Dr. Sascha Raabe (SPD):
Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Da es parlamentarischer Brauch ist, dass man einen Redner, der seine erste Rede gehalten hat, inhaltlich nicht zu scharf kritisiert, werde ich das auch lassen und deswegen auch nichts zu den Passagen zu Niebel und der Vorgängerin sagen. Es ist ja so: Er kennt Herrn Niebel noch nicht so lange. Wenn er ihn länger kennt, wird er bestimmt auch zu einem anderen Urteil kommen.
(Klaus Barthel [SPD]: Viel Zeit hat er nicht(D)mehr!)
Ich möchte viel lieber über Lateinamerika reden; denn wir stehen heute wenige Tage vor dem 7. Gipfeltreffen der Europäischen Union mit Lateinamerika. Einige Kolleginnen und Kollegen von mir, die hier sitzen, haben ja schon viele Gipfeltreffen als Parlamentarier erlebt. Zum Teil haben wir die Gipfeltreffen mit Anträgen begleitet, waren dort auch selbst vor Ort. Es gibt doch schon einen ganz wesentlichen Unterschied hinsichtlich der Wahrnehmung, aber auch der Presseberichterstattung zwischen dem bevorstehenden Gipfel und den Gipfeln, die vor fünf, sechs oder acht oder zehn Jahren stattfanden. Ich zitiere einmal aus der Süddeutschen Zeitung:
Ein Kontinent greift nach den Sternen
Vor dem großen Gipfeltreffen mit der EU strotzt Lateinamerika vor Selbstbewusstsein.
In einer Meldung von dpa heißt es: „Verkehrte Welt: Spanien bittet Lateinamerika um Hilfe.“ Da heißt es, dass der spanische Regierungschef Lateinamerika bittet, in Spanien zu investieren. Er sagt, sie werden „mit offenen Armen empfangen“ werden, und weiter: „Ich ermutige Euch, Eure Präsenz in Spanien und Europa zu erweitern.“
Auch die FAZ schreibt: Ein Blick nach Lateinamerika lohnt sich, und: Es ist schon sehr beeindruckend, was sich in den letzten Jahren auf diesem Kontinent getan(A) hat, was die Wirtschaftskraft angeht, was den Rückgangder Arbeitslosigkeit angeht.
Aber, meine sehr verehrten Damen und Herren – da spreche ich vor allem die Entwicklungspolitiker heute an, die hier in großer Zahl vertreten sind und auch die meisten der Anträge, über die wir heute diskutieren, federführend vorbereitet haben –, wir sind auch bei den sogenannten MDGs, den Millennium Development Goals, also den Millennium-Entwicklungszielen, bei allen acht, in Lateinamerika hervorragend vorangekommen.
Ich möchte einmal das wichtigste Ziel, die Armutsreduzierung, nennen. Da haben wir uns ja verpflichtet, dazu beizutragen, dass sich bis zum Jahr 2015, gemessen am Stand von 1990, die Anzahl der Hungernden und Armen auf der Welt halbiert. In Lateinamerika lebten 1990 noch 48,4 Prozent – also fast die Hälfte – der Menschen in Armut, und fast ein Viertel lebten in absoluter Armut. Bereits im Jahr 2011 leben nur noch 29 Prozent der Menschen in Armut und nur noch 11,5 Prozent in absoluter Armut. Das heißt, bereits im Jahr 2011 ist eine Halbierung der Zahl erreicht worden, sodass Lateinamerika insgesamt dieses MDG schon vier Jahre vor dem Zieljahr 2015 erfüllt hat. Dazu können wir nur sagen: Herzlichen Glückwunsch, Lateinamerika!
(Beifall der Abg. Klaus Barthel [SPD], Anette Hübinger [CDU/CSU] und Heike Hänsel [DIE LINKE])
Auch in anderen Kategorien gibt es große Erfolge,
(B) etwa beim Rückgang von Krankheiten, Kinder- und Müttersterblichkeit. Ich möchte einmal die Zahl derjenigen nennen, die die Sekundarschule besuchen – in anderen Ländern wäre man schon froh, wenn alle Kinder die Grundschule besuchen würden –: Dieser Anteil lag 1990 noch bei unter 50 Prozent und ist jetzt auf 75 Prozent gestiegen. Also fast drei Viertel aller Kinder in Lateinamerika besuchen heute eine Sekundarschule.
Im Bereich Gleichberechtigung – auch eines der MDGs – ist der Anteil der Frauen an Universitäten von 24 Prozent im Jahr 2000 jetzt auf knapp 50 Prozent gestiegen. 1990 lag dieser Anteil bei nur 16 Prozent. Von 16 Prozent auf 50 Prozent ist der Anteil von Frauen an Universitäten gestiegen.
Ich glaube, da kann man wirklich sagen: „Ein Kontinent greift nach den Sternen.“
Jetzt kann man sich natürlich zu Recht fragen: Wessen Erfolg ist das? Natürlich ist das in erster Linie der Erfolg der Menschen in Lateinamerika,
(Klaus Barthel [SPD]: Das konnte auch Niebel nicht verhindern!)
der Zivilgesellschaft und auch all der Nichtregierungsorganisationen. Sie haben sich auf einem eigentlich schon immer reichen Kontinent erfolgreich dafür eingesetzt, dass in vielen Ländern Regierungen an die Macht gekommen sind, die das Thema Armut und Sozialpolitik oben auf die Agenda gesetzt haben. Dass die Wahlentscheidungen entsprechend ausgefallen sind, war früher eben nicht der Fall gewesen.
An dieser Stelle möchte ich als Entwicklungspoliti- (C)ker, der seit 2002 im Ausschuss für Entwicklungszusammenarbeit ist, sagen, weil wir auf anderen Kontinenten zu oft nur auf die Negativbeispiele schauen: Das hat natürlich auch ein kleines Stück mit erfolgreicher Entwicklungszusammenarbeit zu tun. Seitens der deutschen Entwicklungszusammenarbeit haben wir über viele Jahre unsere Schwerpunkte in Lateinamerika ganz stark auf Rechtsstaatlichkeit, Justiz, Partizipation und Bürgerprozesse gesetzt. Sie finden heute kaum ein erfolgreiches lateinamerikanisches Land, in dem nicht in der Regierung an verantwortlichen Stellen Politiker sitzen, die entweder von den politischen Stiftungen teilweise in Deutschland mit ausgebildet wurden oder für unsere Durchführungsorganisationen gearbeitet haben.
Ich nenne als bekanntestes Beispiel Lula da Silva, der mit der Friedrich-Ebert-Stiftung zusammen lange Jahre, bevor er Präsident wurde, zusammengearbeitet hat, dem wir dort helfen konnten. Es gibt noch eine ganze Reihe anderer Beispiele. Ich glaube, das zeigt: Wenn die Entwicklungszusammenarbeit bei den Menschen ansetzt, die Menschen ermutigt und dadurch die Kräfte im Inneren dieser Länder für Demokratie und Partizipation gestärkt werden, dann kann diese Zusammenarbeit erfolgreich sein. Das ist ein ermutigendes Signal für uns. Lassen Sie uns so weitermachen.
(Beifall bei Abgeordneten der SPD)
In diesem Sinne: Der Antrag der Grünen legt sicherlich zu Recht den Finger auf ganz viele Wunden, die noch zu heilen sind. Ich sage nicht: Es ist alles gut in Lateinamerika. – Der Antrag der Grünen hat auch das große Verdienst, dass er all die Stellen, an denen es noch klemmt, benennt. Natürlich haben wir in manchen Ländern auf der einen Seite großes Wirtschaftswachstum und auf der anderen Seite Regionen im ländlichen Raum, wo sich nicht viel getan hat.
Gleichwohl muss man aber zur Kenntnis nehmen, dass auch die Weltbank in einer Studie vom November 2012 zu dem Schluss kommt, dass sich die Ungleichheit bei den Einkommen in der Mehrzahl der lateinamerikanischen Staaten vermindert hat, während sie in den USA und in Europa weiter zugenommen hat. Auch das muss man einmal erwähnen.
Wir werden dem Antrag der Grünen allerdings nicht zustimmen, sondern uns enthalten, weil uns in diesem Antrag die positive Seite etwas fehlt. Wir können heute nicht einen Antrag so machen, wie wir ihn vor zehn Jahren geschrieben haben, nach dem Motto: Seid endlich einmal sozial und gut! – Da hat sich gerade in Brasilien, einem Land mit einer hohen Steuerquote, sehr viel getan.
Aber an einer Stelle – das möchte ich für die SPD betonen – stimmen wir ausdrücklich zu: Auch wir wünschen uns eine Änderung der Haltung der Europäischen Union auf dem Gipfeltreffen. Natürlich müssen Freihandelsabkommen mit menschenrechtlichen, sozialen und ökologischen Mindeststandards versehen werden. Die Kernarbeitsnormen der ILO müssen überall garantiert werden können.
(A) Ich möchte dazu ein Beispiel erzählen. Der Kollege, der vor mir gesprochen hat, hat sich ja der Auffassung des Bundesentwicklungsministers angeschlossen, der immer sagt, wie toll Wirtschaftswachstum alleine ist und wie sehr es allen hilft. Ich war vor zwei Jahren mit Herrn Westerwelle in Kolumbien. Dort haben wir mit Vertretern deutscher Firmen gesprochen, die gesagt haben: Alles läuft gut in Kolumbien, aber wir haben eine Bitte an Sie, Herrn Außenminister, wenn Sie jetzt mit dem Präsidenten reden. Die Kolumbianer wollen uns die Steuern um 0,2 oder 0,3 Prozent erhöhen, um damit Sozialprogramme zu finanzieren. Uns wurde aber von den Vorgängerregierungen zugesichert: Wenn wir in Kolumbien investieren, dann kriegen wir 30 Jahre keine Steuererhöhung.
Das, meine ich, kann es auch nicht sein. Wenn wir zu Recht einfordern, dass die Sozialpolitik in lateinamerikanischen Ländern gefördert und die Steuerquote erhöht werden soll, dann müssen wir auch dazu beitragen, dass unsere deutschen Firmen und die Europäische Union sich entsprechend verhalten. Das wäre meine Bitte an die Adresse der Europäischen Union.
Ansonsten würde ich mich freuen, wenn die Folge der Feststellung „Ein Kontinent greift nach den Sternen“, die ich eingangs zitierte, wäre, dass die Menschen auf diesem Kontinent die Sterne auch erreichen und dass wir in jedem lateinamerikanischen Land irgendwann einen hellen Stern am Himmel haben werden.
(Heike Hänsel [DIE LINKE]: Hugo Chávez!)
(B) Wenn wir dann in den Himmel schauen, lauter funkelnde Sterne über Ländern sehen, wo die Menschen ohne Hunger und Armut glücklich leben können, dann wären wir, glaube ich, ein ganzes Stück weiter. Das wünsche ich mir.
Vielen Dank.
(Beifall bei der SPD – Heike Hänsel [DIE LINKE]: Hugo Chávez und Fidel Castro! Das sind ja schon zwei Sterne!)