"In dieser Situation des Schreckens muss sich das japanische Volk auf unsere Solidarität und unsere Hilfe verlassen können. Nicht nur die Bundesregierung und die Hilfsorganisationen, sondern auch die Menschen in Deutschland - da bin ich mir ganz sicher - werden ihre Hilfsbereitschaft in den nächsten Tagen unter Beweis stellen."

Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren!

Vielleicht bin ich nicht der Einzige, der sich bei den Bildern dieser Tage an 9/11 erinnert fühlt. An diesem Tag gab es Tausende von Opfern, ein Symbolbauwerk des Westens stürzte in sich zusammen. Wir wussten damals von dieser Stunde an: Die Welt wird nicht dieselbe sein.

Was wir in Japan mit Grauen und Entsetzen den stündlich neuen Nachrichten - so auch jetzt wieder - und Bildern entnehmen, zeigt: Das ist im Vergleich zu 9/11 eine Katastrophe in geradezu quälender Zeitlupe - Tage ohne Gewissheit über die wirklichen Dimensionen dieser schrecklichen Folgen. Doch ahnen wir in diesen Tagen der Ungewissheit: Auch dieses Mal wird die Welt danach nicht dieselbe sein.

Was wir erleben, ist ganz ohne Zweifel eine Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes, eine Katastrophe mit unfassbarem Leid und Tod, eine Katastrophe, die Gewissheiten aus der Vergangenheit radikal infrage stellt. Angesichts der sich weiter zuspitzenden Schreckensmeldungen ist es schwer, in den Routinen unseres Alltags immer die richtige Sprache zu finden. Wenn wir an solchen Tagen des tausendfachen Leids gelegentlich um Worte ringen, dann muss das vielleicht gar nicht schlecht sein; denn ganz zuvörderst ist dies die Stunde der Anteilnahme und Solidarität. Ich möchte dem Bundestagspräsidenten ausdrücklich für die Worte danken, die er gestern in unser aller Namen gefunden hat.

(Beifall im ganzen Hause)

Unsere Gedanken sind bei den Angehörigen der Opfer, bei den mittlerweile 100 000 Kindern, die nach ihren Eltern suchen und die jetzt bei den vielen Helferinnen und Helfern sind. In diesen Stunden sind unsere Gedanken ganz besonders bei denen, die in Fukushima unter Einsatz ihres Lebens - ich vermute, in Kenntnis aller Risiken - darum kämpfen, das Allerschlimmste zu verhindern. Möglicherweise gelingt ihnen nicht einmal das.

In dieser Situation des Schreckens muss sich das japanische Volk auf unsere Solidarität und unsere Hilfe verlassen können. Nicht nur die Bundesregierung und die Hilfsorganisationen, sondern auch die Menschen in Deutschland - da bin ich mir ganz sicher - werden ihre Hilfsbereitschaft in den nächsten Tagen unter Beweis stellen.

Die Menschen in Deutschland werden Solidarität üben. Aber sie sind zugleich besorgt. Sie zeigen zwar keine Anzeichen von Panik und Hysterie, aber sie sind verunsichert und irritiert. Japan ist weit entfernt, aber uns in vielem doch so ähnlich. Manche sagen: in dem Hang zur Perfektion; andere sagen: auch in der Arbeitsmoral; Dritte sagen: ganz sicherlich, was die wirtschaftliche Stärke angeht.

Wir sind wie Japan ein rohstoffarmes und ein Hochtechnologieland. Weil das so ist, fragen sich jetzt ganz viele, ob das, was in Japan passiert, auch bei uns passieren kann. Sie fragen eben nicht die Wirtschaft und speziell die Energiewirtschaft, sondern sie fragen uns, die Politik, ob wir verantworten können, was wir tun.

So sehr ich verstehe, Frau Merkel, dass Ihnen die Diskussion zur Unzeit kommt: Wir werden diese Fragen nicht einfach wegdrücken können. Das haben auch Sie in den letzten Tagen lernen müssen. Das Leid in Japan zu instrumentalisieren, um hier in Deutschland eine Debatte über die Folgen einer falschen Politik nicht führen zu müssen, das wird nicht gehen, und das wird Ihnen auch die Bevölkerung nicht durchgehen lassen.

Herr Kauder, Sie haben in Ihrer gerade gehaltenen Rede dafür plädiert, keine Debatte über die Vergangenheit zu führen. Die Debatte, die nicht nur im Deutschen Bundestag, sondern auch in der deutschen Öffentlichkeit geführt wird, ist eben keine Debatte über die Vergangenheit, sondern eine Debatte über die verhängnisvoll falsche Politik Ihrer Gegenwart, Herr Kauder. Darum geht es!

Ich unterstelle Ihnen, dass Sie nicht all das, was Sie hier gesagt haben, wirklich ernst meinen. Denn Sie haben in den letzten Tagen gemerkt, dass Sie mit Ihren energiepolitischen Pirouetten, die Sie auf ganz dünnem Eis vollführen, nicht wirklich glaubwürdig sind.

Niemandem ist es verwehrt, aus Katastrophen zu lernen, ganz im Gegenteil: Wer aus solchen Katastrophen nichts lernt, der hat in der Politik nichts zu suchen. Aber dieses Lernen muss ernsthaft und glaubwürdig sein. Wer heute das Gegenteil von dem verkündet, was er über Jahre hinweg vertreten hat, der muss verstehen und akzeptieren, dass es Zweifel an seiner Glaubwürdigkeit gibt, und der kann auch nicht beklagen, Frau Merkel, dass an der einen oder anderen Stelle bohrend nachgefragt wird.

Frau Merkel, Ihr Glaubwürdigkeitsproblem, das heute Morgen noch einmal zutage getreten ist, können nur Sie selbst aus der Welt schaffen. Sie haben die Atomkraft in Ihrer gesamten politischen Laufbahn gegen alle Kritik verteidigt. Sie haben Tschernobyl als Betriebsunfall eines verlotterten Sozialismus abgetan. Sie haben geleugnet und nicht akzeptiert, dass erstmals mit Tschernobyl die Beherrschbarkeit einer Hochrisikotechnologie infrage gestellt war. Sie haben den Atomkonsens leichtfertig und ohne Not aufgekündigt und die Verlängerung der Laufzeiten durchgesetzt. Und da können Sie alle miteinander noch so viel darum herumreden: Das werden die Menschen nicht vergessen. Machen Sie sich darauf keine Hoffnungen!

Mein Eindruck war schon im letzten Jahr, dass es Ihnen allen an dem nötigen Verständnis nicht nur für die gesellschaftspolitische, sondern auch für die ökologische und am Ende sogar wirtschaftspolitische Dimension dieser Frage und des Atomkonsenses immer schon gefehlt hat.

Ich habe schon damals, lange vor Japan, Herr Kauder, befürchtet und sogar gesagt, dass selbst die Energiewirtschaft den Tag verfluchen wird, an dem sie diese Regierung zur Laufzeitverlängerung getrieben hat. Ich habe nicht geahnt und nicht gewusst, dass dieser Tag so schnell kommen wird. Ich habe ihn mir nicht einmal herbeigewünscht. Aber heute weiß die Energiewirtschaft: Sie wird schlechter dastehen als nach den Vereinbarungen, die sie mit dieser Bundesregierung getroffen hat.

Denn was ist jetzt nach der Katastrophe in Japan eingetreten? Statt Laufzeitverlängerung haben wir eine Unsicherheit, wie wir sie in der Geschichte der deutschen Energiepolitik lange nicht gehabt haben. Zehntausende von Menschen sind wieder auf der Straße. Sie können es ja drehen und wenden, wie sie wollen: Kernkraftbefürwortern wie Herrn Mappus steht doch die blanke Panik im Gesicht.

Wir haben mit dem Atomkonsens - das sei an alle diejenigen gesagt, die hier kritisch dazu berichtet haben; das ist vergessen worden - einen jahrzehntelangen Großkonflikt in dieser Gesellschaft befriedet und gleichzeitig einen verlässlichen Rahmen geschaffen, auch für die Wirtschaft - verlässliches Auslaufen der Kernenergie und gleichzeitig eine Brücke, mit der neue Formen der Energieerzeugung etabliert werden können. Ganz nebenbei, weil das hier noch niemand erwähnt hat: Nur dem Atomkonsens ist es zu verdanken, dass ein Reaktor in einem deutschen Erdbebengefahrengebiet, nämlich der von Mülheim-Kärlich, nicht ans Netz gegangen ist. Auch der war nach Ihrer Auffassung und nach Auffassung der Energiewirtschaft ein sicherer Reaktor.

Sie haben einen Konsens aufgekündigt - gegen die Mehrheit der Bevölkerung. Wenn sie jetzt sagen: „Wir nehmen die Sorgen der Bevölkerung ernst“, dann ist das eben - mit Verlaub - nicht glaubwürdig. Diese Sorgen gibt es nicht erst seit Fukushima; die gibt es seit Sellafield, seit Harrisburg, seit Tschernobyl, seit Forsmark. Ich könnte die Liste der Namen fortsetzen. Es ist ja gut, dass Sie jetzt die Sorgen der Bevölkerung ernst nehmen wollen. Aber dann gehört eben auch   verdammt noch mal! - ein Wort der Einsicht dazu, warum Sie in der Vergangenheit so leichtfertig über diese Sorgen hinweggegangen sind.

Frau Merkel, nicht wir, diejenigen, die wir damals den Atomkonsens auf die Beine gestellt haben und den Ausstieg aus der Kernenergie vorbereitet haben, haben uns hier in diesem Hohen Haus und in der Öffentlichkeit zu entschuldigen. Zu entschuldigen haben sich diejenigen, die das Problem jahrelang, jahrzehntelang ignoriert, sich über alle Bedenken hinweggesetzt und Laufzeiten verlängert haben.

Die haben öffentlich Einsicht zu bekennen.

Wenn Sie sich jetzt hinstellen und in verzweifelter Art und Weise völlig unglaubwürdig Kritik an Rot und Grün und den Versuchen, frühzeitig aus der Kernenergie herauszukommen, äußern, ist das nur allzu durchschaubar. Ich finde es dreist und unanständig.

Frau Merkel, da gibt es nichts zu lachen, sondern ich meine das ganz ernst.

Wer sich so verhält wie Sie in dem mittleren Teil Ihrer Regierungserklärung heute Morgen, darf nicht seinerseits Respekt vom Parlament und der Opposition verlangen. Darum geht es.

Herr Goldmann, Respekt darf auch derjenige verlangen, der dieses Parlament ernst nimmt. Da bin ich mit Ihnen einig.

Das Parlament nimmt man ernst, indem man das Parlament mit den Fragen der Zukunft der Energiepolitik in diesem Land beschäftigt und nicht nach dem Muster handelt: Was kümmert mich das Gesetz von gestern? Es ist doch peinlich, dass Verfassungsrechtler wie Herr Morlok und - das beunruhigt Sie noch mehr - der frühere Präsident des Bundesverfassungsgerichts, Herr Papier, Sie an den schlichten und einfachen Grundsatz erinnern: Wer per Gesetz Laufzeiten verlängert, muss sie auch per Gesetz zurücknehmen. Das ist ein ganz schlichter Grundsatz.

Frau Homburger, wenn ich es richtig gelesen habe: Sie haben das „Erbsenzählerei“ genannt. Ich nenne das Rechtsstaat.

Wenn man in diesem Hause an einen wichtigen Grundsatz des Rechtsstaats erinnern muss, dann beunruhigt mich das wirklich - ich hoffe, auch Sie.

Herzlichen Dank.