Über das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Religion wird wieder diskutiert – in Deutschland und weltweit. In der Begrüßungsrede zur heutigen Tagung des Arbeitskreises „Christinnen und Christen in der SPD“ mahnte SPD-Fraktionschef Frank-Walter Steinmeier, über die Grenzen Europas hinaus positiv dafür zu werben, „dass der historische Ausgleich, den wir zwischen den divergierenden Ansprüchen von Staat, Gesellschaft und Religion gefunden haben, mehr ist als ein europäischer Sonderweg.“

Sehr geehrte Damen und Herren,

liebe Genossinnen und Genossen,

auf den Tag genau vor einem Monat habe ich vor dem katholischen – und ziemlich konservativen – Kettler-Forum in Mainz einen Vortrag gehalten. Das Thema: „Kirche und Staat – Trennung oder schützenswerte Kooperation“.

Heute eröffne ich eine Tagung des ökumenischen und gar nicht konservativen Arbeitskreises „Christen in der SPD“ zum Thema: „Brauchen wir eine neue Balance von Staat, Kirchen und Religionsgemeinschaften?“

Und die aktuelle Ausgabe der „Frankfurter Hefte“ steht unter der Überschrift „Religion und Gesellschaft“ – übrigens mit einem interessanten Streitgespräch zwischen zwei Mitgliedern der SPD-Bundestagsfraktion.

Kein Zweifel, hier ist eine Diskussion neu aufgebrochen, die über viele Jahre nur in akademischen Fachkreisen geführt wurde. Religion, Staat und Gesellschaft, ihr gegenseitiges Verhältnis, stehen wieder im Blickpunkt der Öffentlichkeit.

Einige der Laizisten, die sich in letzter Zeit auch in der SPD lauter zu Wort gemeldet haben, dürften das als ihren Erfolg reklamieren. Ich habe da meine Zweifel! Wenn Sie alle heute so zahlreich gekommen sind, dann nicht, weil sie sich gegen die argumentative Übermacht der Laizisten wappnen müssten. Da ist viel 19. Jahrhundert, sage ich; da ist viel DDR, sagt Wolfgang Thierse in dem erwähnten Streitgespräch. Aber es ist eben wenig Substanz in der Kritik der Laizisten.

In dem neu erwachten Interesse am Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften spiegelt sich aus meiner Sicht etwas anderes, sehr viel Ernsthafteres. Und das hat weniger mit der genuin deutschen Situation, viel mehr aber mit den weltpolitischen Veränderungen um uns herum zu tun.

Der 11. September 2001 hat es auch dem Letzten klar gemacht: Wir werden mit der Kraft der Religion - auch der destruktiven Kraft der Religion! - noch auf lange Zeit zu rechnen haben! Viele der blutigsten Konflikte unserer Zeit haben einen religiösen Hintergrund: der Bürgerkrieg zwischen Sunniten und Schiiten im Irak, die Auseinandersetzungen zwischen Hindus und Moslems im indischen Bundesstaat Gujarat, die Christenverfolgungen in Indonesien.

In Afrika, in Asien, in Teilen Lateinamerikas ist die Religion – ob als Christentum, ob als Islam, auch als Buddhismus und Hinduismus – eine dynamische politische Kraft, manchmal zum Guten, oft auch zum Schlechten.

Das klassische Paradigma der Aufklärung, wonach die Religion sukzessive an Bedeutung verliert und zur reinen Privatsache wird, passt immer weniger auf eine Wirklichkeit, die die Geschichtsmächtigkeit von Religion täglich neu unter Beweis stellt.

Schon sprechen viele davon, dass es eigentlich Europa mit seinen leeren Kirchen ist, das sich auf einem Sonderweg befindet. Der französische Religionssoziologe Gilles Kepel redet von der „Rache Gottes“. Und halb Deutschland fürchtet sich unter dem Eindruck von Thilo Sarrazins Buch mehr vor islamischen Zuwanderern und ihrer vitalen Religiosität als vor der ungebändigten Destruktionskraft der internationalen Finanzmärkte.

Ich würde mich – als jemand, der in öffentlicher Verantwortung einige Jahre über die Grenzen unseres Landes hinausschauen durfte – freuen, wenn dieser Arbeitskreis das Verhältnis von Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften nicht nur mit Blick auf Deutschland diskutiert, sondern immer die internationale Dimension des Problems im Auge behält.

Für Deutschland, davon bin ich überzeugt, gibt der verfassungsrechtliche Rahmen, den das Grundgesetz bietet, hinreichend viel Spielraum, um auf die demographischen und gesellschaftlichen Veränderungen reagieren zu können. Die wichtigste Aufgabe, die heute vor uns steht, ist die Integration auch des Islam in das existierende Staatskirchenrecht, das man in Zukunft wohl besser „Religionsrecht“ nennen sollte. Das wird längere Zeit brauchen. Ich bin aber zuversichtlich, dass dies mit einigen Anstrengungen von beiden Seiten zu leisten ist. Eine zweite Baustelle ist das kirchliche Dienstrecht und sein Verhältnis zum allgemeinen Arbeitsrecht. Dies wird einer der Schwerpunkte der heutigen Tagung sein.

Gestatten Sie mir dennoch einige Worte zu der größeren Herausforderung, vor der ich uns stehen sehe. Ich glaube, dass das auch für die innerdeutschen Debatten hilfreich sein kann.

In einer Welt, in der Europa nicht mehr selbstverständlich im Mittelpunkt steht, müssen wir positiv dafür werben, dass der historische Ausgleich, den wir zwischen den divergierenden Ansprüchen von Staat, Gesellschaft und Religion gefunden haben, mehr ist als ein europäischer Sonderweg. Oder anders ausgedrückt: Wir müssen begründen können, warum das Erbe von Aufklärung und Selbstaufklärung von Religion, erworben in jahrhundertelangen Konflikten, auch im 21. Jahrhundert und außerhalb Europas noch von Bedeutung sein soll.

Die harten Auseinandersetzungen zwischen Kirchen, Staat und Gesellschaft, die Deutschland und Europa mindestens seit 1789 prägten, haben sich auch heute nicht in reine Harmonie aufgelöst. Es gab und gibt Konflikte: Ich erinnere an die Schwangerenkonfliktberatung, die Frage der Legitimität militärischer Einsätze, jetzt die PID-Debatte. Aber wir haben gelernt, die vorhandenen Konflikte einzuhegen, besser: sie in Formen auszutragen, die den Anderen nicht um seiner selbst willen in Frage stellt. Darauf können wir stolz sein. Und die Bedeutung dieses Vorganges reicht in der Tat weit über Europa und Nordamerika hinaus. Ich glaube: Ohne diese „Einhegung“ und wechselseitige Selbstbeschränkung wird auch in vielen außereuropäischen Weltgegenden kein dauerhafter Friede möglich sein.

Um Missverständnissen vorzubeugen: Ich plädiere nicht dafür, das deutsche Staatskirchenrecht zu einem neuen Exportartikel zu machen. Da kaufen die Leute im Ausland schon lieber Mercedes oder BMW. Und bereits in unseren Nachbarstaaten Frankreich und Polen ist das Verhältnis von Staat, Kirchen und Gesellschaft anders geordnet als bei uns; in quasi jedem Land Europas führten Aufklärung und Selbstaufklärung von Religion zu einer anderen, spezifischen Art von historischem Friedensschluss.

Aber auf die Tatsache des Friedensschlusses selbst kommt es an! Wichtig ist, dass Staat, Gesellschaft und Religionsgemeinschaften ihre Ansprüche an den Einzelnen nicht absolut setzen, sondern anerkennen, dass es berechtigte andere Ansprüche gibt, die in zivilisierter Form zu einem Ausgleich gebracht werden müssen. Die konkrete Ausgestaltung eines solchen Friedensschlusses mag unterschiedlich sein. Dennoch gibt es eine Reihe von Mindestanforderungen, die zwingend sind und auf denen wir auch im Gespräch mit unseren außereuropäischen Partnern bestehen müssen.

Solche Friedensschlüsse erfordern erstens eine institutionelle Trennung von Religion und Staat. Die weltanschaulich-religiöse Neutralität des Staates ist dabei das kritisch-normative Ziel.

Sie erfordern zweitens, dass der Staat die Religions- und Weltanschauungsfreiheit seiner Bürger respektiert. Kein Mensch darf gezwungen werden, sich zu einer bestimmten Religion oder Weltanschauung zu bekennen. Kein Mensch darf gezwungen werden, sich überhaupt zu einer Religion oder Weltanschauung zu bekennen.

Sie erfordern drittens, dass Menschen ihre Religion nicht nur privat, sondern auch öffentlich ausüben können. Religion muss sich zwar im Rahmen der Gesetze und des ordre public bewegen, darf aber nicht staatlicherseits auf einen bestimmten Bereich des Lebens beschränkt werden.

Und sie erfordern viertens (und da schließe ich mich ausdrücklich Jürgen Habermas an) eine Selbstreflexion der Religion, wie sie in unserem Kulturkreis von der christlichen Theologie geleistet wurde und geleistet wird.

Ohne Aufklärung und Selbstaufklärung der Religion wäre der historische Friedensschluss in Europa nicht gelungen. Und wir können es weder uns noch irgendeiner anderen Religion ersparen, sich diesem Prozess der kritischen Wahrheitsfindung zu unterziehen. Weil das so ist, hielte ich es für grundfalsch, die Forderung der Laizisten aufzunehmen und die Theologie von den Universitäten zu vertreiben. Ganz im Gegenteil: Wir brauchen heute Universitätslehrstühle auch für islamische Theologie! Eine wissenschaftlichen Ansprüchen genügende Selbstreflexion der Religion gehört zu den Voraussetzungen eines zivilisierten Miteinanders von Gesellschaft, Staat und Religionsgemeinschaften! Oder wie Jürgen Habermas über das Verhältnis von modernem Rechtstaat und Religion schreibt: „Das liberale Staatsbürgerethos verlangt von beiden Seiten (nämlich Wissenschaft und Religion) die reflexive Vergewisserung von Grenzen sowohl des Glaubens wie des Wissens.“

Das ist eine Absage sowohl an den Hochmut der Wissenschaft als auch an den Hochmut der Theologie. Das ist aber auch ein Plädoyer dafür, den utopischen Überschuss der Religion als politische Ressource zu nutzen. „Religiöse Überlieferungen leisten bis heute die Artikulation eines Bewusstseins von dem, was fehlt,“ schreibt Jürgen Habermas in seinem Buch „Naturalismus und Religion“. „Sie halten eine Sensibilität für Versagtes wach… Warum sollten sie nicht immer noch verschlüsselte semantische Potentiale enthalten, die… eine inspirierende Kraft entfalten könnten?“

Ich wünsche dieser Tagung Sensibilität, die Fähigkeit zur Entschlüsselung semantischer Potentiale, viel Inspiration - und natürlich auch konkrete Ergebnisse. Vielen Dank.