Der Schock und die Betroffenheit über die Attentate vom 11. September 2001 waren allenthalben zu spüren. Zugleich war die Angst und die Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung mit Händen zu greifen. Für diejenigen, die wie ich mit dem Krisenmanagement befasst waren, ging es deshalb zu allererst darum, die Gefahr möglicher weiterer Anschläge abzuwehren.
Jahrestage sind Tage des Gedenkens und der Rückbesinnung. Allen hier im Raum stehen die Bilder der schrecklichen und beispiellosen Ereignisse vom 11. September 2001 vor Augen, die damals in alle Welt gesendet wurden und die uns in diesen Tagen allerorten wieder begegnen. Diese Bilder rufen uns das katastrophale Ausmaß der Anschläge in wache Erinnerung, die viele tausend Menschen das Leben gekostet haben. Der 10. Jahrestag des 11. September ist auch und in erster Linie ein Tag der Trauer um die unschuldigen Opfer und der Anteilnahme für ihre Angehörigen.
Jahrestage sind häufig genug aber auch die Stunde von Legendenbildung und Geschichtsdeutung und das erleben wir in diesen Tagen auch. Manche verschrobene Verschwörungstheorie lebt wieder auf, manche steile These wird neu geboren.
Ich will mich daran nicht beteiligen. Dazu bin ich als jemand, der eng involviert war in viele Entscheidungen, die zu treffen waren, nicht berufen. Ich will stattdessen versuchen, Ihnen einen Eindruck zu vermitteln, wie ich persönlich die Ereignisse damals erlebt habe, unter welchen Umständen wir zu handeln hatten und was uns zu Entscheidungen bewegt hat, über die auch aktuell zuweilen kritisch, auch selbstkritisch, diskutiert wird.
Mich selbst haben die Nachrichten über die Ereignisse von New York und Washington im Auto erreicht, als ich mich von einem Kurzurlaub im Elsaß mit Frau und Tochter auf dem Weg nach Berlin befand. Es war auf der Höhe von Stuttgart, als ich einen Anruf bekam und mein Büro mich informierte, dass ein Flugzeug in das World Trade Center gestürzt war. Noch während des Telefonats geschah der zweite Anschlag und wenig später der dritte, auf das Pentagon in Washington. Noch von unterwegs haben wir mit dem Krisenmanagement begonnen, telefoniert, das Lagezentrum in Alarmbereitschaft versetzt und erste Entscheidungen getroffen.
Am frühen Morgen des 12. September bin ich mit dem Hubschrauber in Berlin im Kanzleramt eingetroffen. Die Stimmung, auf die ich dort traf, ist mir bis heute sehr präsent: Beklemmend und düster war sie, geprägt von der Befürchtung, dass dies alles nicht das Ende von etwas, sondern erst der Anfang sein könnte.
Natürlich war uns allen klar, dass es hier um mehr ging als eine, wenn auch schwere Serie von Terroranschlägen. Es war der massivste Angriff, den die Vereinigten Staaten jemals in ihrer Geschichte auf eigenem Territorium erlebt hatten. Das war eine tiefgreifende Zäsur für das amerikanische Sicherheitsgefühl. Und es war ein Angriff, der nicht nur den USA alleine, sondern der gesamten westlichen Welt galt.
Und das möglicherweise nicht nur in einem symbolischen Sinne! Niemand wusste damals, was in den nächsten Tagen und Wochen folgen würde.
Deutschland wurde damals erfasst von einer Woge der Trauer, des Mitgefühls und der Solidarität mit den Vereinigten Staaten. Das wurde sichtbar auf den Straßen rund um’s Brandenburger Tor. Und die, die in der Politik Verantwortung trugen, waren davon nicht unberührt. Das teilt sich nicht mit bei der Lektüre alter Akten. Aber es war so. Der Schock und die Betroffenheit war allenthalben zu spüren. Und zugleich war die Angst und die Verunsicherung in der deutschen Bevölkerung mit Händen zu greifen.
Für diejenigen, die wie ich mit dem Krisenmanagement befasst waren, ging es deshalb zu allererst darum, die Gefahr möglicher weiterer Anschläge abzuwehren.
Es war eine Situation, in der jeden Tag mit weiteren Anschlägen gerechnet werden musste. Eine Situation, in der es viele ernstzunehmende Hinweise auf Schläferzellen in den USA, aber auch in Europa gab. Eine Situation, in der wir gezwungen waren, alle denkbaren Terrorszenarien ins Auge zu fassen, wie zum Beispiel den Einsatz von Chemiewaffen mit Sprühflugzeugen, auf denen Mohammed Atta, einer der Attentäter, angeblich Flugübungen unternommen hatte. Wir hatten es zu tun mit idiotischen Trittbrettfahrern, die die Angst vor Anthrax-Attacken mit Brief-Attrappen geschürt haben und mit Gerüchten über Stämme von Pocken-Viren, die in die Hände von Terroristen gelangen könnten.
Es war – kurz gesagt – eine Atmosphäre, in der viele Menschen Angst hatten, Angst, die jederzeit in Hysterie umschlagen konnte und in der es galt, effektive Gefahrenabwehr zu betreiben ohne den Rechtsstaat zu schleifen. Vom ersten Tag an und über Monate hinweg haben wir unter meiner Leitung jeden Morgen im Kanzleramt eine Sicherheitslage abgehalten. Wir haben damals die gesamte Infrastruktur – Flughäfen, Bahnhöfe, Industrieanlagen, die Wasserversorgung – auf ihre Anfälligkeit für Terrorattacken geprüft. Wir haben die Spielräume der Ermittlungsbehörden und Geheimdienste, die Möglichkeiten der Zusammenarbeit und des Datenaustauschs national und international erweitert.
Das alles hatte zweifellos seinen Preis: Wir waren gezwungen, das Spannungsverhältnis von Freiheit und Sicherheit neu zu vermessen. Wir hatten auszuloten, was vertretbar und vereinbar war mit den Schutzrechten des Einzelnen, und was notwendig war, um Sicherheitslücken zu schließen. Das war ein schmaler Grat. Aber als jemand, der dafür mit Verantwortung getragen hat, glaube ich, dass es uns gelungen ist, Sicherheit unter schwierigsten Bedingungen zu gewährleisten, ohne unsere Zivilität preis zu geben. Ob das immer und überall gleichermaßen gelungen ist, darüber kann man diskutieren. Und das haben wir ja mit unseren Partnern jenseits des Atlantiks auch mehr als einmal getan: Wenn es um Verhörmethoden, die Praxis von Renditions oder den Umgang mit terrorverdächtigen Gefangenen ging.
Wir waren nicht immer und nicht zu jeder Zeit einer Meinung. Ich hatte zuweilen durchaus heftige Auseinandersetzungen mit mit meiner damaligen Kollegin Condoleezza Rice. Aber ich habe den Eindruck, dass auch in den USA das Bewusstsein gewachsen ist, dass es in manchen Bereichen zu gefährlichen Grenzüberschreitungen gekommen ist. Und dass wir am Ende nichts davon haben, wenn wir Werte preis geben, die die Kultur des Westens attraktiv gemacht hat für andere.
Am Tag nach den verheerenden Anschlägen, am 12. September, konnte es keinen politischen Alltag mehr geben. Es gab stattdessen eine Sondersitzung des Bundestages und eine Regierungserklärung, in der Kanzler Schröder den USA die „uneingeschränkte Solidarität“ der Bundesrepublik versicherte. Darüber ist in den folgenden Jahren viel und strittig diskutiert worden. Von Blankoscheck, von allzu blinder Gefolgschaft war zu lesen, in jüngster Zeit sogar davon, dass Deutschland sich ohne Not aufgedrängt habe. Es ist viel hineingelesen worden in diese Formulierung und inzwischen ranken sich ganze Legenden um ihr Zustandekommen. Und es ist schon amüsant, wenn man die Menschen kennt, die sich da jetzt äußern: Manche, die gar nicht so nah dran waren, reklamieren jetzt die Mitautorenschaft. Und manche, die näher dran waren, suchen heute Distanz.
Nach meiner Erinnerung war es alles etwas schlichter: Wer sich die Bilder der Zerstörung in Erinnerung ruft, die Schockwelle, von der die USA ergriffen wurde, die Betroffenheit und die offenen Solidaritätsbekundungen zehntausender von Menschen alleine hier in Berlin, der wird vielleicht verstehen, dass es hier weniger um den Entwurf eines fein ziselierten Vertragstextes mit Bedingungen und Nebenbedingungen der Solidarität ging, sondern dass hier auch Emotion mit im Spiel war, dass das bedingungslose Bekenntnis zur Freundschaft mit den USA auch Ausdruck des Entsetzens war, von dem wir alle erfasst waren – und des Verständnisses für eine eng befreundete Nation, die das zweite Mal nach Pearl Harbour auf eigenem Territorium angegriffen worden war und nicht nur Trauer, sondern auch Demütigung empfand.
Dieses Bekenntnis war deshalb damals in der Sekunde, als es gesprochen wurde, selbstverständlicher, als es mit Wissen um die Geschichte in den 10 Jahren danach aussieht! Ich war jedenfalls sehr einverstanden mit dieser Formulierung, nicht nur, weil es um unseren engsten Verbündeten ging, dem Deutschland seinen Wiederaufstieg in den Kreis der westlichen Demokratien verdankte. Nicht nur, weil die Attentäter von New York und Washington ihre Anschläge von deutschem Boden aus vorbereitet hatten, wofür es schon am 12. September handfeste Indizien gab. Sondern auch und nicht zuletzt, weil es um eine Bedrohung ging, die den gesamten Westen und damit auch uns selbst unmittelbar betraf.
Als der Satz von der uneingeschränkten Solidarität fiel, war den Amerikanern längst nicht vollends klar, wie sie auf die Anschläge reagieren würden; aber erst recht nicht, in welchem Umfang sie auf die Unterstützung von Partnern angewiesen sein würden.
Allerdings hat sich bei uns auch niemand Illusionen gemacht. Die tiefe Demütigung einer der letzten verbliebenen Großmächte, auch die fortbestehende Terrorgefahr, ließ erwarten, dass es auch militärische Reaktionen der USA geben würde. Die verwegene These allerdings, die mancherorts zu lesen war in den letzten Tagen, dass Kanzler Schröder am 12. September die Gunst der Stunde genutzt habe, damit Deutschland endlich auch militärisch wieder eine Rolle in der spielen könnte: Die lässt sich aus dem Geschehen jedenfalls beim besten Willen nicht ableiten.
Aber nicht nur das! Das, was ich im Spiegel lese, ist eine nachträgliche Deutung, die mit Blick auf die damalige Lage in der rot-grünen Koalition auch nicht gerade naheliegend ist.
Wir hatten in den Jahren zuvor in den Koalitionsparteien mehrfach hart gerungen, als es um eine deutsche Beteiligung an den Einsätzen in Mazedonien und im Kosovo ging. Das alles war frisch genug, um zu ahnen, dass eine Unterstützung der Amerikaner – jenseits von politischen Solidaritätszusicherungen – auf ähnliche Vorbehalte und Kritik stoßen würde. Tatsächlich begann eine Zeit heftiger Auseinandersetzungen, an der die Koalition hätte zerbrechen können. Obwohl der Großteil der angefragten Unterstützung gar nicht für Afghanistan vorgesehen war, sondern für Sicherungsaufgaben am Horn von Afrika und in Kuwait stationiert werden sollte; obwohl nur 100 Soldaten von dem angefragten rund 1000 Mann starken Kontingent für Afghanistan vorgesehen waren, wurde der Streit innerhalb der Koalitionsparteien erbittert und leidenschaftlich geführt.
Kanzler Schröder hat sich damals persönlich bemüht, Kritiker zu überzeugen. Aber es war nicht abzusehen, ob die Regierungsmehrheit stehen würde. Schröder musste am Ende sein ganzes Gewicht als Kanzler in die Waagschale werfen. Er hat, wie Sie sich erinnern, damals die Zustimmung zu OEF mit der Vertrauensfrage verbunden. Er hat die Kanzlermehrheit mit denkbar knapper Mehrheit erreicht – und nur weil die Kritiker auf Seiten der GRÜNEN per Los bestimmt hatten, wer ablehnen dürfe und wer zustimmen müsse, um die Koalition zu retten.Natürlich war der Druck der Vertrauensfrage für die Abgeordneten spürbar. Aber es gab auch die Einsicht, dass es nicht nur um ein Zeichen von Solidarität und Mitverantwortung ging, das von den Verbündeten erwartet wurde. Das auch. Aber vor allem ging es um einen Einsatz, der im Interesse unserer eigenen Sicherheit lag.
Diese Bündnissolidarität hat zehn Jahre und mehrere wechselnde Bundesregierungen überdauert. Und sie hat auch über Phasen gehalten, in denen es um das transatlantische Verhältnis nicht zum Besten stand.Und die gab es natürlich auch. Es ist kein Geheimnis, dass wir grundlegend anderer Auffassung in Bezug auf den Irak waren, und zwar schon seit Ende 2001, als zum ersten Mal über mögliche Verbindungen zwischen Saddam Hussein und Al Qaida spekuliert wurde. Wir haben uns auch den missionarischen Impetus von Präsident Bush und Verteidigungsminister Rumsfeld – die Schwarz-Weiß-Sicht auf die Welt, die Rede von der Achse des Bösen und dergleichen – nie zu eigen gemacht.
Und auch das gemeinsame Afghanistan-Engagement war nicht immer frei von Spannungen. Es hat Versäumnisse gegeben, Fehleinschätzungen und Rückschläge, auch bei uns: Die Vorstellung, das westliche Demokratiemodell auf eine durch Stammesstrukturen geprägte Gesellschaft wie die Afghanistans zu übertragen, waren offensichtlich zu optimistisch; wir haben es gerade am Anfang sicher auch versäumt, weithin sichtbare Leuchttürme des zivilen Wiederaufbaus zu errichten, die das Vertrauen und die Zuversicht der afghanischen Bevölkerung hätten stärken können;und immer wieder haben wir erleben müssen, wie mühsam erarbeitetes Vertrauen durch zivile Opfer erschüttert und untergraben wurde.
Wir haben über die Jahre immer wieder intensive und kontroverse Diskussionen innerhalb der NATO, mit den USA geführt: Über die Ziele der Mission, über die richtige Operationsführung, über die geeigneten Mittel. Auch zehn Jahre nach Beginn des internationalen Engagements bleibt mit Blick auf die Lage in Afghanistan noch viel Anlass zur Sorge. Wir sind bei Weitem nicht so weit, wie wir kommen wollten. Die Sicherheitslage ist nach wie vor angespannt. Der Wiederaufbau hat noch keine selbsttragende wirtschaftliche Entwicklung in Gang setzen können. Wir sind weit entfernt davon, rechtsstaatliche Standards landesweit zu verankern. Und die politischen Strukturen sind nach wie vor, gerade in den Regionen, viel zu schwach ausgeprägt.
Vom Ziel der Musterdemokratie nach westeuropäischem Modell hat die internationale Gemeinschaft sich schon vor Jahren verabschiedet. Aber: es ist gelungen, realistische Hilfestellung zu leisten, um Sicherheit, Achtung vor Menschenrechten und Respektierung von Wahlergebnissen zu erreichen. Und das war schwer genug.
Und wir sollten mit Blick auf den 11. September eines nicht kleinreden: Es ist gelungen, die Taliban von der Macht zu vertreiben und von der Macht fernzuhalten. Al Qaida hat eine zentrale Rückzugsbasis verloren und ist insgesamt deutlich geschwächt. Der Tod von Osama Bin Laden bedeutet nicht das Ende von Al Qaida, aber er hat dem Terrornetzwerk eine wichtige Identifikations- und Integrationsfigur geraubt. Wenn heute manche sagen: „Ihr habt doch damals übertrieben, Al Qaida war nie wieder in der Lage, einen Anschlag wie den am 11. September zu wiederholen“, dann sage ich: Gerade weil wir gehandelt haben, ist es nicht wieder zu Anschlägen in dieser Dimension gekommen!
Es ist nicht hoch genug einzuschätzen, dass es gelungen ist, über einen so langen Zeitraum eine so breite Allianz von Partnern auf die gemeinsame Aufgabe der Stabilisierung Afghanistans zu verpflichten. Das Ende der militärischen Kampfeinsätze in Afghanistan rückt nun in greifbare Nähe. Ich habe mich – gegenüber Verbündeten, aber auch hierzulande – immer wieder stark gemacht für den Grundsatz: „gemeinsam rein – gemeinsam raus“. Und deshalb halte ich es für einen beachtlichen Erfolg, dass sich alle Partner gemeinsam mit der afghanischen Regierung auf einen klaren Zeitplan zur Übergabe der Sicherheitsverantwortung verständigt haben und niemand der Versuchung erlegen ist, in einen Wettlauf um den frühesten Abzugstermin einzutreten.
Wir haben gemeinsam die Weichen auf eine Beendigung der Kampfeinsätze gestellt. Und wir sind uns zugleich einig, dass dies nicht gleichbedeutend sein darf mit der Beendigung des Engagement der internationalen Gemeinschaft insgesamt - wenn wir nicht riskieren wollen, dass das Land nach Abzug der ausländischen Truppen wieder in Krieg und Bürgerkrieg zurückfällt. Darum wird es bei der Afghanistan-Konferenz in Bonn in knapp drei Monaten gehen müssen.
Klar ist im Übrigen auch: Das absehbare Ende des militärischen Einsatzes in Afghanistan bedeutet nicht das Ende des internationalen Kampfes gegen den Terrorismus. Al Qaida ist geschwächt. Aber es gibt keinen Anlass, die Hände in den Schoß zu legen. Aber der Charakter des Kampfes gegen den Terrorismus wird sich zweifellos verändern. Darüber wird heute im Rahmen dieser Veranstaltung noch im Detail zu reden sein. Man muss jedenfalls kein Prophet sein, um vorauszusagen: er wird die transatlantische Agenda der kommenden 10 Jahre nicht in gleicher Weise bestimmen wie die zurückliegenden 10 Jahre.
Das ist jedenfalls meine Hoffnung. Und sie wird getragen von der Erkenntnis, dass es genügend gemeinsame Aufgaben jenseits des Kampfes gegen den Terror gibt, denen sich die transatlantische Allianz verstärkt widmen sollte und müsste.
Das sage ich auch und gerade mit Blick auf die arabische Welt und den Nahen Osten, eine Region, auf die wir in den Jahren nach dem 11. September mit besonderer Aufmerksamkeit und einiger Besorgnis geblickt haben, weil sie als Ort potentieller Terrorismusgefahr galt. Die extremsten Befürchtungen haben sich glücklicherweise nicht erfüllt. Der von Al Qaida in die arabische Welt getragene Keim der Radikalisierung ist nicht aufgegangen. Der „Clash of Civilisations“ ist ausgeblieben.
Aber mein Eindruck ist, dass wir gerade dabei sind, eine historische Chance zu verspielen. Es vollziehen sich in der arabischen Welt Veränderungen ungeheurer Dimension, die erhebliche Chancen, aber gleich große Risiken bergen.
Das Risiko liegt nicht in mangelnder Leidenschaft der Menschen in Ägypten und Tunesien für die Demokratie. Von uns allen unerwartet, haben die Menschen dort nach jahrzehntelanger Gängelung und Unterdrückung ihren ganzen Mut zusammengenommen, um Autokraten aus den Sesseln der Macht zu vertreiben und Demokratie an ihre Stelle zu setzen. Die Säulen der Macht, die die alten Regime getragen haben, waren morsch; sie fielen schneller in sich zusammen, als die mutige Opposition glaubte. Aber täuschen wir uns nicht, die Säulen für eine neue Demokratie stehen noch nicht. Eines liegt doch auf der Hand: Wenn der Aufstand gegen die Autokraten in der Maghreb-Region, wenn der Schrei nach Demokratie dort den Menschen am Ende größere Unsicherheit, höhere Arbeitslosigkeit oder mehr Armut bringt, dann ist die Zukunft in diesem Teil der Welt höchst ungewiss. Und wir Deutschen wissen aus unserer eigenen Geschichte: Demokratie braucht zu allererst Demokraten. Und Demokratie braucht Erfolg! Daran können wir mitwirken. Aber tun wir’s mit Entschiedenheit?
Immerhin: die Weltgemeinschaft schaut auf Libyen. Wir alle sind froh, dass die Gewaltherrschaft Gaddafis beendet wurde und Libyen die Chance zum Neuanfang hat. Und für Libyen sahen wir erst letzte Woche Bilder einer Geberkonferenz in Paris, präsidiert von Sarkozy und Cameron. Aber was ist mit den Staaten, die die Befreiung aus eigener Kraft geschafft haben, über die es keine Bilder gab und die schon jetzt wieder in Vergessenheit zu geraten drohen. Ich fürchte, Europa und der Westen begehen gerade einen folgenreichen Fehler. Mit anderen Worten: Wenn wir die mit dem arabischen Frühling eröffnete historische Chance nutzen wollen, wenn wir die Beziehungen zur arabischen Welt auf eine neue Grundlage stellen wollen, wenn wir Belastungen der Vergangenheit zurück lassen und eine Partnerschaft neuer Qualität entwickeln wollen, dann ist dies eine Aufgabe, die nur vergleichbar ist mit dem Wandel in Osteuropa nach dem Fall der Mauer. Und die werden wir nur schultern, wenn wir uns in einer gemeinschaftlichen Kraftanstrengung der gesamten Region zuwenden.
Die Unterstützung des demokratischen Aufbruchs in der arabischen Welt kann - und nach meiner Überzeugung: muss - eines der großen transatlantischen Projekte des kommenden Jahrzehnts sein - wenn wir das wollen und wenn wir das gemeinsam vorantreiben! Die Chance auf einen politischen Neuanfang in Beziehungen zwischen der westlichen Welt und den islamischen Staaten dürfen wir nicht verspielen. Auch und gerade, weil wir vor 10 Jahren erlebt haben, wohin Entfremdung und Feindschaft führen können. Und deshalb würde ich mir sehr wünschen, dass wir uns etwas von der gemeinsamen transatlantischen Entschlossenheit bewahren, die wir im Kampf gegen den Terror bewiesen haben, um der arabischen Welt auf neue Weise zu begegnen: Mit Augenmaß, ohne missionarischen Anspruch, ohne naive Euphorie, aber mit offenem Visier, ausgestreckter Hand und der Entschlossenheit zu echter Partnerschaft.