Der Fraktionsvorsitzende der SPD spricht in seinem Vortrag über seine Erfahrungen als Kind mit der evangelischen Kirche, über die Reformation und die Herausforderung für den innerkirchlichen Zusammenhalt.
Meine sehr verehrten Damen und Herren,
ich komme, wie manche vielleicht wissen, aus einem kleinen Dorf im Lippischen. Seit 1538 ist unser Landstrich evangelisch, seit dem 17. Jahrhundert ist unser Landstrich evangelisch-reformiert, und das mit allem, was dazu gehört! Ich erinnere mich an Menschen mit großem innerem Ernst, an Pastoren mit wortstarker, zuweilen donnernder Predigt. Und die hatte lang und ausführlich zu sein! Ein Gottesdienst unter einer Stunde wäre als Arbeitsverweigerung verstanden worden. Die Liturgie bei uns ist karg, ein Kreuz in manchen reformierten Kirchen der einzige Schmuck, in vielen nicht einmal das. Das war meine Welt. Und daneben gab es keine andere bis zum Ende meiner Grundschulzeit. In der Oberschule ging es dann in die nächstgrößere Stadt. Auch die überwiegend reformiert, aber eben nicht nur: Es gab eine lutherische Kirche. Und für uns Kinder oder schon Jugendliche war das eine andere Welt. Die Lutherischen erschienen uns genauso fremd wie die Katholiken. Oder noch anders: Das Reformierte war das Normale, das Lutherische die „andere“ Kirche, oder die Kirche der „Anderen“, auch weil es Katholiken nicht gab.
Was ich hier beschreibe, ist vielleicht eine Besonderheit für einen streng reformierten Landstrich, aber so oder so ähnlich sah es in weiten Teilen Deutschlands noch vor 50 Jahren aus, zumindest im westlichen Teil unseres Landes. Das muss man sich in Erinnerung rufen, wenn man ermessen will, was für ein großer Fortschritt die Leuenberger Konkordie für die evangelischen Kirchen in Deutschland war.
Der reformierten Tradition fühle ich mich durchaus noch verbunden. Aber meine kirchliche Welt heute sieht ganz anders aus. Der Gemeindepfarrer in meiner kleinen reformierten Gemeinde in Berlin-Neukölln ist ein gelernter Lutheraner. Unvorstellbar zu Zeiten, in denen ich Kind war. Und wenn ich in meinem Wahlkreis im Südwesten Brandenburgs jemanden auf der Straße fragte, was denn der Unterschied zwischen Lutheranern und Reformiertensei, würde ich wahrscheinlich nur ein befremdetes Achselzucken ernten. Erklärlich, wenn weniger als 20 Prozent der Brandenburger überhaupt noch einer der christlichen Kirchen angehören. Aber selbst wenn wir nur die verbliebenen Protestanten befragen, bin ich mir nicht sicher, wie viele erklären könnten, was die Verschiedenheit in der Einheit der evangelischen Kirche ausmacht.
Die christlichen Kirchen bleiben wichtige Institutionen
In nicht einmal einem halben Jahrhundert haben wir einen ziemlich weiten Weg zurückgelegt. Daran hat die Leuenberger Konkordie ganz sicher großen Anteil. Dahinter steht aber auch, und das dürfen wir nicht unterschlagen, ein ganz gewaltiger gesellschaftlicher und religiöser Umbruch, der noch lange nicht abgeschlossen ist.
Die traditionellen Verhältnisse, in denen unsere Eltern und Großeltern aufgewachsen sind, haben sich aufgelöst. Flucht, Vertreibung, Verstädterung, in den letzten Jahrzehnten auch die wachsende Zuwanderung haben Deutschland nachhaltig verändert: seine Sozialstruktur, seine Mentalitäten, seine Essgewohnheiten, aber eben auch das Verhältnis zur Religion. Nicht nur in Ostdeutschland gilt: Die christlichen Kirchen bleiben wichtige Institutionen, aber sie haben an Prägekraft in der Gesellschaft eingebüßt. Der Prozess der Säkularisierung in westlichen Gesellschaften ist auch an den Kirchen Deutschlands nicht spurlos vorbeigegangen.
Die Leuenberger Konkordie, jedenfalls in meinem Verständnis, bekennt sich offen dazu, dass sie nicht allein Frucht eines vertieften theologischen Nachdenkens ist. Sie verweist darauf, dass sich die Welt seit den dogmatischen Lehrstreitigkeiten des 16. und 17. Jahrhunderts ziemlich verändert hat. Und sie macht deutlich, dass das auch Konsequenzen für die alten konfessionellen Gegensätze hat. Sie verweist auf das Erbe der Aufklärung, auf die historisch-kritische Auseinandersetzung mit der Bibel, auf die gemeinsame Erfahrung von Verfolgung und Kirchenkampf. Leuenberg macht klar, dass in einer weiter zusammenwachsenden Welt das Fortbestehen der innerprotestantischen Kirchenspaltung zu einer Frage der Glaubwürdigkeit wird! Solange unser Horizont das Dorf, die Stadt, die Region oder ein Nationalstaat ist, kann man vielleicht noch unbeschwert reformiert, lutherisch oder freikirchlich sein. Wenn unser Horizont aber die gesamte Welt ist, sieht das anders aus! Oder in den Worten der Leuenberger Konkordie: „Die Bemühung um Gerechtigkeit und Frieden in der Welt verlangt von den Kirchen zunehmend die Übernahme gemeinsamer Verantwortung.“ Gemeint ist: Die Kirchen der Reformation bekennen sich zur Einheit und anerkennen ihre Verschiedenheit. Aber verbleibende Unterschiede sind eben kein Selbstzweck, der einem gemeinsamen Zeugnis entgegenstünde. Oder wie mir einmal jemand in einer Debatte über die „Reformation heute“ entgegengehalten hat: Erklären Sie einem Menschen in Nigeria einmal die Unterschiede zwischen der Lutherschen und der Zwinglischen Lehre vom Abendmahl! Auch wenn das von den heute hier im Dom Versammelten viele könnten, richtig ist doch: Vermutlich würde der Afrikaner oder Südamerikaner mich mit noch größeren Augen ansehen als der vorhin erwähnte Brandenburger.
„Versöhnte Verschiedenheit“ verlangt nicht Verzicht auf Unterschiede, aber Zügelung des Ehrgeizes, die Verschiedenheit zum Kern der christlichen Identität zu machen.
Sagt das nur etwas über christlichen Glauben und Religion in Europa? Gilt Ähnliches nicht auch für den politischen Weg Europas? Gibt es nicht, ausgehend von der Leuenberger Konkordie, auffällige Parallelen im europäischen Einigungsprozess? Auch dieser wurde durch große „Konkordien“, von Politikern und Diplomaten ausgehandelten Vertragswerken, vorangebracht. Ich erinnere an die römischen Verträge, die Verträge von Maastricht, von Lissabon – stellvertretend für viele andere wichtige Stationen im europäischen Integrationsprozess. Aber so wenig die Leuenberger Konkordie eine theologische Kopfgeburt war, sondern eine kluge Antwort auf eine veränderte Wirklichkeit, so wenig entstanden die europäischen Verträge allein aus europäischem Idealismus und fern von handfesten Interessen und sachpolitischem Zwang.
Es tut dem Verdienst der europäischen Gründerväter keinen Abbruch, wenn man daran erinnert, dass es ihnen um kluge Realpolitik ging. Ja, Europa ist ein großartiges Friedensprojekt. Aber es entspringt eben auch der Einsicht in politische Notwendigkeit. Schon ganz am Anfang, kurz nach dem Zweiten Weltkrieg, war klar: ohne europäische Zusammenarbeit kein Geld aus dem Marschallplan. Ein paar Jahre später galt: Der wirtschaftliche Wiederaufstieg Deutschlands brauchte die Flankierung durch die Zusammenarbeit bei Kohle und Stahl. Und noch die Wiedervereinigung hatte als Preis auch die Aufgabe der Deutschen Mark und ein klares Bekenntnis Deutschlands zur vertieften Integration.
Warum betone ich das? Ganz einfach: Weil wir ohne nüchterne Analyse, ohne Einsicht in gesellschaftliche Prozesse und politische Notwendigkeiten, weder in Europa noch in der Ökumene den Mut und die Kraft zu neuem Aufbruch finden werden. Und diesen Mut und diese Kraft brauchen wir! Auf uns kommen entscheidende Jahre zu – für die Glaubwürdigkeit der Kirchen, aber auch für die Zukunft unseres Kontinents.
Moralische Appelle, idealistische Bekenntnisse, all die Dinge, auf die wir Protestanten uns so gut verstehen, werden nicht ausreichen, um bei der Ökumene und in Europa wirklich voranzukommen. Ideale in allen Ehren – und wir brauchen sie! Aber mindestens ebenso wichtig ist eine klare Analyse der Wirklichkeit. Nur wer versteht, was passiert, kann „dem Rad der Geschichte in die Speichen greifen“. So hat es Dietrich Bonhoeffer einmal gesagt, der genau wusste, wie folgenreich, auch persönlich, ein solcher Griff ins Rad der Geschichte sein kann.
Über den Stillstand, der auf ökumenischem Gebiet herrscht, will ich nicht viele Worte verlieren. Die meisten der hier Anwesenden verstehen davon mehr als ich. Ja, auch ich hoffe sehr, dass es mit dem neuen Papst Franziskus auch in Rom eine neue ökumenische Dialogbereitschaft gibt. Auch ich hoffe sehr, dass es spätestens im Umfeld des 500. Jahrestages der Reformation zu einem Signal der Öffnung in Richtung Protestantismus kommt. Aber ich sehe auch ganz nüchtern, wie groß in der katholischen Kirche die Widerstände und Beharrungskräfte sind. Lassen Sie uns das neue Pontifikat nicht mit Erwartungen überfrachten! Nur so viel vielleicht: Auch Franz von Assisi hat mit einer kleinen Kapelle begonnen. Vielleicht kommt am Ende des Wirkens des neuen Franz ja etwas heute Unerwartetes heraus.
Wir gefährden die überwundene Aufteilung Europas
Ein wenig mehr verstehe ich von dem, was derzeit in Europa geschieht. Ich sehe mit großer Sorge, wie in fast allen Ländern Europas eine neue Art Europasklerose um sich greift. Im Zentrum steht nicht mehr der immerwährende Ärger über die ausufernde Brüsseler Regelungswut. Heute grassiert ein Spaltpilz, der viel gefährlicher ist und der, wenn er sich tiefer in unser Denken und unsere Sprache hineinfrisst, bald die Fundamente Europas bedroht. In den reichen Ländern des Nordens wächst das Gefühl, nur noch Zahlmeister für die verschwenderischen Länder der Südschiene zu sein. Und im Süden Europas wächst der Ärger über ein als drückend empfundenes nordeuropäisches, genauer gesagt: deutsches Politikdiktat. Italiener, Griechen, Spanier und viele andere mehr haben zunehmend das Gefühl, wir drücken ihnen mit deutscher Gründlichkeit die Luft zum Atmen ab, und ihre Politiker hängen wie Marionetten an Seilen, die man in Berlin und Brüssel zieht. Als besonders bedrückend empfinde ich, dass die mit dem schnellen Urteil über Spanier und Italiener nicht einmal merken, dass wir die schon fast überwundene Aufteilung Europas in einen protestantischen Norden und einen katholischen Süden wiederbeleben und mit flotten Sätzen über die Zukunft Griechenlands außerhalb von EU und Euro auch noch das orthodoxe Erbe Europas geradezu absprengen.
Ich will es ganz offen sagen: Ein Europa, in dem Interessengegensätze, die es natürlich immer gibt, in dieser Form beschrieben und wahrgenommen werden, hat auf Dauer keinen Bestand! Und deshalb ist brandgefährlich, wenn sich, oft geschürt von populistischen Politikern, in vielen europäischen Ländern diese Lesart der jüngsten Geschichte durchsetzen sollte. Nur oberflächlich betrachtet hat sich die europäische Krise beruhigt. Bei genauerem Hinsehen aber wird klar: Wir haben – über die Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank - die Krise keineswegs gelöst. Das Einzige, was wir erreicht haben: Wir haben Zeit gekauft. Und in dieser Zeit verrichtet der von mir beschriebene Spaltpilz sein Werk. Was als Wirtschafts- und Staatsschuldenkrise begann, ist dabei, zu einer ausgewachsenen Demokratiekrise zu werden. Und spätestens an diesem Punkt sollten wir die Alarmglocken hören!
Ich habe mich gerade deshalb über das Wort der „Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa“ vom September 2012 sehr gefreut! Deshalb, weil da endlich jemand war, der über den Tellerrand von Ratings, Zinsspreads und Marktperformance hinausdenkt! Im Bewusstsein der Verantwortung für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den Völkern nennt der Beschluss der evangelischen Kirchen ausdrücklich die Stärkung der Demokratie als unsere erste und wichtigste Aufgabe. Wo bei den Menschen der Eindruck entsteht, dass nicht Parlamente und Politik über ihr Schicksal entscheiden, sondern Fitch, Moody´s, Standard and Poor´s, geht die Demokratie vor die Hunde, fühlen sich Menschen nur noch als Objekt politikfremder Entscheidungen, als Staatsbürger abgehängt. Als Antwort auf diesen Befund formuliert die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in ihrem Europapapier: „Beteiligung und demokratische Mitbestimmung sind nach evangelischem Verständnis grundlegend für das Zusammenleben in Europa.“
Und weiter heißt es in diesem Europawort: Wer die Krise überwinden will, muss sich auch um die sozialen Folgen kümmern! Mehr tun gegen Jugendarbeitslosigkeit, Inanspruchnahme der Krisenverursacher im Bankenbereich, eine bessere Regulierung und Besteuerung der Finanzmärkte und vieles mehr. Hellsichtiger als in vielen Papieren verantwortlicher Politik liest sich hier bei der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen, welche Lehren wir aus der Krise zu ziehen haben. Wir führen heute keine Instrumentendebatte. Mir geht es eher um die Art, wie man die Krise beschreibt: differenziert, analytisch, ohne Schwarz-Weiß-Malerei. Denn klar ist: Die schlichte Entgegensetzung von deutschen Zahlmeistern und einem verschwenderischen Club Med ist nicht nur zu einfach, sie ist unverantwortlich. Wer mit solchen Kategorien operiert, und sei es nur, dass er ihnen nicht entschieden genug entgegentritt, der spielt mit dem Feuer! Dagegen steht die Gemeinschaft Evangelischer Kirchen mit ihrem klaren und deutlichen Wort. Das war notwendig und gut zugleich!
Zum solidarischen Umgang gehört der Verzicht auf nörgelnde Besserwisserei ebenso wie auf Triumphalismus. Der Satz: „In Europa wird jetzt deutsch gesprochen“ ist das vielleicht markanteste Beispiel einer ebenso falschen wie geschichtsvergessenen Haltung, mit der wir Europa garantiert nicht wieder auf die Beine bekommen. Falsch, weil sie vergisst, dass in Europa oben und unten nie über längere Zeiträume gleich bleibt, dass vor 10 Jahren nicht Spanier und Italiener, sondern wir unten waren, überall beschrieben als der „kranke Mann Europas“ Falsch auch, weil sie vergisst, dass wir Glück hatten und unsere Reformen noch vor der großen Krise machen konnten, als die Rahmenbedingungen noch günstiger waren als sie es heute sind. Ermutigen wir unsere Partner, das Notwendige zu tun. Aber setzen wir uns nicht aufs hohe Ross!
Die Welt außerhalb Europas nicht aus dem Blick verlieren
Ein letzter Punkt zu Europa, der mir besonders wichtig erscheint: Über all dem Krisengerede gerät uns zu oft die Welt außerhalb Europas aus dem Blick. Aber nur dort, in der Welt außerhalb, findet sich vielleicht der Archimedische Punkt, von dem aus es möglich ist, dem europäischen Projekt neue Dynamik einzuhauchen. Ich hatte das Glück, in anderer Funktion ein wenig in der Welt herumzukommen. Diese Erfahrung hat bei mir nicht naive Begeisterung für andere Teile der Welt und Skepsis gegen Europa wachsen lassen. Im Gegenteil: Sie hat mich in meinen europäischen Überzeugungen noch einmal enorm bestärkt. Manches mag anderswo noch schneller gehen und aktuell glitzernder aussehen. Aber ich bin überzeugt, wir sind der Teil der Welt, wo – bei allen Widersprüchen – wirtschaftliche Vernunft und soziale Gerechtigkeit noch am ehesten zusammengehen. Gerade deshalb schaut man aus anderen Teilen der Welt immer noch mit einiger Anerkennung auf uns, den alten Kontinent. Gerade deshalb bestehen weiterhin hohe Erwartungen an uns.
Natürlich gibt es ein neues Selbstbewusstsein in Asien, in Südamerika, in Afrika. Natürlich ist Europa für viele nicht mehr der Nabel der Welt. Aber das ist doch noch lange kein Grund, in Kleinmut oder Selbstzweifel zu verfallen! Für viele Menschen ist Europa immer noch Sehnsuchtsort. Wenn man die Menschen in Asien, in Südamerika, in Afrika fragte: „Wie sieht euer Ideal von einem menschenwürdigen Leben aus?“, dann würde eine überwältigende Zahl antworten: „Wir wollen leben, wie ihr Europäer es tut!“ Das heißt nicht, dass sie Deutsche oder Franzosen werden wollen. Nein, sie wollen leben in demokratisch und rechtstaatlich verfassten Gemeinwesen, in aufgeklärten, offenen Gesellschaften, mit einem funktionierenden Sozialstaat, der jedem die Chance auf ein menschenwürdiges Leben gibt. Das ist das Europa, für das es sich zu kämpfen lohnt. Der amerikanische Autor Jeremy Rifkin nannte es den „europäischen Traum“. Und fügte hinzu: Dieser europäische Traum ist mehr als der Traum der Europäer.
Statt vergangener Größe nachzutrauern statt uns in Spenglerschen Untergangsszenarien zu ergehen, plädiere ich für einen Perspektivwechsel: Weg von der Verklärung einer partikularen Vergangenheit, hin zur Gestaltung einer lebenswerten Zukunft für eine zusammenwachsende Welt. Das genau ist die Perspektive der Leuenberger Konkordie, in der es heißt: „Die Botschaft (von Jesus Christus) macht die Christen frei zu verantwortlichem Dienst in der Welt und bereit, in diesem Dienst auch zu leiden. Sie erkennen, dass Gottes fordernder und gebender Wille die ganze Welt umfasst. Sie treten ein für irdische Gerechtigkeit und Frieden zwischen den einzelnen Menschen und unter den Völkern.“
Wenn wir um uns herum schauen, dann sehen wir vieles, was im Argen liegt. Die Fernsehnachrichten sind voll von Naturkatastrophen, von Krieg und Bürgerkrieg. Über all die schrecklichen Bilder übersieht man allerdings leicht, dass sich derzeit eine ganz andere Revolution vollzieht. Noch nie in der Menschheitsgeschichte haben sich die Lebensverhältnisse von Millionen von Menschen in so kurzer Zeit so nachhaltig verbessert. Hunderte von Millionen von Menschen haben in den letzten zwei Jahrzehnten ihren Weg aus bitterster Armut gefunden. An vielen Orten in der Welt entsteht eine neue Mittelschicht – mit höheren Erwartungen an Wohlstand und Konsum, aber auch ganz neuen Ansprüchen an demokratischer Mitsprache und Partizipation. Was in Asien und Südamerika begann, setzt sich heute in manchen Regionen Afrikas fort. Es mag verfrüht sein, aber manche sprechen schon von einem afrikanischen Wirtschaftswunder. Nicht die traditionelle Entwicklungshilfe, so notwendig sie ist, sondern neue Technologien wie Mobiltelefon und Internet haben dort zu einer unglaublichen Entfaltung kreativer Kräfte geführt. Parallel dazu läuft eine in der Menschheitsgeschichte einmalige Bildungsevolution! Anfang der 70er Jahre konnte weltweit noch jede zweite Person weder lesen noch schreiben, heute liegt dieser Wert bei 20%. Im Jahr 1970 gab es weltweit etwa 30 Mio. Hochschulabsolventen, 2007 waren es schon 150 Mio. „O Jahrhundert, o Wissenschaft“, rief der Zeitgenosse Luthers, Ulrich von Hutten. Und fuhr fort: "es ist eine Lust zu leben. Die Studien blühen, die Geister regen sich.
Barbarei, nimm dir einen Strick und mach' dich auf Verbannung gefasst!“ So sehr man christlichen und islamischen Fundamentalismus ernst nehmen muss, und ich tue das – ein wenig von diesem humanistisch-protestantischen Glaubensmut wünschte ich mir auch heut!
Wir brauchen neue Werkstoffe, neue Produkte mit weniger Rohstoff
Wenn ich so etwas sage, geht es mir nicht um plumpen Fortschrittsoptimismus. Im Gegenteil: Wir brauchen neue Maßstäbe zur Messung von Wohlstand, wir brauchen eine nachhaltige Energiepolitik, wir brauchen neue Formen der Mobilität. Das sind große Aufgaben, aber solche, die mit Kreativität und Mut durchaus zu lösen sind. Vor wenigen Wochen war ich in den USA. In einer Rede in Washington zur Zukunft der transatlantischen Beziehungen habe ich sinngemäß gesagt: Wir haben die Aufgabe, aber auch die materiellen und geistigen Ressourcen, um die Welt auf einen nachhaltigen Entwicklungspfad zu bringen. Denn die Menschen in Asien werden nicht akzeptieren, wenn wir sagen: Sorry, aber für euch ist nichts mehr da. Statt abstrakt über die Grenzen des Wachstums zu fabulieren, lasst uns konkret überlegen, wie die Welt von morgen überlebensfähig wird. Das ist unsere gemeinsame Verantwortung, als Westen, als Gemeinschaft der Reichen, als die, deren Know-how immer noch unbestritten ist. Dabei geht es um ganz praktische Fragen, um eine Vielzahl kleiner, aber in ihrer Summe entscheidender Schritte. Wir brauchen neue Werkstoffe, neue Produkte mit weniger Rohstoff- und Materialverbrauch, neue Antriebs- und Speichertechniken, um nur ganz wenige Beispiele zu nennen. Politik ist gefragt, aber ohne neue Technologien, ohne unsere Forscher und Ingenieure geht es nicht. In Europa und den USA arbeiten insgesamt 3 Mio. Menschen im Forschungsbereich. So sieht nicht das Ende der Welt aus! Das ist ein riesiges Potential für ganz viel Zukunft!
Und die ist nicht nur technologisch anders, nicht nur unsere Wirtschaft wird sich weiter verändern. Auch die Gesellschaft im demographischen Wandel wird eine andere sein. Auch wenn wir es dreimal täglich widerholen, Deutschland sei kein Einwanderungsland. Die Realität sieht anders aus. 12 Prozent der Menschen, die unter uns wohnen, sind nicht in Deutschland geboren. Das ist so ziemlich exakt der gleiche Anteil an Zuwanderern wie in den USA. Wir verwandeln uns gerade, durchaus unter Schmerzen, in einen Kontinent der Zuwanderung. Und wir erproben, auch das mit Schwierigkeiten, Formen der Staatlichkeit jenseits des Nationalstaats. Das wird uns verändern, das wird Europa verändern. Wir werden mit Interessengegensätzen ganz anderer Art und Verschiedenheiten neuen Typs umgehen müssen. Aber: Wolfgang Huber hat einmal einen schönen Satz geprägt, der vielleicht so etwas wie das Fazit meiner heutigen Rede ist: „Die Fähigkeit, sich in der jeweiligen Unterschiedlichkeit zu respektieren und mit Verschiedenheiten geschwisterlich umzugehen, wird ein besonders wichtiger Beitrag für die Zukunft des europäischen Kontinents wie des Globus im Ganzen sein.“ In diesem Sinne ist die Leuenberger Konkordie eine Wegweisung. Für Europa und über Europa hinaus.