtigkeit, aber keine Lösung dieser Probleme. Es ist ein bisschen mehr Gerechtigkeit in einer Ungerechtigkeit. Deswegen will ich es hier so deutlich sagen: Wer jahrelang die Fahne der Abschaffung der Wehrpflicht hochhält und dann gerade mal so einen Kompromiss erreicht, der sollte hier nachher mal erklären, wie er denn zu diesem W6-Modell steht. Ich bin gespannt auf Ihre Rede, Herr Spatz.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Die Wehrgerechtigkeit ist aber nur ein Aspekt von vielen. Wir haben in den letzten Wochen sehr viel darüber diskutiert, dass die Armee die beste Ausstattung braucht und dass wir als Parlament der Armee auch mit auf den Weg geben müssen, was sie braucht. Wir waren uns einig, dass wir mehr auf die Soldaten hören sollten. Da muss doch am Anfang die Frage nach der sicherheitspolitischen Relevanz einer Wehrpflicht stehen.
Sicherheitspolitisch ist die Wehrpflicht nicht zu rechtfertigen. In einer Welt, die immer schneller wird, die immer mehr zusammenwächst, in einer globalisierten Welt, in der die Gefahren nicht mehr an den Landesgrenzen lauern, sondern am Hindukusch oder am Horn von Afrika, können wir auf die Wehrpflicht sicherheitspolitisch verzichten. Diese Legitimation greift nicht mehr.
Auch hier will ich ein Zitat bringen:
Die äußere Sicherheit Deutschlands und der Bündnisstaaten ist aber nicht durch konventionelle Angriffe bedroht, auch nicht nach den Attentaten vom 11. September 2001. Die frühere Landesverteidigung ist heute ausschließlich als Bündnisverteidigung
zu begreifen. Die NATO fordert auch deshalb von Deutschland keine Wehrpflichtarmee, sondern Streitkräfte, die gut ausgebildet, modern ausgerüstet, voll einsatzbereit und schnell verlegbar sind. Dafür benötigt die Bundeswehr keine Grundwehrdienstleistenden.
Auch das ist aus dem Antrag der FDP vom Jahr 2006. Ich freue mich darauf, dass Sie gleich erklären werden, was Sie erreicht haben,
(Hartfrid Wolff [Rems-Murr] [FDP]: Da können Sie sicher sein!)
und kann Ihrer sicherheitspolitischen Begründung nichts mehr hinzufügen.
Die Wehrgerechtigkeit und die sicherheitspolitische Relevanz sind zwei Argumente, die nicht mehr im Einklang mit der Wehrpflicht stehen. Auch die Integration der Bundeswehr dient ja immer wieder als Argument für die Beibehaltung der Wehrpflicht. Herr Lamers, Sie haben es gerade auch erwähnt. Aber ich sage, wir müssen an dieser Stelle der Realität in die Augen schauen.
Erstens. Schon heute erreichen wir mit der Wehrpflicht nicht mehr alle männlichen Bürger, unabhängig von Herkunft, Beruf oder Bildung, und wir erreichen schon heute nicht mehr das gesamte Spektrum, das in der Gesellschaft vorhanden ist, und integrieren es in die
Bundeswehr.
Zweitens würden wir die Wehrdienstleistenden schlichtweg überfordern, wenn wir sie mit der gesellschaftlichen Integration der Bundeswehr beauftragen würden.
Ich sage, die Bundeswehr ist heute schon wesentlicher integrierter Bestandteil dieser Gesellschaft. Ich komme aus Munster – das ist der größte Heeresstandort Deutschlands –, und da erlebe ich jeden Tag, wie die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft funktioniert. Ich sehe Soldaten, die in Vereinen, in Elternbeiräten, bei der Freiwilligen Feuerwehr und – auch das kann ich sagen – sogar im SPD-Ortsverein perfekt integriert sind. Deswegen muss es uns zwar darauf ankommen, den Soldaten als Staatsbürger in Uniform zu stärken, aber wir dürfen keine Scheindebatten führen. Wenn ich höre, dass man so argumentiert, dass die Wehrdienstpflichtigen die Integration der Bundeswehr leisten sollen, dann entgegne ich ganz klar: Ich habe genauso viel Vertrauen darauf, dass diejenigen, die freiwillig ihren Dienst leisten, oder diejenigen, die Berufssoldaten sind, genau diese Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft leisten können. Lassen Sie uns also keine Scheindebatten an dieser Stelle führen.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Das heißt aber nicht, dass wir bei dieser Integration nicht noch vieles verbessern können. Wir haben vorhin den Wehrbeauftragten verabschiedet, wir haben den neuen begrüßt. Das ist eine ganz wichtige Institution, die wir haben, um die Bundeswehr in die Gesellschaft zu integrieren. Wir haben die Innere Führung, die wir stärken müssen, und ich sage, wir müssen auch dringend wieder stärker über den Staatsbürger in Uniform reden. Ich hätte mir in den letzten Wochen gewünscht, dass wir mehr Soldaten haben, die sich auch in die gesellschaftlichen und politischen Debatten einmischen, die stärker ihr Wort erheben und auch deutlich machen, wo eigentlich Missstände und wo Mängel bei der Armee sind. Das nehmen wir als Politiker dann auf.
An dieser Stelle will ich noch einmal aus dem Antrag der FDP aus dem Jahr 2006 zitieren:
Deshalb ist der Vollzug der Allgemeinen Wehrpflicht so schnell wie möglich auszusetzen und der Planungsprozess des Umbaus der Bundeswehr in eine Freiwilligenarmee unverzüglich zu beginnen.
Sie sagen in diesem Antrag deutlich, dass die Integration der Bundeswehr in die Gesellschaft schon umgesetzt ist. Dieses Argument kann also nicht dazu dienen, die Wehrpflicht aufrechtzuerhalten.
Liebe Kolleginnen und Kollegen von der FDP, ich kann ja verstehen, dass man in einer Koalition Kompromisse aushandeln muss. Das haben wir Sozialdemokraten an vielen Stellen erleben müssen. Aber wenn der Kompromiss in einem Modell besteht, das keiner versteht, das keiner akzeptiert und das hinter verschlossenen Türen keiner trägt, dann frage ich mich schon, ob Sie die Situation mit dem Modell W6 nicht noch verschlechtern.
Von der Bundeswehr wird dieser Kompromiss nicht akzeptiert. Die Truppe setzt natürlich um, was die Politik beschließt. Aber Sie führen wahrscheinlich genauso wie ich dieselben Vieraugengespräche mit Soldaten, in denen Sie erfahren, dass die Truppe mit diesem Beschluss nicht zufrieden ist. Deswegen bitte ich Sie, diese Entscheidung noch einmal zu überdenken.
Wir Sozialdemokraten haben den Koalitionsfraktionen angeboten, gemeinsam ein Modell zu finden, das langfristig trägt und das gesellschaftlich trägt. Was Sie hier auf den Weg bringen wollen, hat nur eine geringe Halbwertzeit. Ich sage Ihnen, es wird sehr schnell vom Tisch sein. Deshalb noch einmal das Angebot von uns Sozialdemokraten: Lassen Sie uns gemeinsam ein Modell finden, das der sicherheitspolitischen Relevanz gerecht wird und das eine gesellschaftliche Akzeptanz findet! W6 kann dieses Modell nicht sein. Deswegen werden wir Ihrem Modell nicht zustimmen, sobald Sie es in den Bundestag einbringen. Nutzen Sie die Chance, eine politische Mehrheit zu finden, die über Ihre eigenen Fraktionen hinausgeht.
Vielen Dank fürs Zuhören.
(Beifall bei der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)